RANG UND ANSTAND

Am 16. Juli 1995 habe also der Kompaniechef Pelemiš über Brano Gojković seinen Befehl vermitteln lassen, Erdemović, Franc Kos und die anderen sollten sich für einen Einsatz fertig machen. Was denn Pelemiš dazu sagen würde? Wahrscheinlich, dass er am 16. Juli 1995 mit Gehirnerschütterung und gebrochenen Rippen nach einem schweren Unfall im Krankenhaus gelegen habe. Und mit Sicherheit würde er als Beweis Krankenhauspapiere vorlegen. Will man ihn deshalb nicht verhören? In seinem Verhör am 22. Mai 1996 als Belastungszeuge im Prozess gegen Karadžić und Mladić behauptet Erdemović auch, dass der Kompaniechef Pelemiš den Soldaten Gojković zum Gruppenkommandanten ernannt habe, der jeden Befehlsverweigerer erschießen dürfe. Was denn Pelemiš selber dazu sagen würde? Verhören will man ihn nicht. Dann bleibt leider nur das, was er in seinem Interview für Nezavisne Novine vom 21.11.2005 sagt. Erdemović habe psychische Probleme gehabt, meint Pelemiš. Schon im Oktober 1995 habe er seine Vorgesetzten benachrichtigt, dass Erdemović dringend eine psychiatrische Behandlung benötige. Es sei übrigens unmöglich gewesen, dass Erdemović unter dem Kommando von Brano Gojković gestanden habe, behauptet Pelemiš ganz dezidiert:

NN: Während des Prozesses hat Erdemović behauptet, dass ihm Brano Gojković die Morde befohlen habe, der auch ein Angehöriger der 10. Einheit war, also Ihr Untergeordneter?

Pelemiš: Das ist unmöglich, denn der einzige Unteroffizier in diesem Zug war Erdemović, und zwar ein Sergeant 1. Grades. Gojković war ein einfacher Soldat.18

Ob Pelemiš auch vor dem Gericht, egal ob als Angeklagter oder als Zeuge, bestätigen würde, was er in seinem Interview sagt, dass nämlich Erdemović am Tatort auf der Branjevo-Farm immer noch ein Unteroffizier war, ein „vodnik“ der 1. Abteilung des Bijeljina-Zuges der 10. Sabotageeinheit? Dass Erdemović also nicht degradiert worden ist, wie er in allen Varianten seiner Geschichte behauptet? Das können wir nicht wissen, weil es das Tribunal nicht wissen will.

