Nous ne sommes pas de ce monde
ne sommes pas de ce pays
sommes pas de ce village
pas de cette rue
Ich sitze am Computer und arbeite, übersetze, versuche, eine Sprache ungehindert und ohne den Sinn oder die Empfindungen, die die Worte auslösen, zu verändern, in eine andere gelangen zu lassen. Gelingt mir das? Manchmal ja, dann aber habe ich wieder das Gefühl, dass mich die Inspiration verlässt, so wie jetzt, und mein Geist abschweift, davonfliegt wie ein Vogel, wie ein vertrocknetes Blatt, das sich dem Wind hingibt. Ich bin einfach nicht immer Herr meines Bewusstseins, sage ich mir.
Heute ist der 10. April, dein Geburtstag, Irene, dein Geburtstag, wenn du immer noch Geburtstag feiern würdest. Wärst du noch am Leben, würdest du heute fünfundsechzig. Wie oft haben wir zusammen Geburtstag gefeiert? Ich erinnere mich noch an die vornehmen Empfänge in deinem makellos weißen, lichtdurchfluteten Haus mit den Bauhaus-Möbeln und eleganten amerikanischen Gemälden, »Neue Figuration«, wie du lässig erklärtest. Du selbst warst nicht weniger elegant, wenn du ganz im Stil von Jackie Kennedy an der Tür standst und die Gäste empfingst, schlank und wohlkalkuliert schlicht gekleidet, in der Hand einen raffinierten Drink.
An meine Geburtstage und an die meiner Schwester erinnere ich mich auch, stinknormale Kindergeburtstage, bei denen es laut und ordinär zuging, Luftballons und Geschrei, platt gedrückte Sandwiches, lebensmittelchemiebunte Torten und klebrige Limonadeflecken auf dem Boden.
»Und, was sagt man da zu Tante Irene?«
Während ich das Papier zerriss, fragte ich mich, wie ich mich bei dir für etwas bedanken solle, was ich noch gar nicht gesehen hatte und wovon ich nicht wusste, ob es mir überhaupt gefallen würde. Die Benimmregeln meines Vaters nahmen weder auf solche Bedenken Rücksicht noch auf Folgerichtigkeit. Wichtig war bloß, dass ich im vorgesehenen Augenblick das erwünschte Wort zu dir sagte, die Losung, die es mir wie die Zauberformel Sesam-öffne-dich erlauben würde, mich weiter an dem goldfarbenen Geschenkpapier und den Satinschleifen zu schaffen zu machen. Wenn ich das Geschenk dann endlich von seiner Verpackung befreit hatte und gierig wie Pandora ihre Büchse mit angehaltenem Atem und ohne zu blinzeln die Schachtel öffnete, kam für gewöhnlich ein mal längeres, mal kürzeres, mal besticktes, mal mit Spitzen besetztes Seiden- oder Satinnachthemd daraus hervor. Und wenn ich das weiche, luxuriöse und völlig unpassende Stück dann in der Hand hielt, bereute ich innerlich tausend Mal den gerade erst ausgesprochenen Dank.
»Wie schön, Ursula liebt Nachthemden«, sagte Papa, wenn sich mein Schweigen allzu sehr in die Länge zog.
»Ich habe es eine Nummer größer genommen, in der letzten Zeit wächst sie ziemlich, oder? Sie sieht bestimmt entzückend darin aus.«
Dann schlosst ihr beiden euch in Papas Arbeitszimmer ein, um Rechnungen durchzusehen, und mir fiel die Aufgabe zu, einen wolkigen Berg Seidenpapier und einen Pappkarton zu entsorgen, der die Leiche eines Nachthemds beherbergt hatte.
Eine Zeit lang schenktest du mir dann immer Bücher, was großartig hätte sein können, las ich damals doch so gut wie alles, was mir in die Hände fiel. Du hast es aber geschafft, jedes Mal irgendwelche dicken Wälzer über Orchideen oder vom Aussterben bedrohte Tierarten Nordozeaniens anzuschleppen, die ich nach kurzem Durchblättern unter deiner Aufsicht in eins der Regalfächer stellte, die für meine Bücher vorgesehen waren, um es nie wieder hervorzuholen. Erst neulich stieß ich auf eine Kiste mit all diesen Schinken und bemerkte zum ersten Mal, dass das Orchideenbuch eine Widmung von dir enthält. In deiner fließenden und formvollendeten Schrift steht dort: »Meiner wunderschönen kleinen Grammatophyllum Speciosum. In Liebe, Tante Irene.« Die lateinische Bezeichnung sagte mir nichts, als ich sie jedoch mithilfe des Registers nachgeschlagen hatte, wusste ich Bescheid: »Grammatophyllum Speciosum, auch unter dem Namen Tiger-Orchidee bekannt. Die größte Orchideenart der Welt. Einzelne Exemplare können mehrere Meter hoch und bis zu einer Tonne schwer werden.« Touché, liebe Tante, auch nach dem Tod bist du noch imstande, zielsicher zuzustoßen.
