Die Art und die Zusammensetzung der 10. Sabotageeinheit scheinen bei der Aussage von Erdemović in diesem Verfahren am 5. Juli 1996 den Ankläger nur mäßig zu interessieren, was wirklich schade ist. Wir erfahren jedenfalls, dass diese Einheit zu Beginn aus bosnischen Kroaten und Muslimen bestanden und dass sie später mit der Aufnahme auch mehrerer Serben die Zahlenstärke einer kleinen Kompanie erreicht hat: 60 bis 70 Mann. Diese aus zwei Zügen zusammengesetzte Sabotageeinheit habe vornehmlich Einsätze auf feindlichem Territorium durchgeführt, wie etwa die Sprengung einer Brücke oder die Zerstörung einer Artilleriestellung. Auch Aufträge zur Entführung und Liquidierung Angehöriger der feindlichen Streitkräfte jenseits der Frontlinie hat es gegeben, was Erdemović weniger gern erwähnt, aber schon dem Vernehmungsprotokoll in Novi Sad zu entnehmen ist. Bei den Vernehmungen in Den Haag hingegen bestreitet er solche ganz vehement. Er sei zunächst mit dem Dienstgrad eines Sergeanten der Kommandant der 1. Gruppe dieser Einheit gewesen, sagt er. Später habe man ihn degradiert, weil er einen Befehl verweigert habe, der zu Menschenopfern hätte führen können:
Harmon: Was waren Ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten in dieser Einheit?
Erdemović: Anfangs wurde ich mit Aufklärung auf dem Territorium befasst, wo ich mich auskannte, das ist in Richtung auf die Stadt Tuzla. Später wurde ich Sergeant. Ich war Kommandant der 1. Sabotagegruppe in Bijeljina.
Harmon: War der Rang eines Sergeanten der höchste Rang, den Sie bis zu dem Zeitpunkt erreichten, als Sie schließlich diese Einheit verließen?
Erdemović: Ja, nur möchte ich sagen, dass ich zwei Monate lang Kommandant dieser Gruppe war und den Rang eines Sergeanten hatte, dass ich aber als Degradierter endete, weil ich mit manchen Entscheidungen meiner Vorgesetzten nicht einverstanden war. Sie degradierten mich und ich war auch nicht mehr der Kommandant der 1. Sabotagegruppe. Nach einigen Meinungsverschiedenheiten, nach einem Einsatz, zu dem ich sagte, ich wollte ihn nicht zu Ende ausführen, weil er zu menschlichen Verlusten führen würde, zu menschlichen Opfern. (2, S.834f.)
Das ist es, was er sagt. Über den Rang und die Degradierung von Erdemović gibt es angeblich weder ein Dokument, noch die Bestätigung eines Zeugen, steht im ersten Urteil vom 29. November 1996 zu lesen. (Letzteres gewährleistet die Anklagebehörde selber, möchte man hinzufügen.) Kompaniechef der 10. Sabotageeinheit ist Leutnant Milorad Pelemiš gewesen, dessen unmittelbarer Vorgesetzter Oberst Petar Salapura gewesen ist, ein Aufklärungsoffizier beim Generalstab der bosnisch-serbischen Armee (VRS) in Han Pijesak. Jetzt braucht der Zeuge nur noch über den Massenmord auszusagen, den seine Einheit im Auftrag vom Kommando der bosnisch-serbischen Armee mit General Ratko Mladić an der Spitze verübt haben soll. Der Ankläger schreitet zur Sache, die Darstellung des Zeugen erfährt aber einen kleinen Knick:
Harmon: Herr Erdemović, ich möchte nun Ihre Aufmerksamkeit auf den 16. Juli (1995, d. A.) lenken und Sie fragen, ob Sie und andere Soldaten Ihrer Einheit an diesem Tag einen Befehl bekommen haben, sich an einer speziellen Angelegenheit zu beteiligen.
Erdemović: Nein, nein. Mir persönlich wurde keiner jener Befehle bekannt gegeben, sondern dem Kommandanten, der zu dieser Zeit die Befehlsgewalt innehatte, könnte irgendjemand den Befehl zu diesem speziellen Auftrag erteilt haben. (2, S.839)
Alles klar? Wer mag denn dieser Irgendjemand sein, der den Befehl „zu diesem speziellen Auftrag“ erteilt haben soll? Mit einer neuen Frage, die nicht suggestiv sein darf und daher komisch klingt, bietet der Ankläger seinem Zeugen nochmals die Gelegenheit, die Sache in Bezug auf Befehl und Befehlsempfänger zu klären:
Harmon: Erhielten Sie überhaupt an diesem Tag von irgendjemandem einen Befehl, der einen Auftrag oder Einsatz betraf, den Sie letztendlich ausführten?
Erdemović: Ja.
Harmon: Von wem haben Sie diesen Befehl erhalten?
Erdemović: Vom Gruppenkommandanten Brano Gojković.
Harmon: Hatte er einen dafür normalen Dienstrang? (Was he of normal rank?) Verzeihung, ich werde die Frage umformulieren. War es eine normale Sache, dass er Ihrer Einheit Befehle zur Durchführung gewisser Einsätze erteilte, oder war dieser Fall eine Ausnahme?
