DIE UNZULÄSSIGE FRAGE

Aufschlussreich ist aber das Kreuzverhör des Kronzeugen Dražen Erdemović durch den Angeklagten Slobodan Milošević vor allem hinsichtlich jener Fragen, die ihm vom vorsitzenden Richter Richard May untersagt werden.

Milošević ist eine merkwürdige Aussage des Kronzeugen aufgefallen, als dieser am 5. Juli 1996 im Mladić-Karadžić-Prozess aussagte. Als er gefragt wird, wie sich die Busfahrer während der Erschießung auf der Branjevo-Farm verhalten haben, sagt Erdemović, sie seien entsetzt gewesen, weil sie dachten, dass sie ihre Insassen zum Gefangenenaustausch fahren würden. Ob es wahr ist, dass die Busfahrer gar nicht wussten, was man mit den Gefangenen vorhatte, fragt Milošević. Sie dachten, sie seien unterwegs zum Gefangenenaustausch, habe er das richtig verstanden? Erdemović kann diese Frage nicht beantworten, sagt er, das wisse er nicht. Daraufhin liest nach einigem Suchen Milošević die betreffende Stelle vor: „‚Erlauben Sie mir die Frage, Herr Erdemović, wie war die Einstellung der Busfahrer, die die Opfer zu der Pilica-Farm brachten.‘ Und Ihre Antwort, von der Sie jetzt sagen, Sie wüssten sie nicht, lautet: ‚Nun, sie (die Busfahrer, d. A.) waren entsetzt, denn ich denke, diese Leute wussten nicht, dass sie die Gefangenen zur Erschießung fahren. Sie dachten wahrscheinlich, sie würden sie zu einem Gefangenenaustausch fahren, den man ihnen versprochen hatte, wie mir dieser Mann zwischen 50 und 60 sagte, mit dem ich gesprochen habe.‘“ Das vorgetragene Zitat bringt den Kronzeugen ziemlich durcheinander und es entspinnt sich folgendes Gespräch:

Erdemović: Ja, ich habe… Jetzt haben Sie es vorgelesen. Ich sagte, dass ich mir das gedacht habe, mit Sicherheit gewusst habe ich es nicht.

Milošević: Aber Sie sagen doch selber, dass Ihrem Eindruck nach diese Leute gar nicht wussten, wohin sie die Gefangenen fahren und dass sie entsetzt waren.

Erdemović: Ja, das ist meine Meinung. Ich konnte das nicht, niemand hat mir eindeutig gesagt, „wir dachten, dass sie zum Austausch unterwegs wären“. Jene Person, die älter war als 60 Jahre, sagte mir, dass sie dachten, zu einem Austausch unterwegs zu sein. (8a, S.25224, 8b, S.349)

Daraufhin sagt Milošević ganz offen, worauf er hinaus will: Sei es nicht eigentlich so, dass die Busfahrer dachten, die Gefangenen zum Austausch zu fahren, Erdemović und seine Kameraden aber diese Busse angehalten und die Gefangenen erschossen haben?

Erdemović: Das ist nicht wahr.

Milošević: Es ist also nicht wahr, was Sie gesagt haben.

Erdemović: Nein. Das, was Sie gesagt haben, ist nicht wahr.

Milošević: Na ja, nun scheint es also so zu sein, dass diese Busfahrer wussten, dass sie die Gefangenen zur Erschießung brachten, und Sie sagen, sie wären…

Richter May: Sie bringen den Zeugen nur durcheinander. Nun, er hat Ihnen gesagt, was er gesagt hat. Wir machen mit etwas anderem weiter. (Let‘s move on to another point.) (8a, S.25225, 8b, S.350)

Die Frage, weshalb die Busfahrer entsetzt waren, bringt den Zeugen nur durcheinander, der Richter will diese Frage nicht mehr hören.

