Seit einer Weile gibt es wieder Strom. Gleichzeitig hat es angefangen zu regnen, und ich habe alles, was ich eigentlich erledigen wollte, erst mal sein lassen. Die Melancholie der Regennacht lässt mich in angenehmer Antriebslosigkeit versinken, aus der mich nicht einmal die Aussicht auf etwas Süßes und Gehaltvolles, zum Beispiel eine Schokoladentorte mit Walnüssen, herauslocken kann. In Gedanken stelle ich mir zwar vor, ich würde losgehen, um die eine oder andere Leckerei zu besorgen, aber es bleibt bei dem Gedanken, Schläfrigkeit befällt mich, und ich sacke immer tiefer in meinem Sessel zusammen, bis ich bloß noch dem Geräusch der Regentropfen lausche, die an die Scheiben trommeln. Es beruhigt mich, schwemmt meinen Willen weg, so wird das Leben geradezu erträglich, ich träume vor mich hin, bis in meinem Hirn völlige Leere herrscht und mein Ich nicht mehr in meinem Körper eingeschlossen ist.
Da durchqueren die Absätze der Frau, die über mir wohnt, die Decke über meinem Kopf.
Tack, tack, tack.
Tack, tack, tack.
Sie ist gerade nach Hause gekommen, diesmal jedoch nicht allein, das Klappern ihrer Absätze wird von lautem Gelächter und angeregten Stimmen begleitet. Der Lärm bereitet meinem friedlichen Dämmer ein Ende. Jetzt stellen sie auch noch Musik an, und mein Bewusstsein wird aus dem so angenehmen Nichts gerissen, in das ich es hatte gleiten lassen.
Aber wer ist heute schon noch Herr seines Bewusstseins?
Tack, tack, tack.
Tack, tack, tack.
Noch mehr lachende Stimmen. Wie viele sind das da oben? Offenbar eine ziemliche Menge.
Ich halte mir die Ohren zu, flüchte in mein Schlafzimmer und bleibe doch eine Gefangene, gefangen in meiner eigenen Wohnung und umfangen vom Radau über mir.
In meiner Verzweiflung suche ich mir eine Beschäftigung, hole Schachteln hervor, krame darin herum, entnehme ihnen Fotos, die ich mir ansehe und dann auf einen Haufen lege. Das Bild eines Hügels versetzt mich an einen heißen Mittag zurück, ich sehe mich selbst beim Fahrradfahren mit längst entschwundenen Freunden, ein kleines Haus in einem Garten, Fenster, Tür, Fenster, Schieferdach und Trauerweide, auf der Schwelle meine Mutter und ich, sie hält eine Decke oder ein Handtuch, als hätte der Fotograf sie bei der Hausarbeit überrascht, ich habe einen Badeanzug an, als würde ich gleich schwimmen gehen oder käme gerade vom Strand zurück, ich weiß aber, dass wir nie an den Strand gingen, weil Mama damals schon krank war. Und hier noch ein Foto, ein Wäldchen, eine Hängematte, Papa und ich.
Dieser Lärm, ständig macht hier irgendwer Krach. Als hätten meine Nachbarn panische Angst vor der Stille.
Ich habe nur wenige Fotos, auf denen ich mit meinem Vater zu sehen bin, auch Fotos von ihm allein besitze ich kaum. Er war der Fotograf, ihm fiel die Aufgabe zu, unser Bild und die Orte, die wir aufsuchten, für die Ewigkeit festzuhalten, er entschied, was aufgezeichnet wurde, und hinterließ so gut wie keine Aufzeichnungen von sich selbst. Ich besitze Schachteln über Schachteln, die Zeugnis von unseren Reisen, Geburtstagen, Weihnachtsfesten ablegen, detaillierte Belege einer Vergangenheit, deren Hauptfigur jedoch ausgeblendet ist. Und auch in meinem Gedächtnis hat sich bloß ein verwischtes Abbild deines Gesichts erhalten, Papa, schließlich befördert die Zeit mehr das Vergessen als das Erinnern. Jetzt breite ich mehrere Fotos wie einen Fächer vor mir auf dem Bett aus.