Was Erdemović selber von seiner Beförderung und Degradierung sagt, ist eine Reihe von widersprüchlichen Angaben. Mehrmals behauptet er, z.B. in der Anhörung am 19. November 1996, man habe ihn bereits bei seiner Aufnahme in die 10. Sabotageeinheit im April 1994 in den Rang eines Sergeanten befördert. (3, S.181) In seiner Vernehmung in Novi Sad am 6. März 1996 sagt er allerdings, er habe am 1. Februar 1995 den Rang eines Sergeanten („vodnik“) bekommen und das Kommando über die 1. Gruppe vom 1. Zug übernommen. (S.4, S.4) Am 7. März 1995 habe er als Kommandeur einer Gruppe vom Kompaniechef Pelemiš den Befehl erhalten, einige Aufklärungssoldaten der 2. muslimischen Brigade unweit von Tuzla in der Region des Majevica-Gebirges zu liquidieren. Dieser Einsatz hätte viele Zivilisten das Leben gekostet und das wollte er eben nicht, erklärt Erdemović. Er habe den Einsatz abgeblasen und sei deswegen degradiert worden. Zuerst ist er also im April 1994 Sergeant geworden, dann am 1. Februar 1995. Im Interview der Haager Ermittler am 6. November 1996, als der Ermittler Peter McCloskey ihm diese Stelle aus der Vernehmung der jugoslawischen Justiz zitiert, sagt Erdemović hingegen, dies sei alles nicht wahr. Im Gegenteil, er sei an diesem Tag, am 1. Februar 1995, wegen einer Befehlsverweigerung degradiert worden. Ab diesem Datum hätte er keinen Rang mehr gehabt. (S.10, S.10) Er habe dem serbischen Untersuchungsrichter schon einiges vorgelogen, sagt Erdemović in diesem Interview. Gleich darauf erzählt er aber dieselbe Geschichte, die er schon in Novi Sad aufgetischt hatte: Am 7. März 1995, also einen Monat nach seiner angeblichen Degradierung, habe er als Kommandant einer Gruppe den Auftrag bekommen, zwei muslimische Aufklärungsoffiziere zu liquidieren oder zu entführen, er habe aber die Durchführung abgeblasen und sei daher degradiert worden. War er also bei diesem Einsatz doch noch nicht degradiert? Zu seinem Kommando habe übrigens auch Franc Kos gehört, sagt er, was die Geschichte nicht glaubwürdiger macht, da Kos erwiesenermaßen schon damals ein Leutnant war. Erdemović widerspricht sich am laufenden Band, die Ermittler scheint dies alles überhaupt nicht zu stören, wahrscheinlich haben sie selbst die Nase voll davon. Überhaupt ist die Geschichte, die Erdemović von seinem Rang und von seiner Degradierung erzählt, ein einziges unentwirrbares Knäuel von Widersprüchen. Erstaunlicherweise scheint er aber damit bei den Richtern durchzukommen, ja sogar Erfolg zu haben, wie dem Urteil vom 29. November 1996 zu entnehmen ist:

Der Angeklagte betonte, dass er seinen Rang zwei Monate, nachdem er ihn erhalten hatte, wieder verlor, hauptsächlich aus dem Grund, dass er sich weigerte, einen Einsatz auszuführen, der voraussichtlich „Verluste unter Zivilisten“ verursacht hätte. Er machte geltend, dass er nach seiner Degradierung nicht mehr in der Lage war, sich den Befehlen seiner Vorgesetzten zu widersetzen. (…) Das Gericht vermerkt die Tatsache, dass der Angeklagte in den Anhörungen vom 5. Juli und vom 19. und 20. November erklärte, dass er den Rang eine Sergeanten erhalten und als Kommandant einer kleinen Einheit fungiert hatte. Es vermerkt auch die Tatsache, dass Dražen Erdemović nach seinen eigenen Aussagen seinen Rang vor Verübung der ihm angelasteten Handlungen verlor. Es stellt aber auch fest, dass kein Dokument seinen Rang in der militärischen Hierarchie präzise nachgewiesen hat. (s. Quellenverzeichnis, keine Seitenzahl)

Der letzte Satz klingt merkwürdig. Im Interview vom 6. November 1996 erwähnt der Ermittler Ruez beiläufig, über den Militärdienst von Erdemović habe man aus Belgrad viele Dokumente erhalten. Gab es kein einziges, dem sein Rang zu entnehmen war? Am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm will Dražen Erdemović jedenfalls kein Sergeant gewesen sein. Denn hätte er einen Rang gehabt, dann hätte er auch eine Wahl gehabt, sagt er, dann hätte er sich widersetzt, hätte den Schießbefehl von Brano Gojković verweigert und auch die anderen dazu überredet. Man habe ihn aber nun einmal zum einfachen Soldaten degradiert, und damit war das Schicksal der Gefangenen besiegelt. Wozu man nicht alles im Stande wäre, wenn man nur einen Rang hätte. In den Anhörungen am 19. und 20. November 1996 bietet Erdemović den Richtern mehrere Varianten seines versäumten Anstands, wie z.B. diese:

