Als Rizzi am Donnerstagmorgen, bevor er nach Procida aufbrach, um kurz vor halb neun Uhr an der Rampe parkte, die zum Polizeiposten hinunterführte, fiel ihm auf, dass Cirillos Motorroller nicht dort stand, wo er sich sonst um diese Zeit immer befand. Er schloss daraus, dass sie noch nicht im Büro war – was ihn verwunderte. Seit er sie kannte, nutzte sie die Stunde vor Dienstbeginn, um am Computer die Nachrichtenlage im Internet zu checken.

Er kontrollierte sein Telefon, stellte fest, dass Cirillo keine Mitteilung hinterlassen hatte, und betrat die Roxy Bar, wo Fortunata Parisi auf ihrem Stammplatz, dem Stuhl in der Ecke, das große Wort führte. Es ging um die alte Beatrice, die sie alle zusammen vor drei Tagen zu Grabe getragen hatten, und um einen »Schlag ins Gesicht«.

»Fragt Padre Ivano, wenn ihr mir nicht glaubt«, rief Fortunata mit sich überschlagender Stimme. »Aber ich sage euch: Es ist besiegelt, und selbst der Allmächtige wird nichts mehr daran ändern können.«

Rizzi hängte seinen Helm an die Tresenstange, beugte sich über die Theke, gab Gina einen Kuss und fragte: »Hast du es dir überlegt, oder bleibst du dabei?«

Während Alberto die Espressomaschine bediente, stellte Gina eine Untertasse mit kleinem Löffel bereit und

Sie hatten gestern gestritten und sich danach zwar wieder versöhnt, aber das Problem blieb bestehen. Er liebte ihren Dickkopf, hätte sie dafür allerdings manchmal auf den Mond schießen können. Aber vielleicht musste man auf Capri geboren sein, um zu begreifen, wo die roten Linien waren, die man nicht überschreiten durfte. Zu glauben, ein Problem bei ihnen in Capri-Stadt zu lösen, indem man sich mit den anderen in Anacapri verbündete, war völlig abwegig. Gina unterschätzte, was ein solches Manöver zur Folge hätte und wie viele Feinde sie sich damit machen würde – und zwar dauerhaft. Ein solcher Winkelzug würde hier von niemandem so schnell vergessen werden.

»Edoardo.« Rizzi machte eine Handbewegung. »Komm doch mal her.«

Der schmächtige alte Mann mit der kleinen Brille und dem abgetragenen Sakko löste sich aus dem Kreis um Fortunata und legte lächelnd einen Arm um Rizzis Schulter. »Die alte Beatrice, diese Hexe«, sagte er voller Anerkennung. »Sogar unter der Erde ist sie noch für eine Überraschung gut.«

»Hör zu.« Rizzi schlug den vertraulichen Ton an, für den Edoardo so empfänglich und der in diesem Fall tatsächlich auch angebracht war. »Es geht um die neuen Räume an der Via Sopramonte. Du weißt schon, die sogenannte Übergangslösung für die Musikschule.«

Edoardo nickte, aber sein Lächeln erstarb.

»Wir wissen alle«, fuhr Rizzi fort, »dass die Räume ein schlechter Scherz sind. Es gibt keine Heizung, dafür

»Vergiss es«, erklärte Gina und servierte Rizzi den Espresso. »Habe ich alles schon versucht. Nicht wahr, Edoardo?«

Edoardo seufzte. »Die Musikschule ist ein schwieriges Thema, und ich fürchte, ich kann euch da nicht weiterhelfen, niemand kann das.«

Rizzi rührte den Zucker in seinen Espresso und sagte: »Du kennst die Zuständigen wie kein anderer, hast jahrelang mit ihnen an einem Tisch gesessen und weißt, dass sie ihren Hintern immer nur dann hochkriegen, wenn sie einen persönlichen Vorteil davon haben. Was diese Beamtenschädel nicht verstehen, ist, dass die Musikschule für uns alle von Vorteil ist. Weil sie eine gute Sache für unsere Kinder ist und zu unserem Gemeindeleben beiträgt. Das muss man ihnen mal klarmachen.«

