Am 4. Mai 2007 trägt Dražen Erdemović im Zeugenstand die bisher letzte Variante seiner Geschichte vor. Seine Überstellung nach Den Haag und die erste Variante seiner Geschichte liegen 11 Jahre zurück, und seit 7 Jahren lebt er mit neuer und „beschützter“ Identität irgendwo in Nordwesteuropa. Bei seinem letzten Auftritt als Zeuge vor dem Tribunal geht es wiederum um eine Völkermordanklage, was sonst, diesmal im Megaprozess gegen sieben hohe Offiziere der bosnisch-serbischen Armee (VRS): Vujadin Popović, Ljubiša Beara, Vinko Pandurević, Drago Nikolić, Ljubomir Borovčanin, Milan Gvero und Radivoje Miletić. Die Anklage führt Peter McCloskey, der die Geschichte von Erdemović in allen Varianten kennt. Er war schon 1996 beim ersten Interview ihres Erzählers dabei und er hat ihn all die Jahre hindurch Prozess um Prozess zum Belastungszeugen für den Völkermord gleichsam großgezogen. Inzwischen ist es sieben Jahre her, da Erdemović mit neuer Identität und entlastetem Bewusstsein irgendwo ein normales Leben begann. Seine Zeugenaussage verläuft entspannt und irgendwie lustlos, sie ist ihm zur Routine geworden. Alles wie gehabt: die Kommandostruktur seiner Einheit und die Kommandolinie bis nach Han Pijesak wird vom Kronzeugen klar und übersichtlich dargestellt. Der Ausflug nach Srebrenica am 10. und 11. Juli 1995 kommt zur Sprache, Franc Kos habe den Bijeljina-Zug angeführt, dann habe in Srebrenica das Kommando Milorad Pelemiš übernommen, sein Verbot auf Zivilisten zu schießen wird erwähnt, gefolgt vom Befehl, einen jüngeren Muslim abzuschlachten. Die Nacht zum 12. Juli verbringt man in zwei Häusern am Stadtrand und in der Früh bricht man auf nach Vlasenica. Unterwegs geht der LKW kaputt, Erdemović kommt sehr spät in der Basis an und erfährt erst am 13. Juli in der Früh, dass sich der Transporter seines Kompaniechefs unweit von Vlasenica überschlagen habe und ein Soldat umgekommen sei. Es folgt die lange Reise nach Trebinja mit den sterblichen Resten des Koljivrat Dragan, das Begräbnis ist am 14. Juli, und am 15. Juli um 5 Uhr morgens ist man wieder in Vlasenica zurück. Endlich kann Erdemović todmüde ins Bett.
Wie er schon am 24. April 1996 den Ermittlern Jean-Rene Ruez und Peter Nicholson sagte, sobald sie am 15. Juli ganz früh am Morgen angekommen waren, wären sie alle sieben schlafen gegangen. (S.4, S.5) Er muss 24 Sunden geschlafen haben, denn vom 10. bis zum 15. Juli sei er praktisch ununterbrochen im Einsatz gewesen. An einer anderen Stelle in diesem Interview sagt Erdemović, er habe am 15. Juli im Vlasenica-Camp bis 17 Uhr geschlafen. Außerdem sei an diesem Tag die gesamte Einheit, der Bijeljina-Zug, dem Erdemović angehört, und der Vlasenica-Zug, im Vlasenica-Camp gewesen. Auch der Kompaniechef Pelemiš:
Ruez: Also, Sie haben einen ganz normalen Tag in Vlasenica verbracht, Sie haben nichts gehört, was sich in den vorangehenden Tagen ereignet hat?
Erdemović: Wissen Sie, ich habe bis ungefähr 5 Uhr abends geschlafen, ich war wirklich müde vom Weg, von allem.
Ruez: Ist Ihr gesamter Zug an diesem Tag in Vlasenica gewesen?
Erdemović: Ja.
Ruez: Und war auch die gesamte Einheit anwesend?
Erdemović: Die gesamte Einheit, ja.
Nicholson: Betrifft das sowohl Ihren Kommandanten Pelemiš als auch seinen Stellvertreter Kremenović?
Erdemović: Pelemiš war da, Kremenović nicht. Kremenović war überhaupt nicht in Srebrenica. (S.19, S.13)
Dies alles sei hier in Zusammenhang mit den späteren Aussagen der Zeugen Oberst Salapura und Dragan Todorović in Erinnerung gebracht.