Erdemović: Wäre ich der Kommandant der Gruppe gewesen, dann muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich mit irgendeiner Begründung diesen Auftrag zurückgewiesen hätte, ich hätte versucht, für die Vorgesetzten eine Begründung zu finden, ich hätte es versucht. Ich will Ihnen sagen, was diese Begründung gewesen wäre. Ich hätte gesagt, dass das ein Verbrechen ist, dass das strafbar ist, und ich hätte vor allem meine Kollegen davon überzeugt, dass man für so etwas zur Verantwortung gezogen wird, dass dies keine kleine Affäre ist, wenn hier Menschen ums Leben kommen. So hätte ich es begründet. Und dann würden sie mir helfen, wenn ich Pelemiš davon Meldung mache. Sie würden mich verteidigen. Doch ich war damals nicht der Kommandant, leider. Ein Idiot war der Kommandant, ein Idiot – nicht ein Verrückter, ein Idiot. Ein Verrückter ist gut und ehrlich, aber ein Idiot ist ein Idiot. (4, S.292)

Als er noch einen Rang hatte, da hat er Menschen gerettet und nicht getötet, sagt Erdemović und führt als Beweis eine andere Geschichte an. Im August 1994, als er noch einen Rang hatte, habe er mit seinem Kommando auf dem Berg Majevica einen Militärpolizisten der bosnisch-kroatischen Armee (HVO) gefangen genommen, der einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Man hätte ihn freilich auf der Stelle umlegen können. Erdemović hat aber den Unglückseligen als einen vormaligen Kollegen erkannt. Er kannte ihn aus der Zeit, da er selber Militärpolizist bei der HVO war. Daher hat er es nicht zugelassen, ihn über den Haufen zu schießen. Als Sergeant hat er sich einfach durchgesetzt. Man hat den Gefangenen nach einigen Stunden gehen lassen und ihm auch noch eine Schachtel Zigaretten zum Abschied gegeben. Da war Erdemović noch ein Sergeant und konnte sich diese Großzügigkeit leisten. (3, S.203) Bei der Anhörung am 20. November 1996 trat der dankbare Gerettete als Entlastungszeuge auf. Als anonymer Zeuge X bestätigte er den Richtern diese schöne Geschichte. Habe es einen speziellen Grund gegeben, dass Erdemović ihm das Leben gerettet habe, fragt bestürzt Richter Riad. Vielleicht, weil sie demselben Land angehörten? Der Zeuge X weiß es auch nicht. Vielleicht, weil sie derselben Einheit angehört haben, sagt er. Weil sie drei oder vier Monate zusammen bei der Militärpolizei der 115. Brigade gewesen sind. (4, S.245) So anständig kann man sein, wenn man einen Rang hat.

Auch diese Entlastungsgeschichte führt übrigens Erdemović als Grund für seine Degradierung an. Vorausgreifend auf die Aussage seines Zeugen erzählt er am 19. November 1996, man habe ihn degradiert, weil er während eines Einsatzes einen Gefangenen habe laufen lassen, nämlich den Zeugen X. Jemand muss ihn beim Oberst Petar Salapura deswegen verpetzt haben:

Erdemović: Einige Tage später traf Oberst Salapura vom Hauptquartier ein. Er war der höchste Aufklärungsoffizier im Generalstab. Wir, ich und andere anwesende Kommandeure wurden zu einem Treffen eingeladen, bei dem es hauptsächlich um mein Verhalten und um das von gewissen anderen Personen ging. Sie warfen mir vor, zu lügen, dass ich mich nicht so benehmen dürfe, dass ich einen Gefangenen hatte gehen lassen, dass ich das Leben eines Gefangenen gerettet hatte (das ist der Mann, der heute als Zeuge aussagen wird), dass ich Befehle verweigere, usw. Daher wurde ich degradiert. (3, S.182f.)

