„PROFIS WAREN WIR, KEINE SÖLDNER

Unter diesem Titel erschien in der bosnisch-serbischen Zeitung Nezavisne Novine vom 21. November 2005 ein in mehrerer Hinsicht bemerkenswertes Interview. Der Mann, der als Profi und nicht als Söldner in die Geschichte eingehen will, ist Milorad Pelemiš, Kommandant einer Einheit der bosnisch-serbischen Armee (VRS), die unter dem Namen „10. Sabotageeinheit“ im Sommer 1995 tatsächlich Geschichte machte. Aus dem Interview erfährt man ferner, dass besagter Milorad Pelemiš nicht untergetaucht ist, sondern ungestört mit Frau und Sohn in Belgrad ein normales Leben führt. Zum Interview trifft man sich in der Kneipe „Kod Çike“ in Novi Beograd. Auf die Frage, ob seine Adresse auch den Ermittlern des Haager Tribunals bekannt sein dürfte, antwortet Pelemiš, das sei ganz gewiss der Fall, aber darüber brauche er sich keine Sorgen zu machen.

Den Namen Milorad Pelemiš als Kommandanten der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee (VRS) bringt als Erster der bosnische Kroate Dražen Erdemović in die Öffentlichkeit, der als Angehöriger dieser Einheit schon 1996 vor mehreren Medien und zwei Justizbehörden ein grausiges Geständnis ablegt. Am 16. Juli 1995 habe er auf der Branjevo-Farm beim Ort Pilica in Bosnien, auf der Schweine für die VRS gezüchtet wurden, an der Erschießung von 1200 gefangenen bosnischen Muslimen aus Srebrenica teilgenommen. Dabei erwähnt er namentlich weitere sieben Angehörige dieser Einheit, die an der Erschießung teilgenommen hätten, und den Namen seines Vorgesetzten, eben Milorad Pelemiš, von dem der Befehl für die Erschießung der Gefangenen ergangen sein soll. Wie viele davon er persönlich erschossen habe, wisse er nicht genau, es müssten aber, sagt er, zwischen 70 und 100 gewesen sein. Aufgrund seines Geständnisses, nach dem er nicht nur an einem Massenmord teilgenommen, sondern auch persönlich Massenmord begangen hatte, wurde Erdemović vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag schließlich am 5. März 1998 zu gerade fünf Jahren verurteilt, von denen er überdies tatsächlich nur dreieinhalb Jahre absitzen musste. Mit seiner Verurteilung aber wurde die Geschichte von den 1200 exekutierten muslimischen Zivilisten der wichtigste direkte Beweis für ein Kriegsverbrechen, das vom Jugoslawien-Tribunal zum „Völkermord an den bosnischen Muslimen“ erklärt wurde. Der Kommandant der 10. Sabotageeinheit der VRS, Milorad Pelemiš, der diesen Massenmord angeordnet haben soll, lebt ungestört in Belgrad und gibt Interviews für die Presse. Carla del Ponte, die langjährige Chefanklägerin des Tribunals, war anscheinend dermaßen mit der Jagd auf Karadžić und Mladić beschäftigt, dass sie für Pelemiš offenbar nicht einmal soviel Interesse aufbringen konnte, um ihn auch nur als Zeugen zu verhören. Im Interview gibt sich Pelemiš jedenfalls ganz unbesorgt:

NN: Haben die Haager Ermittler Sie verhört?

Pelemiš: Nein, niemals.

NN: Ob sie denn Ihre Adresse kennen?

Pelemiš: Wahrscheinlich kennen sie meine Adresse. Sie ist ja gar kein Geheimnis. (…)

NN: Fürchten Sie Den Haag?