Am 4. Mai 2007, in seinem bisher letzten Auftritt als Zeuge der Anklage im Prozess gegen Vujadin Popović u.a., bleibt Erdemović in groben Zügen bei seiner vorherigen Darstellung. Am 15. Juli 1995 sei er am frühen Morgen in Vlasenica eingetroffen, nachdem er seit dem 10. Juli kaum habe schlafen können. Daher habe er bis in den 16. Juli hinein geschlafen, als Brano Gojković in den Schlafraum gekommen sei und gerufen habe: „Du, Franc Kos und Zoran Goronja, nehmt eure Waffen und macht euch fertig für einen Auftrag!“ (9, S.10962f.) Ist es nicht merkwürdig, dass ein gewisser Gojković diesen drei Befehle erteilt, wobei Franc Kos bereits als Zugskommandant erwähnt wurde? Die Richter wundert es nicht. Und was sei dann passiert, fragt der Ankläger McCloskey. „Wir taten es“, sagt Erdemović, „und vielleicht eine halbe Stunde später verließen wir Vlasenica in Richtung Zvornik“. Und dann nennt er wieder die Namen seiner sieben Mittäter. Merkwürdigerweise wundert es auch niemanden, wenn Erdemović erneut Franc Kos als einen der Mittäter nennt. Dabei hatte er gerade noch auf eine Frage des Anklägers McCloskey geantwortet, dass Franc Kos sein Zugskommandant war, „in charge of our detachment“! (9, S.1041) Diese Ungereimtheit scheint niemandem aufzufallen. Dann wird die Frage gestellt, wer beim Exekutionstrupp das Kommando hatte:
McCloskey: Wer hatte das Kommando? (Who was in charge?)
Erdemović: Brano Gojković.
McCloskey: Was war sein Rang, sollte er einen gehabt haben?
Erdemović: Soviel ich weiß, hatte er keinen. (9, S.10963)
Merkwürdig ist diese vorsichtige Antwort von Erdemović auf die Frage nach dem Rang von Gojković: soviel er wisse, habe Gojković keinen Rang. Als ob er nicht ausschließen wolle, dass Gojković eventuell doch einen geheimen Rang hätte. Noch merkwürdiger ist es, dass ein rangloser Soldat das Kommando über einen Leutnant und Zugführer gehabt haben soll, und dass diese Absurdität weder Ankläger noch Richter stört. Aber auch keiner der Anwälte der sieben Angeklagten wird später beim Kreuzverhör des Kronzeugen dazu Stellung nehmen! Die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen scheint allen am Herzen zu liegen. Dann klärt McCloskey vor den Richtern auch die nicht weniger problematische Angelegenheit mit der Degradierung von Erdemović, dessen Dienstgrad jetzt auf Englisch nicht mehr Sergeant, sondern Korporal ist:
McCloskey: Welchen Rang oder welche Position hatten Sie zu dieser Zeit in der Einheit?
Erdemović: Vorher war ich Korporal der Armee der Republika Srpska. Ich war Korporal in der 10. Sabotageeinheit und wegen eines Konflikts mit dem Kommandanten unserer Einheit, Milorad Pelemiš, hat er mir den Rang abgenommen. Eigentlich war ich Kommandant einer Gruppe des Bijeljina-Zuges, doch zu dieser Zeit (am 16. Juli 1996, d. A.) war ich nur ein einfacher Soldat. (ebd.)
Ob man den serbischen Dienstgrad „vodnik“ mit „Sergeant“ oder „Korporal“ übersetzt, ist egal. Auffallend ist aber, dass Oberst Salapura nicht mehr erwähnt wird, obgleich er in allen vorherigen Aussagen den ungehorsamen Sergeanten Erdemović persönlich degradiert haben soll. Auch dieses Abweichen des Kronzeugen von seinen bisherigen Aussagen scheint niemanden zu stören. Ob Erdemović dann wisse, wieso der ranglose Gojković das Kommando über diese Einheit hatte, fragt der Ankläger weiter:
McCloskey: Und wußten Sie, wer Brano Gojković das Kommando über diese Einheit gegeben hat?
Erdemović: Er sagte, dass Pelemiš gekommen sei und gesagt habe, wir sollen uns bereit machen, also nehme ich deswegen an, dass Pelemiš Brano sagte, was zu tun sei. (ebd.)
Auf diesem schmalen Wissensgrund behauptet Erdemović sowohl, dass Gojković im Auftrag vom Kompaniechef Pelemiš Kommandant des Exekutionstrupps war, als auch, dass an diesem Morgen, als sich der Exekutionstrupp auf den Weg nach Pilica gemacht hat, Pelemiš selber sich im Vlasenica-Camp aufgehalten hat:
McCloskey: Haben Sie, bevor Sie zu diesem Auftrag wegfuhren, irgendeinen Offizier wie Pelemiš oder jemanden in höherer Position bei Vlasenica, wo ihr euch aufgehalten habt, gesehen?
Erdemović: An diesem Morgen war Pelemiš da, aber in der Nacht, als wir aus Srebrenica nach Vlasenica zurück kamen, das war am 12. Juli in der Nacht, war Major Pećanac da. (ebd.)
An diesem Morgen war Pelemiš da, sagt Erdemović. Ist das eine Antwort auf die konkrete Frage, ob er Pelemiš auch tatsächlich „gesehen“ hat? Es scheint, als ob es niemand genau wissen möchte.