Erdemović erzählt mal dies und mal jenes über das Wann und Warum seiner angeblichen Degradierung, und das scheint niemanden bei diesem Gerichtshof zu stören. Ist das nicht merkwürdig? Sehr eindrucksvoll erzählt er auch, wie Salapura ihn ausgeschimpft und ihm den Rang abgenommen habe. Es muss im März 1995 gewesen sein, als Oberst Salapura, Chef der Aufklärung im Hauptquartier und unmittelbarer Vorgesetzter des Kompaniechefs Pelemiš, nach Bijeljina gekommen sei, um dem eigensinnigen und unzuverlässigen Sergeanten kroatischer Herkunft Gehorsam beizubringen. (4, S.269)

Es gibt allerdings spätere Zeugenaussagen, die der Behauptung von Erdemović, er sei beim Massaker auf der Branjevo-Farm ein rangloser Soldat gewesen, entschieden widersprechen. Am 8. Juni 2004 ist der Oberst a. D. Petar Salapura Zeuge der Verteidigung im Prozess gegen Vidoje Blagojević und Dragan Jokić. Vom Massenmord auf der Branjevo-Farm habe er erstmals aus den Medien erfahren, als diese über Erdemović und sein Geständnis berichtet haben. (10, S.10525) Weiter verliert Salapura kein Wort über Erdemović, den er angeblich persönlich degradiert haben soll. Merkwürdiger noch ist die Zurückhaltung des Anklägers Peter McCloskey, der das Kreuzverhör des Zeugen Salapura führt. McCloskey ist bestens mit der problematischen Geschichte von Erdemović vertraut und kennt auch seine widersprüchlichen Aussagen zu seiner Degradierung. Nun verhört er als Zeugen den Mann, der persönlich Erdemović wegen seiner Ungehorsamkeit degradiert haben soll. Will Salapura dies bestätigen? Habe er tatsächlich den Sergeanten Erdemović degradiert? Der Ankläger will davon nichts wissen. Er stellt ihm diese Frage einfach nicht. Will er sich vielleicht nicht anhören, was ihm Salapura vermutlich antworten würde, nämlich, dass er Erdemović nie degradiert hat? Die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen darf keinen Schaden nehmen. Eine strafrechtliche Wahrheitsfindung der besonderen Art.

Drei Jahre später, am 21. August 2007, tritt in Den Haag der Zeuge Dragan Todorović auf. Er ist ein wichtiger Zeuge der Anklage im Prozess gegen Vujadin Popović und andere hohe Offiziere der bosnisch-serbischen Armee. Dragan Todorović hat ebenso der 10. Sabotageeinheit angehört, nur hatte er seine Dienststelle in der Vlasenica-Militärbasis, die sich einige Kilometer nordwestlich von Vlasenica im Ort Dragaševac befindet. Dragan Todorović war für die Logistik der 10. Sabotageeinheit verantwortlich. Wenn der Bijeljina-Zug oder der Vlasenica-Zug mit einem Einsatz beauftragt werden, holt man sich zuerst beim Korporal Todorović die benötigten Waffen, Munition und sonstige Ausrüstung. So auch am 15. Juli 1995, als in Abwesenheit des Kommandanten Pelemiš mit viel Geschrei eine Gruppe zu einem Einsatz zusammengestellt wird. Todorović kann sich sehr gut an Erdemović erinnern als Einen, der einen Rang gehabt habe – der Zweite in dieser Gruppe mit einem Rang neben Leutnant Franc Kos. Genauso gut kann er sich erinnern, dass Brano Gojković ein rangloser Soldat war, der niemandem habe befehlen können. Auf die Frage, ob Brano Gojković die Gruppe angeführt habe, antwortet der Zeuge: „Ich weiß, dass Herr Gojković keine Befehlsgewalt hatte, dass er keinen Rang hatte, dass er keinen einzigen Angehörigen der Sabotageeinheit kommandieren konnte. Er konnte nicht befehlen, er war nicht in der Position auch nur einem Einzigen der Soldaten dort einen Befehl zu erteilen.“ (13, S.14042)