Pelemiš: Nein. Warum sollte ich?1

Wir können aber weiter staunen. Dražen Erdemović ist nach wie vor der einzige Zeuge, der als Täter den Beweis für den Mord an 1200 muslimischen Zivilisten liefert, obgleich er als Angeklagter und später als Zeuge der Anklage in mehreren Strafverfahren beim Tribunal die Namen seiner Mittäter laut und deutlich nennt. Es sind dies Franc Kos, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Brano Gojković, Aleksandar Cvetković und Vlastimir Golijan. Alle diese Namen sind der Anklagebehörde des Tribunals jedenfalls seit Anfang 1996 vertraut. Dem Protokoll zufolge erfahren die Richter von dieser merkwürdigen Angelegenheit bei der Anhörung am 19. November 1996 nach einer direkten Frage an den Ankläger Harmon, ob Erdemović bezüglich der Verbrechen, über die er ausgesagt hatte, auch die Identität der Täter bekannt gegeben habe. Harmon darauf:

Harmon: Immer, wenn ihm die Identität der Täter bekannt war, hat Herr Erdemović sie uns mitgeteilt. Der verantwortliche Offizier der Einheit, der den Mord in Srebrenica befohlen hat, ist Leutnant Pelemiš, der die Leitung der 10. Sabotageeinheit hat. Die Namen der Angehörigen der Exekutionsgruppe, die am Vorfall vom 16. (Juli 1995, d. A.) auf der Farm beteiligt waren, hat uns auch Herr Erdemović gegeben; der Anführer dieser Gruppe war Brano Gojković. Die anderen Angehörigen waren Aleksandar Cvetković, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Vlastimir Golijan, Franc Kos, und er selber, Dražen Erdemović. Nun, die 10. Sabotageeinheit stand unter dem Kommando von Oberst Salapura. (3, S.209f.)2

Dennoch basiert die Anklage gegen Dražen Erdemović nur auf seinem Geständnis. Die Anklagebehörde hat bis auf den heutigen Tag keinen seiner Mittäter verhört, obgleich die meisten gar nicht untergetaucht sind. Über den Mord an 1200 Menschen, von acht Tätern auf der Branjevo-Farm begangen, kennen wir bis heute nur die Darstellung des Dražen Erdemović.

Aufgrund seines Schuldbekenntnisses wurde Dražen Erdemović zunächst im November 1996 zu 10 Jahren Haft verurteilt. Die Richter haben also seine Darstellung des Massenmordes als wahr angenommen. Eine andere Darstellung gibt es nicht. Bei der Anhörung von Dražen Erdemović 1996 waren übrigens die Richter noch erstaunt, dass die Anklagebehörde keine weiteren Täter vorzuführen hatte. Warum begnüge sich der Ankläger nur mit der Aussage dieses einen Täters, wollte der vorsitzende Richter Jorda wissen. Wo seien die anderen? Man solle sich keine Sorgen machen, es werde daran gearbeitet, beschwichtigte der Ankläger damals die Richter. (3, S.174f.) Die Frage des Richters Jorda wurde von Seiten des Tribunals kein zweites Mal gestellt. Bis heute nicht.

Acht Jahre später, im April 2004, wurde in Peabody bei Boston, USA, der bosnische Kroate Marko Boškić festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, im betrunkenen Zustand einen Verkehrsunfall verursacht und danach Fahrerflucht begangen zu haben. Aufgrund eines Tipps an die Justizbehörden von Massachusetts stellte man aber auch fest, dass Boškić im bosnischen Bürgerkrieg als Angehöriger einer berüchtigten Einheit der bosnisch-serbischen Armee gekämpft hatte, was er aber verschwieg, als er 1996 in München die Formulare zu seinem Emigrationsantrag in die USA ausgefüllt hatte. Boškić hat also falsche Angaben zu seiner Person gemacht, ein in den USA schweres Vergehen, das mit mehreren Jahren Gefängnis geahndet wird. Überdies sei er 1995 an einem Massenmord bei Srebrenica beteiligt gewesen. Schnell konnte festgestellt werden, dass Boškić einer der von Erdemović erwähnten acht Mittäter bei der Massenexekution auf der Branjevo-Farm war. Gegenüber Ermittlern der FBI gestand Boškić voll und ganz seine Mittäterschaft an diesem Massaker. Als aber Journalisten beim Tribunal von der Anklagebehörde wissen wollten, ob diese nicht die Überführung von Boškić nach Den Haag beantragen werde, hieß es, man sei eine überlastete Institution mit geringer Kapazität, nein, danke. Man müsse sich auf die „großen Fische“ unter den Kriegsverbrechern beschränken, erklärte am 27. August 2004 Anton Nikiforov, Sprecher der Anklagebehörde des Tribunals.3 Ein Mittäter am Mord von 1200 Menschen soll kein großer Fisch sein? Warum will die von Carla Del Ponte geleitete Anklagebehörde des Jugoslawien-Tribunals keinen der Mittäter von Dražen Erdemović verhören, geschweige denn anklagen?