Eine weitere Frage, die der vorsitzende Richter unangebracht findet, hat mit der Verurteilung des Kronzeugen zu tun. Er sei am 26. Februar 1996 nach Jugoslawien gekommen, und schon einige Tage später habe ihn die Polizei festgenommen, und zwar wegen desselben Verbrechens, das jetzt Gegenstand seiner Aussage ist. Ob das so stimme, fragt Milošević. Der Zeuge bestätigt es. Er habe gestanden, an der Erschießung von 1200 Menschen beteiligt gewesen zu sein, wobei er ungefähr 100 persönlich erschossen habe. Ob der Zeuge dies bestätigen will. Der Zeuge tut es. Also, Herr Erdemović, bohrt Milošević weiter, es steht nicht in Frage, dass Sie persönlich 100 Menschen getötet haben und an der Erschießung von mehr als 1000 beteiligt waren, und dass sie dafür fünf Jahre Gefängnis bekommen haben. Ja, sagt Erdemović. Richter May unterbricht das Kreuzverhör und will vom Ankläger Nice wissen, wie die Anklage gegen Erdemović gelautet habe. Nice findet nicht gleich die Anklage gegen Erdemović, er meint aber, man habe ihn der „Verletzungen der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung“ angeklagt und verurteilt. Dann bekommt Milošević wieder das Wort und er fragt erneut: „Herr Erdemović, es steht also nicht in Frage, dass Sie persönlich 100 Menschen getötet haben und am Mord von mehr als 1000 beteiligt waren, nicht wahr?“ Am Gesicht von Mr. May ist abzulesen, dass der Angeklagte ihm langsam auf die Nerven geht. Er habe nie in Abrede gestellt, dies getan zu haben, antwortet der Zeuge etwas beleidigt. Und erst jetzt macht Milošević klar, worauf er hinaus will: „Wie wir aber von Herrn Nice vernommen haben, sind Sie hier der ‚Verletzung der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung‘ angeklagt worden, also nicht einmal des Mordes, nicht wahr?“ Bevor der Zeuge noch antworten kann, greift Richter May mit langsamer und irgendwie feierlicher Stimme ein: Er denke nicht, dass der Zeuge in dieser Frage behilflich sein könne. Es handle sich hier um juristische Formulierungen, sagt Richter May. (8a, S.25176, 8b, S.317) Inzwischen hat Mr. Nice die Anklageschrift von Erdemović und die Schuldvereinbarung gefunden, er werde sie Mr. May gleich vorlegen, etwas Geduld, bitte. Der Angeklagte will sich aber nicht gedulden, er will die volle Absurdität dieses Sachverhalts den Richtern klar machen: Man habe in der Person von Erdemović einen Zeugen, der gegen ihn, Milošević, gerade das als Belastendes vorbringen soll, weswegen gegen Erdemović schon in Jugoslawien ein Verfahren eingeleitet worden war! Es handle sich hier um etwas Absurdes, empört sich Milošević. Wie wage man es bloß, hier einen Zeugen zu bringen, der… Weiter kommt er nicht. Solche Ausdrücke verbiete er sich, sagt Mr. May. Wenn der Angeklagte eine Frage an den Zeugen habe, solle er sie doch stellen. Und Milošević stellt die Frage: „Also, Herr Erdemović, in Ihrer Schuldvereinbarung hat diese sogenannte Anklagebehörde, obgleich Sie selber gestehen, mehr als 100 Menschen getötet zu haben, von einer Anklage des Mordes abgesehen. Was denken Sie, aus welchem Grund?“ Die Antwort übernimmt aber wiederum Richter May, und zwar mit einem Argument, das ihm an diesem Tag mehrmals behilflich sein wird: „Es ist nicht seine Sache, auf diese Frage zu antworten. Es ist Sache der Anklage.“ (8a, S.25179, 8b, S.318) Milošević kann aber seine Entrüstung nicht bändigen: „Gut, Herr May“, sagt er, „ich denke, es ist vielleicht auch Ihre Sache, wahrscheinlich. Es ist ja so etwas von unglaublich, dass Sie mir hier einen solchen Zeugen vorsetzen, der nach einer Schuldvereinbarung…“ Nein, sagt immer noch höflich Mr. May, der Angeklagte solle sich bitte darauf beschränken, Fragen zu stellen. Gut, sagt Milošević, ereifert sich aber trotzdem noch eine Weile über das Schuldbekenntnis von Erdemović, bis er seine Frage stellt:

Milošević: Sagen Sie, wie lange waren Sie insgesamt im Gefängnis für das alles, wofür Sie angeklagt und verurteilt wurden?