Die Aussagen von Salapura und Todorović zum Fall Erdemović sind ein beiläufiges Nebenprodukt anderer Prozesse, was ihrer Glaubwürdigkeit nur zugute kommt. Es sind dies nämlich keine interessegeleiteten Aussagen, denn in diesen Prozessen ist der Dienstgrad eines Erdemović von keinerlei Bedeutung. Diese Aussagen werfen aber ein anderes Licht auf die ganze Affäre und daher kommen wir noch auf sie zurück. Die Weigerung der Anklagebehörde, die Wahrheit im Fall Erdemović durch die Festnahme und die Vernehmung seiner Mittäter ans Licht zu bringen, macht diese zwei Aussagen besonders wertvoll.

Am 25. August 2003 präsentiert Geoffrey Nice, Hauptankläger im Milošević-Prozess, seinen Zeugen Dražen Erdemović, und lässt ihn eine kurze Videoaufnahme sehen. Es müsste Oktober 1995 sein, wir sehen General Radislav Krstić, Vize-Kommandant des Drina-Corps der VRS, der die Soldaten der 10. Sabotageeinheit anlässlich einer Jubiläumsfeier mit den zu diesem Anlass üblichen rhetorischen Worthülsen beglückwünscht:

Radislav Krstić: „Tapfere serbische Krieger, erlauben Sie mir, Sie im Namen der Angehörigen des Drina-Corps, in meinem Namen und im Namen des Kommandanten des Generalstabs zu begrüßen und Sie zum Jahrestag der Aufstellung dieser Einheit zu beglückwünschen.“ Die Soldaten: „Danke.“ Radislav Krstić: „Mit Ihren bisherigen Handlungen haben Sie sehen lassen, wie ein Soldat der VRS zu kämpfen hat. Sie haben bisher alle Aufträge sehr erfolgreich ausgeführt, ohne Verluste, was besonders zu schätzen ist. Wir sind nun in einer Lage, in der…“ (8a, S.25163, 8b, S.308)

Hier bricht das Band ab. Dann fragt Nice seinen Zeugen, ob er selber auch bei dieser Zeremonie dabei war, und dieser erklärt:

Erdemović: Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht angetreten, sondern habe auf der Seite gesessen, da ich damals noch schwer verwundet war und nicht stehen konnte. Und dann wurden einige… Mir wurde der Rang eines Reserveunteroffiziers gegeben, Franc Kos, der der Kommandant des Bijeljina-Zuges war, bekam den Rang eines Reserveleutnants, ich denke auch einige andere Personen, an die ich mich nicht erinnern kann. (8a, S.25164, 8b, S.308)

Unter der Regie des Hauptanklägers Nice vollzieht sich ein kleiner Sketsch mit bestem Unterhaltungswert. Anschließend an die Videoeinspielung erzählt Erdemović, was in der Einspielung selber gar nicht zu sehen ist, nämlich, dass er bei dieser Jubiläumsfeier zum Sergeanten befördert worden sei. Wozu dann diese Einspielung? Offensichtlich nur um den Rahmen abzugeben für das, was sie als Aufnahme eben nicht zeigt, nämlich die doppelte Beförderung von Dražen Erdemović und Franc Kos. Schade, dass die Beförderung selber nicht mitgefilmt wurde und dass uns Erdemović von ihr erzählen muss. Erst versucht ihn Pelemiš wegen Ungehorsam oder was auch immer umzubringen, und keine drei Monate später, auf der Jubiläumsfeier, lässt er ihn zum Sergeanten befördern. Und das müssen wir Erdemović glauben, denn von der Jubiläumsfeier gibt es ein Videodokument, das haben wir soeben alle gesehen, und Mr. Nice wird es als Beweisstück aufnehmen lassen. Gleich darauf verlangt er, dass Erdemović auf einem Foto von der Jubiläumsfeier jemanden identifiziert, und da sagt Erdemović: „Das ist Franc Kos, Kommandant des Bijeljina-Zugs.“ Sein Zugskommandant also. Und der Ankläger Nice fügt bestätigend hinzu: „Der befördert wurde, wie Sie beschrieben haben.“ Wozu befördert, zu dem, was er immer schon war, zum Leutnant und Zugskommandanten? Im wunderlichsten Zusammenspiel erzeugen Kronzeuge und Ankläger vor den Richtern eine Wirklichkeit von 2. Potenz, die weder durch die Einspielung noch durch was auch immer begründet ist, lediglich durch die Worte des Kronzeugen, und die Richter haben nichts dagegen. Der einzige Zweck dieses Verwirrspiels kann nur sein, den Richtern zu suggerieren, dass Franc Kos und Dražen Erdemović erst bei dieser Jubiläumsfeier zu ihrem Dienstrang befördert worden sind. So ist das Problem mit der Rangordnung im Exekutionskommando unter dem Befehl des ranglosen Brano Gojković endlich gelöst.

