DAS URTEIL

An 29. November 1996 haben die Richter der 1. Strafkammer des Tribunals Claude Jorda (vorsitzender Richter), Elizabeth Odio Benito und Fouad Riad den bosnischen Kroaten Dražen Erdemović wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu 10 Jahren Haft verurteilt. Er muss sich ganz schrecklich gefühlt haben. Gestanden hat er, 70 bis 100 Gefangene eigenhändig erschossen zu haben, und das würde bedeuten, dass er für je 7 bis 10 persönlich Erschossene ein volles Jahr absitzen muss. Dražen Erdemović geht in die Berufung, da er nicht gut über die Modalitäten des guilty-plea-Verfahren aufgeklärt worden ist und sich daher irrtümlicherweise der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig bekannt hat. Das ist ein Schuldtatbestand, der explizit auch Mord einschließt. Er hätte aber auch wählen können, sich „Verletzungen der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung“ schuldig gemacht zu haben. Mit der Begründung, dass Dražen Erdemović nicht korrekt und genügend über seine Rechte informiert worden sei, legt seine Verteidigung am 23. Dezember 1996 Berufung gegen dieses Urteil ein. Am 7. Oktober 1997 entscheidet die Berufungskammer, die Angelegenheit an eine neue Kammer der ersten Instanz zurückzuweisen, damit sich Dražen Erdemović für das richtige Schuldbekenntnis entscheiden kann. Im Zuge einer neuen Anhörung zieht der Ankläger den Anklagepunkt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zurück, am 14. Januar 1998 plädiert Dražen Erdemović auf schuldig im Anklagepunkt der „Verletzungen der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung“, und am 5. März 1998 lautet das Urteil der neuen Strafkammer auf 5 Jahre Gefängnisstrafe. Für jemanden, dem strafrechtliche Immunität in Aussicht gestellt war, wie dem Artikel von Renaud Girard in Le Figaro zu entnehmen ist, muss freilich sogar auch dieses unglaublich milde Urteil eine Enttäuschung sein.

Das Urteil in 2. Instanz am 5. März 1998 der Richter Florence Ndepele Mwachande Mumba, Mohamed Shahabuddeen und Wang Tieya bleibt eine interessante Lektüre, besonders die Kapitel 16 und 17: „Strafmildernde Umstände“ und „Nötigung“. Hier wird nämlich die für einen juristisch unbedarften Laien wunderliche Milde des Urteils begründet. Bei Begründungen wie dieser darf er sich allerdings weiter wundern:

Der Angeklagte ist ausgebildeter Schlosser und wurde in den Strudel der Gewalt hineingezogen, der das ehemalige Jugoslawien überflutete. Er hat sich zu pazifistischen Überzeugungen bekannt und gibt an, gegen Krieg und Nationalismus gewesen zu sein. Er gibt an, dass er der BSA (bosnisch-serbischen Armee) beitreten musste, um seine Familie zu ernähren. Im Juli 1995 war er ein einfacher Soldat in der 10. Sabotageeinheit, in der er keine Kommandoposition innehatte. Abgesehen von einer zweimonatigen Periode als Sergeant in dieser Einheit war er ein einfacher Soldat, dessen Distanz zu einer Parteinahme für irgendeine ethnische Gruppe durch die Tatsache bewiesen wird, dass er abwechselnd widerwillig Mitglied der Armee der Republik Bosnien-Herzegowina, auf die im Weiteren als „ABH“ Bezug genommen wird, des Kroatischen Verteidigunsgrates, auf den im Weiteren als „HVO“ Bezug genommen wird, und der BSA war. Die Möglichkeit, dass es sich bei ihm um einen Glücksritter (soldier of fortune) handelt, ist von keiner Seite nahe gelegt worden. (s. Quellenverzeichnis, Seitenzahl fehlt.)

In den Strudel der Gewalt hineingezogen (die Richter hüten sich davor, von Bürgerkrieg zu sprechen) hat also der „Pazifist aus Überzeugung“ Dražen Erdemović nichts Besseres zu tun, als nacheinander die Armeen aller kriegführenden Parteien auszuprobieren. Das wiederum soll aber nicht heißen, er sei ein „soldier of fortune“ gewesen. Welch ein Wort für einen Söldner, was er zweifelsohne war! Ferner akzeptieren die Richter als strafmildernden Umstand, dass Erdemović beim Massaker ein rangloser Soldat gewesen ist („a private“), nachdem er zwei Monate lang den Dienstgrad eines Sergeanten gehabt hätte. Das ganze Degradierungsepos bleibt damit schön aus dem Blickfeld. Als einfacher Soldat konnte sich Erdemović gar nicht dem Mordbefehl des Kommandanten Gojković widersetzen: „Das Gericht befindet, dass ein reelles Risiko bestand, dass der Angeklagte getötet worden wäre, hätte er den Befehl missachtet. Er äußerte seine Ansicht, aber erkannte, dass er in der Angelegenheit keine Wahl hatte: Er musste töten, oder er würde getötet werden.“ Ein weiterer strafmildernder Umstand ist der Charakter des Angeklagten. Das Strafgericht zitiert die Ansicht der Verteidigung, wonach Erdemović ein Opfer des Wirbelwinds des Krieges und ein Opfer seiner eigenen Taten sei („a victim of the whirlwind of war and a victim of his own deeds“), und man müsste ein Herz aus Stein haben, um dem nicht zuzustimmen. Ob es auch ohne Erdemović und seine Gesellen diesen „Strudel“ und diesen „Wirbelwind“ des bosnischen Bürgerkriegs gegeben hätte? Wer will das schon wissen, am wenigsten die Richter. Was aber die Richter ferner wissen, ist, dass Erdemović serbischen Zivilisten aus der Region Tuzla geholfen habe, in die Republika Srpska zu fliehen, und damit bewiesen habe, ein guter Mensch zu sein. Mit dieser Art von Hilfeleistung hat im bosnischen Bürgerkrieg auf allen Seiten manch ein guter Mensch gut verdient, das ist wahr. Hätte man ihn dabei nicht erwischt, wäre der gute Erdemović gar nicht dazu gekommen, anderswo am Krieg zu verdienen.

Was aber als strafmildernder Umstand am meisten zählt, ist die Zusammenarbeit des Angeklagten mit der Anklagebehörde. Das Lob der Richter umrankt gleichsam das Lob des Anklägers darüber:

„Die Bereitschaft des Dražen Erdemović zur Zusammenarbeit war absolut exzellent.“

Das sind Worte, die der Ankläger selten über einen Angeklagten ausgesprochen hat.

Die Richter versuchen, soweit überhaupt noch möglich, den Ankläger sogar zu übertreffen, indem sie lobend erwähnen, dass der Angeklagte auch seine Vorgesetzten und seine Mittäter identifiziert habe („his commanders and fellow executioners“). Man fragt sich bloß, wozu. Damit sie vielleicht nicht durch Zufall verhaftet und an das Tribunal ausgeliefert werden? Es ist der 7. Oktober 1998 und es ist ein Jahr her, seit der Richter Claude Jorda sich notiert hat, dass gegen die identifizierten Mittäter bald Anklage erhoben werden soll.