Erdemović: Daran kann ich mich nicht erinnern. (8a, S.25181, 8b, S.319)

Der Zeuge weiß nicht mehr, was er bei der 10. Sabotageeinheit verdient hat, er weiß nicht mehr, weshalb Stanko Savanović auf ihn geschossen hat, und Richter May unterstützt ihn in seinem Nichtwissen, wie er nur kann. Und das kann er. Der Zeuge fühlt sich bei Richter May gut aufgehoben. Warum soll er dann auch nicht antworten, er wisse nicht mehr, wie lange er gesessen hat? Andererseits ist es auch keine richtige Frage, denn Milošević weiß genau, wie lange Erdemović gesessen hat, nämlich alles in allem dreieinhalb Jahre. Seiner Entrüstung will er sich aber trotzdem Luft machen, und auch der Welt vor Augen führen, was vor diesem Tribunal nicht alles möglich ist. Bis ihm der Richter May mit seinem schlagenden Argument endgültig Einhalt gebietet:

Milošević: Nun, gut. Ist es denn nicht jedem klar, dass Sie für diese Massenexekution fünf Jahre bekommen haben nur unter der Bedingung, andere zu belasten, nicht wahr? Das Problem ist nicht Ihre Zeugenaussage, sondern dass Sie gelogen haben.

Erdemović: Worüber denn gelogen?

Milošević: Nun, darüber, dass dies auf irgendeinen Befehl des Generalstabs der VRS getan wurde. Das ist es ja, was Sie behaupten.

Richter May: Er kann nicht darauf antworten. Der Zeuge kann darauf keine Antwort geben. (8a, S.25181f., 8b, S.320)

Ganz aufgeben will es Milošević trotzdem nicht, das ist nicht seine Art. Also versucht er ganz am Ende des Kreuzverhörs schnell noch einmal, den Zeugen zu einer Antwort zu bewegen. Richter May reagiert jedoch rasch und kategorisch:

Milošević: Ich bitte Sie, der Sie ja wissen, was Sie getan haben, wären Sie denn in Serbien oder egal vor welchem Gericht in der Welt, das Ihnen einfällt, für diesen Massenmord, den Sie hier selber gestanden haben, zu einer solchen Strafe verurteilt worden wie hier?

Richter May: Das ist keine angemessene Frage für diesen Zeugen. (8a, S.25238, 8b, S.357)

Die dritte Frage von Milošević, die Richter May mit seinem eisernen Argument für unzulässig erklärt, ist im Kern nur jene Frage, die schon einmal ein Richter an den Ankläger gestellt hatte, woraufhin ihm eine Zusage gegeben wurde, die der Richter sich notierte, auf dass sie kein leeres Wort bleibe. Der Richter hieß Claude Jorda, der Ankläger Mark Harmon und die Frage wurde am 19. November 1996 bei der Anhörung des damaligen Angeklagten Dražen Erdemović gestellt. Da fragt also sechs Jahre später der Angeklagte Slobodan Milošević den Kronzeugen Dražen Erdemović Folgendes:

Milošević: Nun gut, ist Ihnen bekannt, ob außer Ihnen noch irgendeiner der Beteiligten an diesem Verbrechen in Srebrenica zur Verantwortung gezogen wurde, ob gegen jemanden ein Verfahren eingeleitet wurde, ob jemand vor Gericht gestellt wurde, ob nach jemandem gefahndet wird?

Erdemović: Das weiß ich nicht. Ich kann nicht darüber sprechen, das… Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, wer vor Gericht zu stellen oder gegen wen gerichtlich zu verfahren ist, oder wo und wann.

Milošević: Erscheint es Ihnen nicht ganz merkwürdig, dass nur Sie allein, den die jugoslawische Polizei verhaftete…

Richter May: Es ist nicht Sache des Zeugen, auf diese Frage zu antworten. (8a, S.25215, 8b, S.342)

Das also ist die Frage, die Milošević nicht stellen und Erdemović nicht beantworten darf. Die Frage, mit der offensichtlich kein Richter mehr am „Ort der Wahrheit“ den Ankläger belästigen will und wird. Und während man aus Den Haag die Öffentlichkeit regelmäßig empören will mit dem Ruf nach Mladić und Karadžić, können Franc Kos, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Brano Gojković, Aleksandar Cvetković und Vlastimir Golijan ruhig schlafen. Keiner von ihnen soll die Geschichte des Dražen Erdemović gefährden.