Stellen wir uns vor, acht Halbstarke in Amsterdam prügeln einen Penner zu Tode und werfen ihn anschließend in die Gracht. In seiner Gewissensnot meldet sich später einer der Täter bei der Polizei, gesteht die Tat, nennt seine Mittäter und wird mit einer milden Strafe belohnt. Von seinen Mittätern will aber die Justiz nichts wissen. Man stelle sich einmal vor, wie in so einem Fall Politiker und Medien über die Justizbehörden herfallen würden. Im Falle Erdemović aber geht es seiner Aussage zufolge um den Mord an 1200 Menschen! Was ist das für eine Justizbehörde, die sich „Internationales Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien“ nennt und behauptet, Kriegsverbrechen nach internationalen Standards strafrechtlich zu belangen? Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit, heißt es. Wie ist es bei diesem Tribunal um die Wahrheitssuche bestellt, die, so sagt man, die Grundlage aller Rechtsprechung ist?

In seinem Interview behauptet Milorad Pelemiš u.a., er sei bei dem Massenmord am 16. Juli 1995 nicht dabei gewesen. Er habe nichts davon gewusst, er habe in einem Krankenhaus gelegen, das lasse sich leicht überprüfen. Dražen Erdemović bestätigt zwar die Abwesenheit von Pelemiš beim Massaker, behauptet aber, dieser habe als Kommandant den Befehl zur Erschießung der Gefangenen gegeben. Marko Boškić behauptet vor den Justizbehörden in Boston, einen Tag vor dem Massaker habe Pelemiš ihm die Pistole an die Stirn gesetzt und ihn so gezwungen, sich dem Exekutionskommando anzuschließen.4 Dies ist nur einer von Dutzenden Widersprüchen, die im Geständnis von Dražen Erdemović auftauchen, sobald man es mit einer anderen Darstellung abgleicht.

Was genau ist am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm beim Ort Pilica vorgegangen? Wer gab den Auftrag zur Erschießung der muslimischen Gefangenen? Wie wurde das Erschießungskommando rekrutiert? Wie wurde die Erschießung durchgeführt? Wie hoch ist die Zahl der Opfer? Wer war alles an diesem Verbrechen als Täter beteiligt und was ist die individuelle Verantwortung eines jeden einzelnen? Wie verläuft die so genannte Kommandolinie? Um auf diese Fragen auch nur annähernd zu antworten, müsste man an erster Stelle möglichst alle Beteiligten vernehmen. Aufgrund dieser Ermittlungen würde man dann vom Tribunal auch erwarten, alle Täter strafrechtlich zu verfolgen. Stattdessen begnügt sich das Tribunal allein mit dem Geständnis dieses Dražen Erdemović, dessen Glaubwürdigkeit überdies sehr fragwürdig ist, wie wir noch reichlich sehen werden, und erhebt dann dieses Geständnis in den Rang der endgültig festgestellten Wahrheit. Was geht hier als Wahrheitsfindung und Rechtsprechung eigentlich vor sich?

1„Bili smo profesionalci, a ne plaćenici“ („Fachleute waren wir, keine Söldner“), in: Nezavisne Novine (Banja Luka), 21.11.2005.

2Ziffer und Seitenzahl verweisen auf die im Quellenverzeichnis angeführten Gerichtsprotokolle (Transcripts) des Jugoslawien-Tribunals.

3„Peabody Man Won’t Face UN Tribunal“, in: The Boston Globe, 28. August 2004.

4„War crimes suspect charged in Boston“, in: The Boston Globe, 27. August 2004.