Eine Zigarette verbreitet ihren Rauch in meinem Wohnzimmer.
Gehalten wird sie von einer zarten Hand – feingliedrige Finger, lange gepflegte und in einem perlmuttfarbenen Ton lackierte Nägel, mehrere Brillantringe, allerdings nicht zu viele, drei oder vier, wie es ihrer Besitzerin angemessen scheint. Die Hand gehört zu einem schlanken wohlgeformten leicht muskulösen und braun gebrannten Arm, und der Arm zu einem ebenso stilvollen und eleganten Körper wie die Hände – schmale Taille, feste Hüften, flacher Bauch, zwei Beine, wie sie nur jemand besitzen kann, der mindestens drei Mal pro Woche ins Fitnessstudio geht, und ein Paar Brüste, die ihre ein wenig übertriebene Festigkeit womöglich einer Operation verdanken. Am Hals hängt ein teures minimalistisches Designerschmuckstück, und der Kopf dazu präsentiert sich mit für eine Vierzigjährige ziemlich straffer Gesichtshaut, mandelförmigen Augen, einer dünnen Schicht Schminke und üppigem dunklem, seidigem, langem, vielfach gewelltem Haar. Die Zigarette wandert in regelmäßigen Abständen zwischen die vollen, im selben Perlmuttton wie die Fingernägel geschminkten Lippen.
Manchmal würde ich die Frau, die gerade in meinem Wohnzimmer sitzt, am liebsten erwürgen, ihr die Kehle zudrücken, bis ihr Gesicht so blau anläuft wie ihre Augen, immer weiter drücken und zusehen, wie sie nach Luft ringt, stöhnt, und ihr der Sabber über die perlmuttfarbenen Lippen rinnt.
Vergiss es – noch so ein Wunsch der Kategorie »unerfüllbar«.
»Beeilst du dich, Ursula? Um halb neun muss ich im Fitnessstudio sein.«
»Alles fertig, ich habe sehr früh gefrühstückt, weil ich heute Vormittag zum Arzt muss.«
»Der Kaffee ist aber frisch gebrüht, oder?«
Meine Schwester Luz trinkt Kaffee nur »frisch gebrüht«, man darf ihn also erst aufsetzen, wenn sie gerade eingetroffen ist.
»Ja, das heißt, vor einer halben Stunde. Dein Parfüm riecht übrigens nach Bitterorange und Vetiver.«
»Ja? Keine Ahnung, es ist von Ralph Lauren. Los, beeil dich, bitte.«
Luz hat es immer eilig, ständig hat sie tausend Dinge zu erledigen, wofür die vierundzwanzig Stunden des Tages nie ausreichen. Sie arbeitet nicht und führt auch keinen Haushalt, ihre einzige Beschäftigung ist eine Sammlung von Rosen mit allen möglichen exotischen Namen, die eine Gärtnerfirma in ihrem Garten pflegt und mithilfe einer Berieselungsanlage gleichmäßig feucht hält. Ihren riesigen SUV fährt sie selbst und beeilt sich, um jederzeit wo auch immer zu spät einzutreffen.
Ich höre ihr von der Küche aus zu: Nach dem Fitnessstudio geht sie zu einem Hydrokulturkurs, und in ein paar Tagen verreist sie, der Name des Ortes sagt mir nichts, irgendwas in den Anden, zu einer Blumenausstellung mit ganz besonderen Rosen, die lateinischen Bezeichnungen sagen mir erst recht nichts, die Sache mit den Rosen scheint sie jedenfalls noch stärker zu begeistern als alles, wofür sie sich ohnehin schon begeistert.
Ich stelle zwei Tassen und den Süßstoff aufs Tablett und lege Servietten dazu. Dann gehe ich ins Wohnzimmer, wo sie weiterhin ihre lateinischen Fachbegriffe aufsagt. »Sei still, bitte, Luz. Am liebsten würde ich dir das Tablett an den Kopf schmeißen, was für ein Genuss wäre es, zuzusehen, wie dir der Kaffee über das weiße T-Shirt und die helle Hose und zwischen die perlmuttfarben lackierten Zehennägel läuft!«
»Hier, meine Liebe.«
»Hast du keinen anderen Süßstoff?«
»Warum?«
»Der hier enthält Aspartam, das ist krebserregend.«
»Wusste ich nicht.«
»Hast du keinen anderen?«
Ich sage Nein, und sie nimmt sich mehrere Tabletten, rührt den Krebs von morgen in ihren Kaffee von heute, führt die Tasse an den Mund und trinkt von dem Gemisch.