Edoardo rang die Hände. »Siehst du nicht, dass wir alles versucht haben? Alessio hat nicht geruht und alles getan, um für diese verdammte Musikschule das Ausweichquartier in der Via Sopramonte zu finden. Erinnere dich, wie schwer es war, die Asylbewerber aus dem Schuppen rauszukriegen. Gott sei Dank sind die Leute jetzt in Neapel. Unsere Möglichkeiten auf der Insel sind nun mal begrenzt, das muss man irgendwann akzeptieren.«

»Blödsinn«, stellte Rizzi fest. »Wir sind so reich, wir ersticken alle noch in unserem Geld, und du redest um den heißen Brei.«

»Welche?« Rizzi schob die Tasse beiseite. »Meinst du den Investor, der die alte Immobilie an der Via Certosa gekauft hat und dort die wievielten Luxusapartments reinknallt? Oder gibt es Umverteilungsprobleme bei den Bestechungsgeldern, die da geflossen sind?«

»Es ist aussichtslos, Erri.« Gina ließ ein Cornetto aus der Zange auf Rizzis Teller gleiten. »Und ehrlich gesagt: Mir steht es bis hier.«

»Liebling.« Rizzi schaute Gina mahnend an und tippte an den Teller. »Hättest du nicht vielleicht auch eins mit Schokolade?«

Gina starrte auf das Cornetto, als hätte sie noch nie in ihrem Leben Blätterteig mit Aprikose gesehen, nahm den Teller und verschwand damit wortlos nach hinten in die Backstube.

»Ich bin mal ganz offen.« Rizzi wedelte einen Fussel von Edoardos Jacke. »Wenn Alessio glaubt, die Sache wie üblich einfach aussitzen zu können, täuscht er sich. Im Gegenteil, er riskiert einen Skandal, von dem er und ganz Capri sich so schnell nicht wieder erholen werden. Gina ist zu allem entschlossen. Das sage ich jetzt nur dir, Edo, und du wirst dich noch an meine Worte erinnern.«

Edoardo nickte bedächtig und fragte: »Kannst du mir eventuell einen Hinweis geben, was genau Gina vorhat?«

Rizzi warf einen kurzen Blick nach links, wo Marco stand und Giuseppe etwas auf seinem Telefon zeigte, und sagte: »Aber behalt es für dich, Edo. Gina hat Kontakt zur Musikschule in Anacapri aufgenommen.«

»Die haben sich sehr offen gezeigt und binnen vierundzwanzig Stunden ein Angebot gemacht.«

»Und was genau heißt das?«, fragte Edoardo alarmiert.

»Sie haben Räume zur Verfügung gestellt. Es war überhaupt kein Problem. Man muss jetzt nur noch den Transfer der Schüler von Capri nach Anacapri organisieren, aber ich schätze, daran wird es nicht scheitern. Zumal die in Anacapri wirklich sehr lösungsorientiert sind.« Rizzi band seinen Helm von der Tresenstange los. »Ich stelle mir schon vor, wie Pellicano darüber berichtet: Anacapri gewährt Capris Musikschülern Asyl. Wie ich ihn kenne, wird er das Thema über mehrere Wochen von allen Seiten und in allen Details beleuchten und bei jeder Gelegenheit wieder aufwärmen.«

»Das musst du ihr ausreden, Erri«, bat Edoardo mit gedämpfter Stimme. »Wie stehen wir denn sonst da?«

»Ich fürchte, mein Freund, da kann ich nicht mehr viel tun.« Er klopfte Edoardo auf die Schulter, beugte sich über die Theke, wo Gina mit hochrotem Kopf ein Blech voller Cornetti abstellte, und strich ihr etwas Puderzucker von der Wange.

Als er die Bar verließ, hörte er, wie Edoardo zu Gina sagte: »Hör zu, carissima. Man kann doch über alles reden. Außerdem war immer klar, dass die Via Sopramonte nur eine Übergangslösung sein kann.«

Draußen schaute Rizzi sich um. Marco Sasso stieg in seine Ape und ließ den Motor an.

»Warte!« Rizzi hob die Hand. »Ich muss mit dir reden.«

Aber Marco sah ihn nicht oder wollte ihn nicht sehen,

*

»Hat Cirillo sich gemeldet?«, fragte Rizzi, als er den Polizeiposten betrat und durch die offene Tür zum Büro sah, dass ihr Platz am Schreibtisch leer und ihr Stuhl ordentlich rangeschoben war.