Ich sags doch:
Nous ne sommes pas de ce monde
ne sommes pas de ce pays
Aber wie hat das alles angefangen? Das frage ich mich immer wieder.
Am Anfang stand dein ästhetisches Credo. Ich entwickelte mich, du starrtest mich von der gegenüberliegenden Tischseite aus mit aufgerissenen Augen an, wandtest dich dann Papa zu und flüstertest ihm etwas ins Ohr, woraufhin er den Inhalt eines der bereits auf dem Tisch stehenden Schälchen mit Eis in den Behälter zurückgab. Während alle Übrigen anschließend ihr Sorbet verzehrten, saß ich ohne Schälchen da und spürte, wie die Nähte meines gelben Oberteils platzten, der Bund meiner Jeans sich öffnete, mein Wollpullover sich über den Brüsten dehnte, die Blusenknöpfe absprangen, die Arme anschwollen und den Jackenstoff sprengten, bis zuletzt der Bauch triumphierend aus dem zerrissenen Rock quoll. Die schlanke schöne Luz dagegen erfüllte die Erwartungen der Familie und schlürfte ihr Eis mit der Seelenruhe, die der Gehorsam einem verleiht.
Jahre später hielt ich meinem Vater bei einem besonders heftigen Streit vor, dass er, was die Geschenke und die Essverbote anging, die ganze Zeit dein Komplize gewesen sei und meine ständigen Demütigungen mit verschuldet habe. Er bestritt, dass böse Absicht im Spiel gewesen sei, weder er noch du seien in irgendeiner Weise verantwortlich, sein Rechtfertigungsversuch fiel jedoch für seine Verhältnisse ungewohnt leidenschaftslos und gleichgültig aus, und danach führte er auch die eigentliche Diskussion nicht fort, bei der es nur am Rande um das Thema Essen gegangen war.
Wenn ich jetzt daran denke, scheint mir jedoch, dass das Ganze früher angefangen hat, viel früher. Mamas Tod, und ausgerechnet dann, in diesen Monaten der Verwirrung, Einsamkeit und Verlorenheit, musstest du, Tante Irene, ein Stipendium in Paris annehmen und Papa überstürzt eine unaufschiebbare Geschäftsreise antreten. Als ich ein paar Jahre danach einmal nach einer Schere suchte – du selbst hattest mich darum gebeten –, stieß ich auf die Fotos in einer der Schubladen deines Schreibtischs, ihr beide zusammen in Europa, lächelnd in Rom, Bier trinkend in München, Arm in Arm unter dem Eiffelturm. Papa, der nie auf einem Foto erscheinen wollte, war plötzlich auf einem ganzen Dutzend Bildern zu sehen. Wie in einer billigen Seifenoper kamst du genau in diesem Augenblick ins Zimmer und warst wenigstens so anständig, das Offensichtliche nicht zu leugnen. Als du mich mit all den Fotos in der Hand dastehen sahst, breitetest du bloß mit geöffneten Händen die Arme aus, zogst die Brauen hoch und verzogst die Lippen zu einer Grimasse, die eine Entschuldigung, aber auch ein Lächeln sein konnte.
Doch alles vergeht, alles, und im Lauf der Jahre bin ich dick geworden, und du alt, liebe Tante Irene, und zwischen uns hat sich überraschenderweise eine Pax Romana eingestellt, die bis zu deinem Tod gehalten hat.
Ich wende mich wieder dem Text zu, der Stelle, wo ich mich vorhin selbst unterbrochen habe:
Nous ne sommes pas de ce monde
ne sommes pas de ce pays
sommes pas de ce village
pas de cette rue.
Stimmt, ich bin nicht von dieser Welt, das war ich noch nie. Und alles, was ich unternommen habe, um dazuzugehören, selbst die schlimmsten Dinge, hat mich zuletzt nur zum Ausgangspunkt zurückbefördert, wo ich so allein bin wie eh und je.