»Morgen ist Tante Irenes Geburtstag«, sagt sie.
»Ja, stimmt. Gehst du zum Friedhof?«
»Ich bin gestern schon hin und habe mich um das Grab gekümmert, ich habe dafür gesorgt, dass es gereinigt und die Bronze poliert wird, und das Unkraut habe ich auch wegmachen lassen. Du warst offensichtlich schon lange nicht mehr dort.«
»Du kennst meine Meinung zu dem Thema.«
»Nein, sag doch mal.«
»Das ist die reinste Nekrophilie.«
»Kann sein, aber mir passt das so. Manchmal glaube ich, ich tue das alles Mama und Papa und Tante Irene zuliebe, manchmal sage ich mir aber auch, dass ich das nur für mich mache, damit ich mit meinem Gewissen im Reinen bin.«
Glücklich, wer mit seinem Gewissen im Reinen ist, nur weil er ein paar Blumen in eine Vase steckt! Ich dagegen habe kein Gewissen, weder ein gutes noch ein schlechtes, und ich habe auch keine Rechnungen mit irgendwelchen Toten zu begleichen, ich schulde ihnen nichts, und sie mir auch nicht. Wir sind quitt, meine geliebten Toten, ihr könnt für immer und ewig in der Hölle schmoren.
»Es war so schrecklich, ich habe es bis heute nicht richtig überwunden. Hast du keine Albträume?«
»Nein, von diesem Tag erinnere ich nichts, das habe ich dir schon oft gesagt. Und ich habe auch keine Träume, weder gute noch schlechte«, sage ich und bereue meine Lüge sofort: »Na ja, manchmal vielleicht.«
»Hast du was von Ricardo gehört?«
»Der muss im Gefängnis sein, wahrscheinlich noch ziemlich lange. Schließlich haben sie ihn wegen Mord verurteilt.«
»Und Mirta, hast du die gesehen? Hat sie sich mal bei dir gemeldet?«
»Auch nicht. Nachdem wir ihr den letzten Lohn und die Abfindung bezahlt haben, ist sie verschwunden. Kurz vor dem Sommer war das, nach den letzten Gerichtsterminen. Mir hat sie erzählt, sie geht nach Punta del Este, weil sie da einen neuen Job hat. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich habe aber auch nichts anderes erwartet, sie dürfte keine allzu große Lust haben, den Leuten über den Weg zu laufen, die sie an die Geschichte erinnern.«
»Eigentlich tut sie mir leid. Zehn Jahre hat sie mit Tante Irene unter einem Dach gelebt, und dann ist das alles schlagartig auf solche Weise zu Ende gegangen.«
Ich nutze die eintretende Stille, um ein paar Flusen von der Armlehne meines Sessels zu zupfen. Alles, was Luz von sich gibt, macht mich rasend. Seit wann ist das so? Ich erinnere mich gerührt an unsere Kinderzeit, da waren wir unzertrennlich. Der Hass muss später gekommen sein.
Luz raucht und trinkt Kaffee. Das Schweigen zieht sich ungewöhnlich in die Länge.
»Woran denkst du?«
»An den Ring, den Irene von ihrer Großmutter geerbt hatte, der ist doch damals verschwunden, weißt du noch? Komisch, dass er nicht bei Ricardos Sachen war.«
»Darüber haben wir schon tausend Mal geredet, Luz, ständig kommst du mit diesem Ring! Der ist nicht verschwunden, ich nehme an, er hat ihn gleich nach der Tat verkauft. Er war ziemlich viel wert.«
»So schnell? Sie haben ihn doch schon zwei Stunden nach dem Mord verhaftet.«
»Was weiß ich, vielleicht hat er ihn gegen Drogen eingetauscht, oder er hat ihn weggeworfen, als er gesehen hat, dass die Polizei kommt.«
»Er hat jedenfalls nie zugegeben, dass er ihn gestohlen hat, das hat mir der mit dem Fall beauftragte Kommissar gesagt.«
»Er hat auch den Mord nie gestanden, wenn du so willst.«
»Stimmt, hat er auch nicht. Wären da nicht die Spuren gewesen …«
Wir verstummen.
»Und, wie gehts Daniel?«, frage ich schließlich.