Matteo Savio hinterm Empfangstresen daddelte an seinem Handy und hatte ihre Abwesenheit noch gar nicht bemerkt, und Teresa Villa rief aus der Kaffeeküche: »Sie wird schon noch auftauchen.«

Rizzi ging zu seinem Schreibtisch, zog die Schublade auf und fragte, während er zwischen den Visitenkarten und Aufladekabeln zu wühlen begann: »Weiß Schif‌ino Bescheid, dass er mich nach Procida rüberfährt?«

Teresa machte sich einen Pfirsich zurecht und ordnete die Stücke sternförmig auf einem Teller an. »Die Dienstfahrt ist noch nicht genehmigt.« Sie wischte sich die Hände an einer Serviette ab, und ihre Armreifen klirrten dabei leise. »Der Ispettore wünscht diesbezüglich mit dir zu sprechen.«

»Heißt das, ich muss zu ihm rauf?« Rizzi fluchte – und fand die Visitenkarte, die er suchte. Ganz unten lag sie. Manuela Bianchi, Stimmbildung und Sprecherziehung – mit Mobil- und Festnetznummer. »Was hat er denn für ein Problem?«, fragte er und steckte das Kärtchen ein.

Rizzi blieb an ihrem Schreibtisch stehen und nahm sich ein Stück Pfirsich. »Was ist das eigentlich für eine Aufregung um die alte Beatrice?«, fragte er. »Irgendetwas, das ich wissen muss?«

»Padre Ivano bekommt ihre Immobilie nicht.«

»Im Ernst?« Er goss sich ein Glas Wasser ein. »Ich dachte, es wäre beschlossene Sache gewesen. War er damals nicht sogar noch mit Beatrice beim Anwalt?«

»Aber jetzt geht die Kirche komplett leer aus.« Teresa setzte sich, und der Tischventilator zauste empört die Blütenblätter der Dahlien in der Vase. »Nach allem, was Padre Ivano für die Benzoni-Schwestern getan hat. Sie mussten doch bloß mit den Fingern schnippen, und er war zur Stelle. Und das ist jetzt der Dank?«

»Wer kriegt denn die Immobilie?«, fragte Rizzi. »Irgendein Verwandter? Ich dachte, da wäre niemand.«

»Das Rätselraten ist in vollem Gange.« Teresa richtete den Tischventilator neu aus, und die Dahlien kamen zur Ruhe. »Eine Fraktion glaubt, dass Salvatore der Glückliche ist. Stell dir mal vor, unser Straßenkehrer zieht mit seinem Krempel ins schönste Haus an der Via Madre Serafina und errichtet dort seine Müllhalde. Das würde dem Ganzen natürlich die Krone aufsetzen.« Teresa setzte ihre Brille auf. »Es ist alles eine einzige Farce. Wenn die arme Clarissa wüsste, was ihre verrückte Schwester da kurz vor ihrem Tod noch eingefädelt hat, sie würde sich im Grabe umdrehen.«

Rizzi stieg die Stufen hoch und dachte an die Worte von

Auf halbem Wege blieb Rizzi noch einmal stehen. »Weißt du eigentlich, was mit Marco los ist?«, fragte er durchs Treppengeländer. »Er geht mir aus dem Weg.«

»Marco Sasso?« Teresa schaute kurzsichtig auf den Computerbildschirm. »Was soll mit ihm sein? Er ist schlecht drauf.«

»Warum?«

Teresa setzte ihre Brille auf. »Nunzia ist doch jetzt, wo sie in Delikatessen machen, die Feine und will nicht mehr an der Kasse sitzen – ausgerechnet, wo Marco nach dem Umbau und allen Investitionen jede helfende Hand braucht. Da kann man schon verstehen, dass er mit Leichenbittermiene herumläuft.«

