Acht Täter hätten in weniger als 5 Stunden 1000 bis 1200 Gefangene erschossen, und zwar in Gruppen von 10 – schon dies allein als möglich anzunehmen, signalisiert, dass es hier gar nicht um die Ermittlung des wirklich Geschehenen geht. Mühelos haben die Richter auch der Geschichte Glauben geschenkt, Erdemović sei zu dieser Erschießung erpresst worden, und rechnen ihm diese angebliche Nötigung als strafmildernden Umstand an. Als einfacher Soldat, zu dem er degradiert worden wäre, musste also der Sergeant Erdemović dem Befehl eines einfachen Soldaten namens Brano Gojković gehorchen. Ausdrücklich bescheinigen die Richter eine zufrieden stellende Kohärenz der Geschichte des Dražen Erdemović in all ihren Varianten. Genauer besehen meinen sie damit nur seine Darstellung der Massenerschießung und lassen zugleich diese Darstellung durch keinen Einzigen der anderen sieben Täter bestätigen. Nichts darf die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte antasten, mit der die internationalen Haftbefehle gegen Mladić und Karadžić begründet werden.
Liest man allerdings aufmerksam alle zugänglichen Dokumente zum Fall Erdemović, so tritt eine höchst widersprüchliche und unglaubwürdige Geschichte zutage. Nicht einmal das Datum des Massakers ist gesichert, denn in allen Unterlagen der jugoslawischen Justiz ist immer nur vom 20. Juli 1995 die Rede. Sowohl Erdemović als auch Kremenović nennen dieses Datum nicht nur bei ihrer Vernehmung in Novi Sad, sondern auch in den Interviews mit den Journalisten Vanessa Vasic-Jenekovic und Renaud Girard. Den Den Haager Ermittlern nennt Erdemović aber ein neues Datum, den 16. Juli 1995, und seine Erklärung dafür ist keineswegs überzeugend. Ob die anderen Täter dieses Datum bestätigen würden? Das will man nicht wissen. Der Zeuge Dragan Todorović berichtet außerdem von einem Einsatz am 15. Juli 1995, den Erdemović mit keinem Wort erwähnt und der allen seinen Aussagen widerspricht, die er über diesen Tagesverlauf macht. Im ersten Urteil stellen die Richter noch fest, dass kein einziges Dokument über den Dienstrang von Erdemović Aufschluss gibt. Am 25. August 2003 präsentiert aber der Ankläger Geoffrey Nice den Kontrakt von Erdemović mit der bosnisch-serbischen Armee (VRS), in dem sein Dienstrang eines Sergeanten vermeldet ist. Unbestätigt und widerspruchsvoll bleibt nur, was Erdemović über seine Degradierung erzählt. Soviel zu der Kohärenz, die Richter und Ankläger seiner Geschichte bescheinigen.
Daher sei schließlich eine kurze Gegengeschichte erlaubt. Der bosnische Kroate Dražen Erdemović zieht 1992 in den Bürgerkrieg. Den Einberufungsbefehl der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) lehnt er ab und im Juli 1992 wählt er zunächst die bosnisch-muslimische Armee (ABiH), wo er in einer Mortiereinheit dient. Im Oktober 1992 setzt er sich von dieser Armee in die bosnisch-kroatische Armee (HVO) ab, wo er als Militärpolizist nicht mehr an der Front steht und ihm bessere Bedingungen angeboten werden. Als Militärpolizist hat er auch die Gelegenheit, einen guten Nebenverdienst zu betreiben, indem er serbische Zivilisten aus dem von Muslimen und Kroaten kontrollierten Teil in den serbischen Teil Bosniens schleust. Das werden ihm die Richter später auch als strafmildernden Umstand anerkennen. Er habe nämlich bei jeder Gelegenheit Menschen „geholfen“. Leider wird er bei diesem „Menschenhandel“ von seinen Vorgesetzten erwischt und kommt in Untersuchungshaft. Eine kurzfristige Entlassung benutzt er, um im November 1993 mit seiner serbischen Frau in die Republika Srpska zu fliehen, wo er sich nach einigem Umherirren der bosnisch-serbischen Armee (VRS) anbietet. Im April 1994 wird er einer kleinen Söldnereinheit zugeordnet, die in Bijeljina ein gewisser Zoran Manojlović eingerichtet hat. Zusammengesetzt aus Kroaten, Muslimen und einem Slowenen führt diese Einheit aus erfahrenen und ortskundigen Söldnern im Auftrag des Generalstabs der VRS Sabotageakte im feindlichen Hinterland aus. Was man dabei verdient hat, ist unklar. Unbestätigten Behauptungen zufolge wurde man per Einsatz bezahlt, wobei der Betrag zwischen 2.000 und 4.000 DM variieren konnte, abhängig von Dauer und Schwierigkeit des Einsatzes.35 Mit dem Einzug mehrerer Serben wächst diese Sabotageeinheit im Oktober 1994 zu der Zahlenstärke einer Kompanie an, und ihr Kommando übernimmt Leutnant Milorad Pelemiš. Am 1. Februar 1995 bekommen alle einen offiziellen Kontrakt mit der VRS. Aus dem Kontrakt des Dražen Erdemović ist ersichtlich, dass er den Dienstrang eines Sergeanten und die Funktion eines Vodniks, d.h. eines Gruppenkommandanten erhalten hat. Seine angebliche Degradierung ist nichts als eine Entlastungsgeschichte, mit der Erdemović später glaubhaft machen will, er habe bei der Erschießung der Gefangenen als rangloser Soldat im Notstand gehandelt.
