Ich bin komplett irre. Natürlich bin ich irre, wie käme ich sonst auf die Idee, um die Uhrzeit rauszugehen, mitten in der Nacht?, sage ich mir, während ich mich anziehe. Das hier geht nicht, das gefällt mir überhaupt nicht. Ich werfe die Kleider aufs Bett. Muss ich mich wirklich immer schwarz anziehen? Ich komme bloß noch in Schwarz daher, in, je mehr ich selbst auseinanderlaufe, desto weiter geschnittenen schwarzen Kleidern, und alles nur, um den anderen etwas vorzumachen, mir selbst auch, wenn ich mich im Spiegel betrachte, mir, die ich versuche, mein Gewicht und meinen Umfang abzuschätzen, die Ausmaße meines Körpers beziehungsweise der gespenstischen Silhouetten, die mein Schatten an die Wand zeichnet.
Der Anruf war nicht für mich, er war für eine andere Frau. Soll ich wirklich hingehen? Ist das nicht völliger Wahnsinn? Selbstverständlich ist das völliger Wahnsinn. Ich ziehe mich an, bedecke mich, verdecke mich, verkleide mich, Schicht um Schicht, dunkle Falten, weite Würfe. Ich ziehe mich an und verschwinde.
»Man merkt trotzdem, dass du dick bist«, sagt Papa. – »Nein, Papa, Schwarz steht mir einfach gut, diese Hose macht mich schlank.« – »Das glaubst vielleicht du, dass die Farbe von deinem Umfang ablenkt, ich sehe bloß eine dicke Frau in Schwarz.« – »Sei still, Papa, fang nicht schon wieder mit dem Thema an, und auch mit sonst keinem Thema, du bist nämlich tot.«
Wie lange ist Papa jetzt eigentlich schon tot? Seit zehn, zwölf, nein, dreizehn Jahren. Die Zeit vergeht, und das ist kein Spaß, sie vergeht, und wir vergessen nach und nach selbst unsere liebsten Angehörigen. Wir haben ständig gestritten, um alles und jedes. Das war unsere Art, miteinander zu kommunizieren, die Streiterei verdeckte den eigentlichen Streit, den Streit, der alldem zugrunde lag, den wir aber nie offen ausgefochten haben, dem wir immer ausgewichen sind. Was würde Papa sagen, wenn er mich heute sehen könnte? Dass ich dick bin, dick und noch mal dick. Dass ich mich immer habe gehen lassen, dass mir alles egal war. Dass ich eine Verliererin bin. Und das stimmt auch, Papa, obwohl ich so sein wollte, wie du es dir gewünscht hast, bin ich bloß dick geworden, genau so dick, wie du immer vorausgesagt hast. Luz dagegen hatte offenbar mehr Respekt vor dir, und so geht sie heute schön und schlank durchs Leben, in ihrem Haus mit Marmortreppe, und trotzdem ist sie um nichts weniger unglücklich als wir.
In einer halben Stunde, hat der Typ am Telefon gesagt. Ein bisschen Zeit zum Überlegen habe ich also noch. Um die Uhrzeit ist das gefährlich, kein vernünftiger Mensch würde sich mitten in der Nacht mit einem Unbekannten treffen, der ihm mit drohender Stimme von Dingen erzählt, die nicht das Geringste mit ihm zu tun haben.
Vielleicht bleibe ich doch lieber zu Hause, gehe in die Wanne, ziehe mir danach einen kuschligen Pyjama an, creme mir das Gesicht ein und höre ein bisschen Musik oder sehe mir noch mal den Film von Quentin Tarantino an. Genau, ich begnüge mich einfach mit dem, was ich kenne, bleibe hier und esse Gemüsesuppe.
Nein, ich ziehe mich fertig an, lege ein wenig Rouge auf und betrachte mich im Spiegel, ein paar letzte Korrekturen an Augen und Haaren, dann breche ich auf.
Warum ich das Auto nehme, obwohl es bloß ein paar Querstraßen bis zu dem vereinbarten Ort sind, weiß ich selbst nicht. Vielleicht will ich bloß nicht nachts die Plaza Independencia überqueren, nicht an der riesigen Heldenstatue vorbeigehen. Um die Zeit rumzubringen, fahre ich durch die Calle Ciudadela bis zur Rambla. Es sind noch Leute unterwegs, manche führen ihre Hunde aus. Mein Gott, das nennt man willensstark, ich wäre auch gern so. Eine schöne laue Nacht, für alle Fälle habe ich aber einen Pullover dabei. Und Pfefferspray, das habe ich erst letzte Woche gekauft. Vor dem Losgehen habe ich es eingesteckt, jetzt schiebe ich die Hand in die Tasche, um zu überprüfen, ob es noch da ist. Alles in Ordnung.
Vom dunklen Meer weht feuchter Salzgeruch heran, der Strand und der Hafen sind ganz in der Nähe. Gut wäre es, jetzt ein bisschen spazieren zu gehen, am Wasser entlangzulaufen, den Kreislauf in Gang zu bringen. Ich muss an einer Ampel warten, direkt vor mir überquert eine Frau in roten Shorts die Straße, sie ist etwa in meinem Alter. Ich betrachte ihre Beine, den Hintern, die schmale Taille. Mein Fuß spielt mit dem Gaspedal, der Motor heult auf, ich bräuchte bloß den ersten Gang einzulegen, um ihren Anblick los zu sein. Vor einem Jahr sah ich genauso aus, sage ich in solchen Situationen zu meinen Bekannten. Stimmt nicht, seit ich zwanzig bin oder fünfzehn – oder zwölf? –, sehe ich nicht mehr so aus. Die Ursula von heute und die Ursula von damals trennen mehrere Kilo.
Ich fahre die Calle Paraguay entlang, biege in die nahezu leere Avenida Dieciocho de Julio ein und parke direkt vor der Bar Los Tejos. Um diese Uhrzeit ist kaum jemand im Zentrum unterwegs. Ein junger Mann mit neongelber Weste und einem Lappen in der Hand kommt auf mein Auto zu und wünscht mir einen guten Abend. Ich tue, als würde ich ihn nicht wahrnehmen, ich habe keine Lust, mich zu einem Trinkgeld zwingen zu lassen, andererseits ist es schon spät, und ich habe ebenso wenig Lust, mein Auto mit eingeschlagenem Seitenfenster oder aufgeschlitzten Reifen vorzufinden, wenn ich wieder aus der Bar komme. Ich steige also aus und grüße, indem ich kurz das Kinn anhebe.
»Soll ich auf Ihr Auto aufpassen?«
Ich stecke die Hand in die Tasche und streiche über die Dose mit dem Pfefferspray. Sie ist angenehm kühl, und das Spray ziemlich wirksam. Ich lege einen Finger auf den Druckknopf, tippe ein paar Mal darauf. Dann atme ich tief durch, einmal, zweimal, dreimal. Der junge Mann riecht nach Urin, Schweiß, Marihuana und Wein.
»Nein.«
Ich gehe zum Eingang der Bar, drehe mich dort noch einmal um, der junge Mann lehnt jetzt mit dem Rücken an einer heruntergelassenen Metalljalousie, raucht und lächelt vor sich hin. Er hat kaum noch Zähne. Die Stadt bereitet sich auf die Nacht vor.