Die donnernde Musik von oben lässt das vergilbte Papier erzittern. Peng, peng, peng, hallen Schüsse aus einem Film im ganzen Gebäude wider. Kinder heulen, Hunde bellen, Angstschreie aus einem Fernseher, wie soll ich da arbeiten, nachdenken, leben?
Jetzt konzentriere dich, Ursula, hier ist tatsächlich mal ein Bild von Papa, ein Wäldchen, eine Hängematte, ich bin sechs Jahre alt, meine Schwester vier, und unser Vater ist jung und schlank, hat einen dünnen Schnurrbart wie ein Hollywoodstar und trägt Shorts und leichte Slipper. Alle drei sehen wir zufrieden aus. Keine Ahnung, wie das Bild entstanden ist – wo war Mama? Hat sie das Foto gemacht?
Jedenfalls bleibt dies eines der ganz wenigen Fotos, die mein Vater mir von sich hinterlassen hat. Andererseits habe ich alles, was ich habe, von ihm – meine Ängste und Vorurteile, die Sanftheit und die Gewalttätigkeit, die Form meiner Nase, die Blutgruppe, die Liebe zur Altstadt von Montevideo, diese Wohnung und die Möbel darin. Die Sprache, die ich spreche, habe ich auch von ihm, und die andere Sprache noch dazu, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdiene, indem ich von der einen in die andere übersetze. Fast alles, was ich hasse, hat auch er gehasst, und meinen Hass auf ihn habe ich ebenfalls ihm zu verdanken. Ich denke fast nie bewusst an ihn, aber sobald ich eins seiner Bücher aus dem Regal nehme oder das Fleisch kaufe, das er gerne aß, oder im Wartezimmer des Zahnarzts sitze, zu dem er immer ging, bin ich bei ihm, und er ist bei mir. Alles, was ich habe, habe ich von ihm, er hat mich auf diese Reise ohne Rückkehr geschickt, die bloß eine Verlängerung seines Lebens ist. Bei diesen Gedanken wird die Vergangenheit für mich zum Labyrinth, in dem ich stunden- und tagelang umherirren kann. Dabei starre ich auf die Postkarten, die er uns schickte, höre die Musik, die er immer hörte, trinke die Kaffeesorte, die er immer trank, und wandere ziellos durch diese Wohnung, von deren Wänden mich die Vergangenheit anblickt und mit jedem Atemzug in mich eindringt. Und ich überlege, dass wir Lebenden nur das haben, was die Toten uns überlassen wollten.
Die Musik wird lauter, die Schreie ausgelassener, auch alles Übrige nimmt an Intensität zu. Vielleicht sehen die da oben inzwischen einen Film, bei dem ein Mörder grausam seine Opfer zerstückelt, vielleicht werden sie auch selbst von irgendwem zerstückelt. Nein, so gut meint es das Leben nicht mit mir, da oben wird niemand umgebracht, die sehen bloß fern und lachen dabei, hemmungslos, und das um diese Uhrzeit.