Dasselbe Videodokument wurde übrigens Erdemović schon einmal vorgeführt. Am 7. Dezember 2002 führen der Ankläger McCloskey und der Ermittler Bruce Bursik an einer „secure location“ ein Gespräch mit ihrem Kronzeugen, um ihn auf zukünftige Verwendungen vorzubereiten, und spielen ihm u.a. auch dieses Band vor. Erdemović identifiziert mehrere Angehörige der 10. Sabotageeinheit, erwähnt auch, dass er dabei war, aber wegen seiner Verwundung seitwärts gesessen habe. Er berichtet ausführlich über die Jubiläumsfeier und erwähnt mit keinem Wort, dass er bei dieser Feier auch zum Sergeanten befördert worden sei.19 Am 25. August 2003 lässt aber Nice seinen Zeugen erklären, er und Franc Kos seien bei dieser Jubiläumsfeier befördert worden, woraus man schließen soll, dass Erdemović davor ein rangloser Soldat gewesen sein muss und dass also die Geschichte seiner Degradierung stimmt.

Und siehe da, eine Weile später legt Ankläger Nice seinem Kronzeugen ein Dokument vor, das die Richter in ihrem Urteil vom 29. November 1996 vermisst hatten. Es ist der Kontrakt von Erdemović mit der VRS, datiert auf den 1. Februar 1995. Im Kontrakt steht unmissverständlich, dass Erdemović ein Angehöriger der bosnisch-serbischen Armee (VRS) mit dem Rang eines Sergeanten ist. Nice präsentiert dieses plötzlich aufgetauchte Dokument mit den Worten:

Nice: Das nächste Beweisstück, Tabulator 22, ist ein Vertrag über die Aufnahme von Personen in die Armee der Republika Srpska unter einem Vertrag für eine Zeitverpflichtung. Er gibt Ihren Namen, Ihren Rang als Sergeant und ihre Pflichten an, und wieder ist es ein von Mladić unterzeichnetes Dokument, wie wir an seinem Ende sehen können. Das in ihm angegebene Datum für den Beginn Ihrer Verpflichtung ist Februar 1995. Das stimmt nicht mit Ihrer Erinnerung überein. Können Sie erklären, warum er erst vom Februar 1995 datiert? (8a, S.25166, 8b, S.309)

Wiederholt hat Erdemović in Den Haag erklärt, er sei am 1. Februar 1995 degradiert worden, z.B. in der Befragung vom 6. November 1996. (S.10, 10) Ob er nun erklären könne, warum dieses Datum nicht mit seinen bisherigen Aussagen übereinstimme, will der Ankläger Nice wissen. Erdemović kann es nicht erklären. „Ich kann es nicht erklären, weil ich damals auch selber keine Erklärung bezüglich dieses Datums bekommen habe“, sagt er. (ebd.) Eine amüsante Erklärung, das muss man ihm lassen. Ankläger Nice findet sie in Ordnung. Wie auch immer, man habe Erdemović danach degradiert und er sei am Massaker als ein rangloser Soldat beteiligt gewesen, denn sonst hätte man ihn nicht bei der Jubiläumsfeier im Oktober 1995 zum Sergeanten befördern können. Welch ein Aufwand, um jede Gefahr für die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte abzuwenden!

