EINE KLEINE ARITHMETIK

In seinen späteren Varianten, die er als Angeklagter und mehrmals als Belastungszeuge vorbringt, bereichert Erdemović seine Geschichte mit neuen narrativen Details, die zwar ihrer literarischen Qualität zugute kommen, nicht aber ihrer Glaubwürdigkeit. Neben allen Widersprüchen, Ungereimtheiten und sonstigen Variablen gibt es eine Konstante: die Erschießung von 1000 bis 1200 muslimischen Gefangenen auf der Branjevo-Farm in Gruppen von jeweils 10 Opfern. Außerhalb des Gerichtssaals aber, bei den sogenannten Interviews der Ermittler, die nichts anderes als Vernehmungen sind, weiß es Erdemović auch selber nicht, wie viele Gefangene am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm erschossen wurden. Bei seiner Vernehmung in Novi Sad am 6. März 1996 sagt er dem Untersuchungsrichter Tomislav Vojnović, es seien vielleicht 15 bis 20 Busse angefahren, und was die Opfer betrifft, er wisse es nicht genau, er „schätze“, es müssten um die 1200 sein. (S.6, S.6) Das Vernehmungsprotokoll der Haager Ermittler am 24. April 1995 macht schnell klar, weshalb auch die Anklageschrift so vorsichtig von „hundreds of Bosnian Muslims“ spricht. Auf die Frage des Ermittlers Jean-Rene Ruez, ob er eine Ahnung habe, wie viele Menschen hingerichtet worden seien, antwortet Erdemović, er könne es nicht genau sagen, er denke, es könnten 1200 gewesen sein, er wisse es aber wirklich nicht. Er denke an die Zahl der Busse, und außerdem haben manche Soldaten erzählt, wie viele Leute sie persönlich erschossen hätten. (S.6, S.5) Mehrmals hat Erdemović angeführt, er selber habe 70 bis 100 Leute erschossen. Laut Protokoll sagt er aber, er habe sie nicht gezählt, es sei eine schreckliche Sache für ihn gewesen, wie hätte er dabei noch zählen können. „Weniger als 10, oder mehr als 50, oder?“ – bohrt Ruez weiter. „Nicht weniger als 10, aber eine genaue Zahl weiß ich wirklich nicht“, lautet die Antwort. (S.33f., S.22) Eine erneute Kurzfassung der Geschichte von der Massenerschießung mit Ergänzungen aus späteren Varianten dürfte zu einiger Klärung beitragen:

Acht Täter haben am 16. Juli 1995 auf einer Farm beim Dorf Pilica, 40 Kilometer nördlich von Srebrenica, 1200 muslimische Gefangene bzw. Zivilisten erschossen. Der erste Bus mit 50 bis 60 Menschen kommt zwischen 10 und 11 Uhr an. In diesem ersten Bus sind sie gefesselt und tragen eine Augenbinde, in den weiteren Bussen nicht mehr. Der Platz der Erschießung befindet sich 50, 100 oder, in späteren Fassungen, 200 Meter vom Bus entfernt auf einer Wiese. Die acht Täter stellen sich zunächst zwischen Bus und Erschießungsplatz in einer Linie auf. Dann werden jeweils 10 Gefangene aus dem Bus geholt. Sie müssen erst alles herausholen, was sie in den Taschen haben, und die persönlichen Papiere müssen sie in die Ecke einer Garage werfen, die sich nebenan befindet. Dann werden die Opfer an den Tätern vorbei zum Erschießungsplatz geführt und mit dem Rücken zu den Tätern aufgestellt, die sich inzwischen auch in eine Linie parallel zu den Opfern aufgestellt haben, wobei der Abstand zu den Opfern 20 Meter beträgt. Dann wird auf Kommando von Brano Gojković auf die Opfer gefeuert, die Kalaschnikows auf Einzelfeuer. Am Ende kontrolliert man, ob jedes Opfer tot ist, und die noch lebenden erledigt man mit der Pistole. Dieses Handwerk übernimmt meistens Stanko Savanović. Daraufhin stellen sich die Täter wieder in einer Linie bis zum Bus auf, während Brano Gojković und Vlastimir Golijan die nächste Zehnergruppe aus dem Bus holen.