»Wie immer, er ist sehr beschäftigt, ständig am Arbeiten und Reisen.«
»Spielt er noch Schach?«
»Ja, das ist ja seine große Leidenschaft, gleich nach der Arbeit.«
»Grüß ihn von mir.«
»Du musst mal wieder zu uns kommen, dann grillen wir. Wie wäre es mit morgen?«
»Gut, einverstanden. Danach muss ich aber noch zum Fernsehen, arbeiten.«
»Prima, dann also morgen. Warst du eigentlich auf der Hochzeit von Rocíos Tochter? Ich konnte nicht. Sie soll wunderschön ausgesehen haben.«
Schon seit Längerem unterhalten meine Schwester und ich uns nur noch auf diese idiotische Art und Weise. »Wie gehts dem und dem? Letzte Nacht war es vielleicht heiß! Bestimmt gibts heute ein Gewitter.«
Ich sehe sie an – ob so ein zierliches Persönchen wie sie wohl imstande wäre, auf jemanden zu schießen? Könnte sie den schlanken und doch muskulösen Arm heben, auf ein lebendiges Gegenüber anlegen und abdrücken – peng, peng, peng? Selbst wenn sie dazu fähig wäre, würde ich es niemals erfahren, keinesfalls würde sie von sich aus etwas zugeben, was ihre sorgsam gestylte Erscheinung infrage stellt. Weshalb wir weiter über das Wetter reden und neue Fernsehserien oder die Hochzeitsparty der Tochter von Rocío Borges auf deren luxuriösem Landsitz. Dabei ist Luz kein bisschen dumm, und ich auch nicht, wir haben uns bloß irgendwann auf dieses triviale Ritual eingelassen und können seitdem nicht mehr damit aufhören. Aber ist es tatsächlich so trivial? Manchmal glaube ich, parallel zu unseren banalen Gesprächen verläuft ein unterirdischer Strom, der sich gelegentlich in Gestalt seltsamer Grimassen, einer plötzlichen Verhärtung unserer Stimmen oder unüberhörbarem Sarkasmus Bahn bricht und an der Oberfläche erscheint. Insgeheim führen wir einen unerklärten Kampf, warum, kann ich nicht genau sagen, aber er findet statt. Ich frage mich, ob auch sie das empfindet, ob auch ihr die Trennwand zu schaffen macht, die zwischen uns entstanden ist. Wann hat das angefangen, wann haben wir uns in unsere Festungen zurückgezogen, seit wann verbergen wir unsere wahren Gedanken hinter leerem Geschwätz? Vielleicht war der Auslöser ja der Tod von Tante Irene.
Der Tod, dieses düstere Wunder – ein Mensch geht in Gedanken versunken die Straße entlang, und im nächsten Augenblick ist er bloß noch ein lebloser Gegenstand, ein kaltes leeres Nichts. Die arme liebe Tante Irene, ein Jahr, sieben Monate und zwölf Tage ist es jetzt her, dass sie ermordet worden ist, seitdem liegt sie als lebloser Gegenstand in einem mit Granitplatten bedeckten Betonverlies, einem Pantheon, umgeben von Blumen, die Luz hin und wieder dort hinbringt. Ihr Körper ist längst verfault, die Würmer haben sich an ihm geweidet, ihn bis auf die Knochen abgenagt, die zuletzt zu Staub zerfallen werden.
Das bist du jetzt also, arme Tante, weniger als nichts.
»Warum gehst du zum Arzt?«
»Nichts Besonderes, Routineuntersuchung. Und du, wann verreist du?«
»In vier Tagen und acht Stunden.«
»Wie lange bist du weg?«
»Eine Woche, ich fahre nach La Paz. Soll ich dich mit dem Auto zum Arzt bringen?«
»Nein, nicht nötig, ich muss vorher noch andere Sachen erledigen.«
»Ich würde ihr ja gerne ein paar Fragen stellen«, sagt Luz unvermittelt.
»Wem?«
»Mirta.«
»Hast du vor, in irgendwelchen alten Geheimnissen rumzuwühlen? Willst du ein Verbrechen aufklären, das längst aufgeklärt ist?«
Ich habe den Eindruck, sie sieht zu viel fern, beschäftigt sich mit zu vielen ungelösten Fällen.
»Nein. Der Mörder sitzt im Gefängnis, da gibt es nichts mehr aufzuklären. Aber ich hätte sie damals trotzdem gerne ein paar Sachen gefragt, ich bin bloß nicht dazu gekommen.«
»Lass die Dinge, wie sie sind. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass dein Parfüm nach Vetiver und Bitterorange riecht?«
»Ja, hast du.«
Meine Schwester gibt mir einen Kuss und bricht hastig auf.