Fassen wir zusammen: Als er am 6. März 1996 in Novi Sad zum ersten Mal vernommen wurde, gab Erdemović dem Untersuchungsrichter Tomislav Vojnović den 1. Februar 1995 als das Datum an, an dem er zum Kommandeur der 1. Sabotagegruppe mit dem Dienstgrad eines Sergeanten („vodnik“) ernannt worden sei. (S.4, S.4) Bei seiner Vernehmung in Scheveningen am 6. November 1995 hat er hingegen dieses Datum geleugnet. Er sei am 1. Februar 1995 nicht befördert, sondern degradiert worden, erklärt Erdemović den Ermittlern Jean-Rene Ruez und Peter McCloskey. (S.10, S.10) Er habe dem serbischen Untersuchungsrichter mehrere Einzelheiten vorgelogen. Nun stellt sich das Umgekehrte heraus. Aus seinem Kontrakt ist klar ersichtlich, dass er den Haager Ermittlern etwas vorgelogen hat, dem serbischen Untersuchungsrichter aber das richtige Datum genannt hatte. Es ist nicht einfach mit diesem Kronzeugen. In seiner Fabulierungslust sagt Erdemović mal dieses und mal jenes, aber das Dokument ist, was es ist, und man kann sich nur fragen, was Geoffrey Nice bezweckt haben könnte, als er plötzlich dieses Dokument aus seinem Ärmel zauberte. Ganz bestimmt nicht, am „Ort der Wahrheit“ die Glaubwürdigkeit seines Zeugen und seine bisherigen Aussagen in Frage zu stellen.

Am 11. Juni 1996 hatte die jugoslawische Justiz alle Ergebnisse ihrer Ermittlungen im Falle Erdemović der Anklagebehörde des Tribunals übergeben. Wahrscheinlich gehörte auch dieses Dokument dazu. Bei seiner Vernehmung am 24. April 1996 in Scheveningen zählt Erdemović die persönlichen Papiere auf, die er bei seiner Festnahme in Serbien bei sich gehabt hat, und erwähnt auch seinen Kontrakt mit der VRS. In diesem Kontrakt steht freilich auch, welchen Dienstgrad er hat, nämlich den eines Sergeanten. Das macht auch sofort klar, warum er schon bei seiner ersten Vernehmung in Novi Sad erzählt hat, man hätte ihn irgendwann vor dem 16. Juli 1995 degradiert, und diese Geschichte in mehreren widersprüchlichen Varianten wiederholt. Wie soll er sonst glaubhaft machen, dass er als ein Sergeant unter dem Befehlszwang eines ranglosen Gojković gestanden hätte. Spätestens Ende Juni 1996 müssen die Ankläger im Fall Erdemović diesen Kontrakt erhalten haben, in dem der Rang ihres Kronzeugen festgehalten ist und den Geoffrey Nice, der Hauptankläger im Fall Milošević, am 23. August 2003 vor dem Gericht zitiert. In ihrem Urteil vom 29. November 1996 weisen aber die Richter darauf hin, dass kein Dokument den Rang von Erdemović in der militärischen Hierarchie belegen würde.

Wie kann man sich das erklären? Hat die Anklagebehörde am „Ort der Wahrheit“ den Richtern vielleicht dieses Dokument einfach vorenthalten?

18„Bili smo profesionalci, a ne plaćenici“ („Fachleute waren wir, keine Söldner“), in: Nezavisne Novine (Banja Luka), 21.11.2005.

19Siehe „Information Report“ vom 13. 12. 2002.