Erdemović: Ja, es war eine Ausnahme. (2, S.840)
Ist das nicht interessant? Der Zeuge nennt Brano Gojković einen Gruppenkommandanten. Der Ankläger weiß freilich, dass Brano Gojković ein einfacher Soldat ist, er kennt auch das vorausgegangene Interview des Zeugen mit seinen Ermittlern und es ist ihm klar, dass es nicht überzeugend klingt, wenn man diesen Gojković einen Gruppenkommandanten nennt, der den anderen Soldaten Befehle erteilt. Und zwar nicht irgendwelche Befehle, sondern den Befehl, ein ganz schweres Verbrechen zu begehen. Die Frage nach dem Rang und nach der Führungsbefugnis von Gojković („was he of normal rank?“) ist dem Ankläger irgendwie herausgerutscht, sorry, sagt er dann und er kaschiert schnell seinen Lapsus mit einer „Umformulierung“: ob es denn normal gewesen sei, dass ein rangloser Soldat wie Gojković Befehle erteile, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Ausnahme gehandelt habe. Eine Ausnahme war es – bestätigt prompt Erdemović, und damit hat sich die Sache. Eine merkwürdige Truppe muss diese 10. Sabotageeinheit gewesen sein, wo ein rangloser Soldat, sei es auch ausnahmsweise, das Kommando über eine Truppe führt, zu der sogar ein Leutnant gehört. Ein sonderbarer Sachverhalt, der nur geklärt werden kann, wenn auch die anderen Teilnehmer verhört werden könnten, was aber nie geschehen ist. Der Erzähler Erdemović versucht allerdings diese heikle Angelegenheit etwas annehmbarer zu gestalten, indem er andeutet, dass die Befehle eigentlich von einem mysteriösen Oberstleutnant kommen, der im Hintergrund agiert und mit dem Gojković ab und zu Zwiegespräche führt. Indem es dem Befehl des einfachen Soldaten Brano Gojković gehorcht, erfüllt das Erschießungskommando eigentlich den Befehl eines Oberstleutnants, den niemand kennt und der sich den Soldaten nicht einmal vorgestellt hat. Das muss man Erdemović alles abnehmen, denn eine andere Quelle gibt es nicht.
Zu diesem Zeitpunkt hat Erdemović vor den Richtern noch keinerlei Angaben über die Soldaten gemacht, die sich mit ihm in einer Reihe aufgestellt haben und sich anschicken, unter dem Kommando von Gojković Gefangene zu erschießen. Ob er sie alle nennen kann, fragt der Ankläger, und Erdemović nennt sie: Franc Kos, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Brano Gojković, Aleksandar Cvetković und Vlastimir Golijan. Was die Richter noch nicht wissen, wissen mittlerweile Ermittler und Ankläger: Franc Kos, ein Slowene, ist Kommandant des 1. Zuges der 10. Sabotageeinheit, die mit der Zahlenstärke einer Kompanie von 60 Mann aus zwei Zügen besteht: dem Bijeljina-Zug und dem Vlasenica-Zug. Franc Kos, mit dem Dienstgrad eines ersten Leutnants, ist der Kommandant des Bijeljina-Zuges, dem auch Erdemović angehört. Wohlweislich erwähnt das alles Erdemović vor dem Gericht erst vier Jahre später, am 22. Mai 2000, als er als Zeuge der Anklage im Prozess gegen General Radislav Krstić aussagt. Da hat er schon seine milde Strafe abgesessen und alles hinter sich gebracht. Wie könnte Erdemović glaubhaft machen, dass „zu einer speziellen Angelegenheit“, wie der Ankläger sich ausdrückt, Brano Gojković als einfacher Soldat der Kommandant des Zugführers gewesen ist? Daher verschweigt er den Rang von Franc Kos und nennt Gojković jedes Mal „unseren Kommandanten“. Daher auch die sehr behutsame Fragestellung des Anklägers Harmon, sobald er sich dieser heiklen Angelegenheit nähert. Und wenn ein Richter eine direkte Frage dazu stellt, tarnt der Ermittler, der bei dieser Gerichtssitzung den Zeugenstand eingenommen hat, folgendermaßen die heikle Sachlage:
Richter Riad: Und was ist mit dem Vorgesetzten, hat er Ihnen gesagt, wer seine Vorgesetzten waren?
Zeuge Ruez: Ja, er gab uns den Namen des Anführers (the leader) des Exekutionstrupps (the execution squad), wie auch die Namen der sieben anderen Angehörigen der Einheit (unit). (3, S. 160)
Kein Wort, dass es sich bei einem dieser Namen um den eigentlichen Vorgesetzten von Erdemović handelt, nämlich um seinen Zugskommandanten. Die ganze heikle Angelegenheit bleibt ausgeklammert. Angeklagter und Ankläger entwerfen gemeinsam vor den Richtern eine falsche Darstellung. Will man vielleicht daher keinen anderen Mittäter von Erdemović verhören und anklagen?
Von niemandem hinterfragt oder widersprochen, bleibt Erdemović bei seiner Geschichte, in der Brano Gojković „the Commander of the group“ ist und den Befehl über das Erschießungskommando führt.