In allen Aussagen bestätigt Erdemović ausdrücklich, dass sich dieser Vorgang unverändert bei jeder neuen Gruppe wiederholt habe. Es werden immer nur 10 Opfer aus dem Bus herausgeholt. Bei der letzten Gruppe vom ersten Bus habe man mit einem Maschinengewehr M-84 experimentiert. Brano Gojković und Aleksandar Cvetković seien auf die Idee gekommen, zur Beschleunigung der Arbeit dieses schwere Maschinengewehr einzusetzen. Damit habe man aber die meisten der Zehnergruppe nur verwundet. Man habe sie dann alle mit der Pistole erledigen müssen, die reinste Zeitverschwendung. Einige der Täter hätten sich auch das Schreien und Flehen der Verwundeten nicht mehr anhören können, und man sei in eine längere Auseinandersetzung geraten. Daher habe man nach der zweiten oder dritten Gruppe das Maschinengewehr weggelegt und sei zur erprobten Erschießungsmethode zurückgekehrt: Kalaschnikow auf Einzelfeuer. Erdemović habe auch lange mit einem alten Mann geredet, der angegeben habe, serbische Freunde zu haben. Der Mann habe in seinem Notizbuch geblättert und ihn mehrere Telefonnummern dieser Freunde sehen lassen, worauf Erdemović das Leben des alten Mannes habe retten wollen und erfolglos versucht habe, seinen Vorgesetzten Brano Gojković dazu zu überreden, diesen Mann nicht zu erschießen. Gojković aber habe keine überlebenden Zeugen zulassen wollen und den Mann doch erschießen lassen. Irgendwann nach dem zweiten oder dritten Bus war der Alkohol alle und da sei der Fahrer Cvetković ins Auto gestiegen und habe für Nachschub gesorgt. Um 13 oder um 14 oder um 15 Uhr, je nach Aussage, sei eine Gruppe von ca. 10 Soldaten aus Bratunac gekommen, um auszuhelfen. Man habe sich begrüßt, die Hand gegeben, einige kannten sich persönlich. Dann haben Erdemović und der Rest seiner Gruppe nicht mehr weitermachen wollen und sich etwas abseits hingesetzt, während die Gruppe aus Bratunac die Erschießung zu Ende geführt habe. Allerdings hätten sich jetzt die Täter aus Bratunac auch die Zeit genommen, um die Opfer zu prügeln, zu beschimpfen und zu erniedrigen. Sie sollten z.B. knien und auf muslimische Art beten. Erdemović sei ferner aufgefallen, dass diese Soldaten mehrere Opfer persönlich kannten. Eines der Opfer versuchte zu fliehen, man rannte hinter ihm her, holte es ein und erschoss es. Das alles nimmt Zeit in Anspruch. Zwischendurch trinkt man Sliwovits und raucht eine Zigarette, und um 15 Uhr oder etwas später ist man mit den 1200 Opfern fertig. Die Leichen habe man einfach liegen lassen, Gruppe nach Gruppe, so dass am Ende die Wiese mit bis zu 1200 Leichen bedeckt gewesen sein muss. Man stelle sich das einmal vor.

Nehmen wir an, dass man auf diese Weise alle 10 Minuten eine Gruppe von 10 Opfern erschossen hat. Selbst das wäre ein extrem kurzer Zeitraum, will man alle Einzelheiten des dargestellten Vorgangs berücksichtigen. Insgesamt soll es sich um 120 Gruppen von je 10 Gefangenen gehandelt haben. Will man Gruppe nach Gruppe im Abstand von 10 Minuten erschossen haben, auch dies schon ein unzumutbares Tempo, bräuchte man für die Erschießung von 1200 Menschen mindestens 20 Stunden. Kein Richter würde es normalerweise versäumen, diese einfache Rechnung zu machen. Nicht so die Richter des Haager Tribunals. In mehreren Anhörungen akzeptieren sie, dass man 1200 Menschen in Gruppen von zehn in weniger als 5 Stunden erschossen hätte. Das würde heißen, dass man 120 Gruppen in 300 Minuten erschossen hätte, also dass man alle 2,5 Minuten eine neue Gruppe aus dem Bus holt, jeden Einzelnen seine Taschen leeren und seine Papiere wegwerfen lässt (was bei den Gefesselten ein besonderes Problem sein dürfte!), dass man dann die Zehnergruppe 100 bis 200 Meter weit zur Wiese jagt, dort erschießt und anschließend kontrolliert, ob jeder tot ist. Und dann habe man noch zwischendurch getrunken, geprügelt und gestritten. In einem normalen und auf Wahrheitsfindung angelegten Strafverfahren würden sich die Richter übrigens selber zum Tatort begeben und sich vorführen lassen, wie das möglich sein soll.

Das Tribunal sperrt sich vehement dagegen, die Mittäter von Erdemović zu vernehmen, um die offensichtliche Unglaubwürdigkeit seiner Geschichte zu überprüfen. Weit weg von Den Haag hat dennoch einer dieser Mittäter eine Aussage dazu getätigt: Marko Boškić, der im April 2004 in Peabody bei Boston, USA, festgenommen wurde. Vom FBI verhört, gibt Boškić seine Beteiligung an dem Massaker zu und behauptet, man habe die Gefangenen jeweils in Gruppen von vier bis fünf Mann erschossen!13 Das wären in dem Fall 240 Gruppen, die man innerhalb von 300 Minuten erschossen hätte, d.h. doppelt so schnell wie in der Darstellung von Erdemović! Wollte man vielleicht daher auf keinen Fall die Auslieferung von Boškić an das Tribunal?

Ein Kommando von 8 Mann soll 1200 Gefangene in Gruppen von 10 innerhalb von 5 Stunden erschossen haben und ein rangloser Soldat soll dieses Kommando angeführt haben, wobei er auch seinem Zugskommandanten, der demselben Kommando angehört, Befehle erteilt habe. Anders gesagt: die Geschichte von Dražen Erdemović muss sich, wenn schon, ganz anders zugetragen haben, als er sie erzählt.

13S. Boston Globe vom 10 März 2005: „Marko Boškić, a Peabody construction worker accused of being a war criminal, admitted to federal agents last year that he helped kill busloads of unarmed Muslim men in an infamous July 1995 massacre in a field outside the town of Srebrenica. The men were led out of the bus and lined up to be ‚liquidated with automatic rifles‘,“ Boškić wrote in a six-page statement to FBI agents in Boston while being interrogated last August. ‚First, they started to shoot, and I didn’t want to join, but they forced me to shoot‘, Boškić said, according to an FBI account of the interview last summer. He admitted using a rifle to gun down prisoners who were taken off buses in groups of four and five, the FBI said.“