Vergiss den Lärm, Ursula, und konzentriere dich auf deine Angelegenheiten, lass dich bloß nicht aus der Ruhe bringen. Ich nehme das nächste Foto aus der Schachtel, inzwischen bin ich allerdings ganz schön geladen. Meine Eltern bei ihrer Hochzeit, zusammen mit ihren eigenen Eltern. Dann kommt ein Foto meiner Großmutter Ramona im Kreis ihrer Töchter, Tante Irene, Tante Irma und meine Mutter, alle festlich gekleidet, als wollten sie in die Oper gehen, meine Mutter hält jedoch einen Säugling im Arm, bei dem es sich nur um mich handeln kann. Auf dem nächsten Foto steht meine Großmutter sehr aufrecht und sehr elegant mit ihren Ohrringen und den Ringen an den Fingern und der Brosche an der Brust neben meinem Großvater Máximo, der eine Brille aus Metall trägt. Das Hemd hängt ihm ein wenig zwischen den Hosenträgern aus dem Bund, das lange Haar ist wirr und ungekämmt, meine Großmutter lächelt, während er feierlich dreinblickt. In der Wirklichkeit war es genau andersrum, als ob das Foto ein Spiegel wäre, der die Dinge seitenverkehrt wiedergibt. Dann ein Foto, auf dem meine Mutter hier in diesem Zimmer sitzt, in dem Sessel, in dem ich gerade sitze, sie ist bereits krank, und man sieht ihr an, dass sie weiß, dass keine Hoffnung für sie besteht. Trotz der Schminke und der eleganten Frisur fallen vor allem die tiefen Ringe unter ihren Augen auf. Sie hält ihre Töchter an den Händen, die offensichtlich wissen, dass sie bald Waisen sein werden. Alle drei sehen mich von dem vergilbten Foto aus an, aus einer Vergangenheit, an die ich mich kaum erinnere, und aus der nur der Sessel unverändert hervorgegangen ist.
Und dann Irene, meine Tante Irene, die liebe Tante Irene, die mir so nahe war und unversehens meine Stiefmutter wurde. Verflucht seist du, Tante Irene, wo auch immer du bist, hoffentlich in der Hölle. Hoffentlich brät der Teufel dich dort über seinem Rost schön goldbraun, vorausgesetzt, den Teufel und die Hölle gibt es. Aber nein, so was glauben ja nur Kinder, du, meine geliebte Tante Irene, befindest dich im Abgrund des Nichts, das weiß ich, in der erbarmungslosen Weite der Ewigkeit, in der Leere des Nichtseins, und bist unwiderruflich tot.
Vor einer Weile ist es dunkel geworden. Es regnet immer noch, oder vielmehr schüttet es inzwischen nur so. Die Nachbarn hatten endlich ein Einsehen und geben Ruhe, oder sie sind einfach eingeschlafen. Die Fotos liegen weiterhin über das Bett verstreut, ich betrachte die Gesichter der Toten, und sie sehen mich an. Ihre Augen, die Augen von Menschen, die nicht mehr existieren, rufen mir in Erinnerung, dass sie einst gelebt haben, sie flehen mich an, sie nicht zu vergessen, erst wenn ich nicht mehr an sie denke, hören sie auf zu existieren, sagen sie. Der wahre Tod ist das Vergessen – wer hat das noch mal gesagt? Noch so eine kitschige Weisheit. Ich sehe sie an, betrachte die Fotos, und habe den beunruhigenden Eindruck, sie nie richtig gekannt zu haben, nie gewusst zu haben, wer sie in Wirklichkeit sind, wie sie waren, wenn die Leidenschaft oder das Elend sie mitriss, was ihre dunklen Seiten waren, wer sie waren, als sie noch nicht meine Eltern und meine Großeltern und meine Tante waren.
Ich sehe mich um: Hier gibt es bloß noch Schatten, von diesem Theater ist nur mehr das Bühnenbild übrig. Es ist schon nach Mitternacht, da kehren die Nachbarin aus der Wohnung über mir und ihre Freunde zurück – woher auch immer – und machen jetzt erst recht Krach. Mit meiner Konzentration ist es vorbei, ich kann keinen einzigen vernünftigen Gedanken mehr fassen.
Aber wer ist heute schon noch Herr seines Bewusstseins?
Ich greife zum Telefonhörer und rufe bei der Polizei an, melde den Lärm und nehme ein Schlafmittel, dann für alle Fälle gleich noch eins. Danach versinke ich wie tot im Nichts des chemischen Traums.