Einige Tage nach der Einnahme von Srebrenica gibt es mehrere Massenerschießungen von muslimischen Gefangenen. Die Truppe, die am 16. Juli 1995 die Erschießung auf der Branjevo-Farm durchgeführt haben soll, besteht aus Söldnern, die sich für diesen Job freiwillig gemeldet haben. Die militärische Rangordnung ist aufgehoben, offiziell hat man sogar dienstfrei, und man erschießt die Gefangenen, weil man vermutlich dafür bezahlt wird. Von einem Notstand für den Sergeanten Dražen Erdemović unter dem angeblichen Kommando des ranglosen Soldaten Brano Gojković kann keine Rede sein. Dennoch habe Erdemović einen weiteren Erschießungsauftrag verweigert, der direkt von einem mysteriösen Oberstleutnant gekommen wäre. Erdemović hätte zu diesem höheren Offizier einfach „nein“ gesagt, er wolle das nicht mehr, und habe sich hingesetzt. Der Oberstleutnant hätte ihn dann sitzen lassen, und die Erschießung der Gefangenen im Pilica-Kulturhaus anderen überlassen.
Einige Tage nach diesem Massaker kommt es zwischen einigen Söldnern in einer Nachtbar in Bijeljina zu einer Schießerei. Erdemović stellt sie als einen von Salapura und Pelemiš beauftragten Mordanschlag gegen seine Person dar, damit er nicht in Den Haag gegen sie aussage. Wahrscheinlicher ist, dass sich bei der Bezahlung des Massakers manche übergangen oder betrogen fühlten und dass man in der Hitze der Streiterei in besoffenem Zustand die Pistole gezogen hat. Die Gerüchte, es seien 12 Kilogramm Gold und große Geldsummen in Zusammenhang mit den Srebrenica-Morden verteilt worden, tauchen mehrmals in der Geschichte des Dražen Erdemović auf, wobei er behauptet, selbst nichts bekommen zu haben. Schwer verwundet und bedrängt, hat Erdemović irgendwann beschlossen, sich dem Jugoslawien-Tribunal als Zeuge anzubieten, nachdem er vom Zeugenschutzprogramm des Tribunals erfahren hat. Ob er tatsächlich bereits eine Zusage für strafrechtliche Immunität erhalten hat, wie Renaud Girard berichtet, wissen wir nicht. Er muss es ihm aber erzählt haben, denn warum sollte Renaud Girard sich dies aus dem Daumen gesogen haben. Die Praxis, Belastungszeugen strafrechtliche Immunität zu verleihen, gibt es beim Tribunal allemal. Damit hat auch Erdemović gerechnet. Dass ihm die Rechnung nicht ganz aufgegangen ist, hat einfach damit zu tun, dass er von der jugoslawischen Polizei festgenommen worden war und dass die jugoslawische Justiz ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet hatte, bevor er sich dem Tribunal hatte stellen können, um dort als einer der vielen anonymen und straffreien Belastungszeugen Verwendung zu finden. Daher musste man ihn anklagen und für 70 bis 100 gestandene Morde ganze dreieinhalb Jahre in einer norwegischen Zelle darben lassen.
35Die einzige Quelle dazu bietet die Zeitschrift Bosnia Report, herausgegeben vom Londoner „Bosnian Institute“. Im Heft September-November 2005 veröffentlicht diese Zeitschrift unter dem Titel „Mladić’s monster finally talks“ ein Gespräch mit einem anonymen Söldner, hinter dem man Zijad Žigić alias Živko Micić vermuten kann. Seine Darstellung ist allerdings mit großer Vorsicht zu genießen, denn in vielen Details ist sie evident unwahr.