*

Wie immer, wenn Rizzi zu Ispettore Lombardi hereinkam, war er erst einmal geblendet. Zu groß war der Kontrast zum Gemeinschaftsbüro unten und ihrem Blick durchs vergitterte Fenster auf Mülltonnen und Streifenwagen. Und wenn Rizzi den Ispettore eines Tages beerben und seinen Stuhl einnehmen würde, wäre seine erste Tat, diesen Stuhl umzudrehen, damit er rausgucken konnte zum Golf von Neapel, statt, wie Lombardi, mit dem Rücken zu all diesen

Lombardis kahler Schädel, eingesunken zwischen Schultern und goldbestickten Epauletten, war im Panoramabild der dritte Buckel neben den beiden Höckern des Vesuvs, die von federleichten Wolken umkränzt wurden. Der Ispettore setzte seine Unterschrift auf ein Dokument, klappte die Ledermappe zu, schraubte den Deckel auf den Füllfederhalter und sagte: »Was stehen Sie so herum? Treten Sie näher, Agente. Nicht so schüchtern. Und machen Sie die Tür zu, damit die Hitze draußen bleibt.«

Rizzi gehorchte und sagte: »Es geht um meine Dienstfahrt nach Procida. Ich sollte längst unterwegs sein.«

»Wo ist Agente Cirillo?«, fragte Lombardi. »Sie agieren schon wieder, ohne Rücksprache zu halten, schreiben keine Protokolle und machen, was Sie wollen.«

Rizzi überlegte, ob es nicht ohnehin Zeit war, den Ispettore einzubeziehen und zu sagen, dass er sich Sorgen machte, weil seine Kollegin sich nicht meldete und spurlos verschwunden war, oder ob er Cirillo dadurch nur zusätzlich und am Ende vielleicht völlig unnötig in Schwierigkeiten brachte.

»Was ist los? Raus mit der Sprache.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Rizzi wahrheitsgemäß und entschied sich zu berichten, dass er sie, nachdem sie im Anschluss an den Termin in der Questura dem Konservatorium einen Besuch abgestattet hatten, nicht mehr gesehen hatte, als sich sein Telefon in der Hosentasche bemerkbar machte. Ein Blick aufs Display zeigte: Es war Cirillo. Rizzi nahm das Gespräch an.

»Buongiorno«, grüßte Cirillo und berichtete, sie sei immer noch in Neapel und schon wieder auf dem Weg ins Konservatorium – wenn auch später als gedacht, denn sie hätte sich die Nacht um die Ohren geschlagen, sei aber zu möglicherweise interessanten Ergebnissen gekommen, die dem Fall eine ganz neue Wendung geben könnten.

Lombardi stützte sein Gesicht auf die Hände, schloss die Augen und sagte: »Schießen Sie los.«

Cirillo berichtete von Sergio Palermo, dessen heimlichen Konzerten in der Musikinstrumentenkammer und dass die Harfe von Stradivari verschwunden war. »Das Instrument ist ein Unikat und von unschätzbarem Wert. Sammler würden dafür Millionen hinblättern. Es stand anscheinend völlig ungesichert im Raum. Könnte aber sein« – ein Hupen war im Hintergrund zu hören –, »dass die Harfe an ein Museum ausgeliehen oder zum Restaurieren gebracht wurde. Das werde ich jetzt überprüfen.«

»Brauchst du Unterstützung?«, fragte Rizzi und nahm sich ein Blatt Papier und Lombardis Füllfederhalter.

»Bevor wir die Kollegen informieren« – Cirillos Stimme hallte –, »will ich erst einmal herausfinden, ob es nicht für alles eine einfache Erklärung gibt.«

»Tun Sie das.« Lombardi tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn.

»Noch eine Sache«, meldete sich Rizzi zu Wort und berichtete, wie Manuela Bianchi ihm gestern eine Antwort

»Wie konnte das passieren?«, wollte Cirillo am anderen Ende wissen.

»Sie hat das Gespräch völlig überstürzt beendet und ist Hals über Kopf davongelaufen«, erklärte Rizzi.

Cirillo versprach, sich die Frau noch einmal vorzunehmen.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Lombardi.

»Noch eine Kleinigkeit«, sagte Cirillo, und ihre Stimme hörte sich plötzlich so nah an, als würde sie mit am Tisch sitzen. »Die Grifo ist bei ihrer Bank mit über achtzigtausend in den Miesen.«

»Woher wissen Sie das?« Lombardi beugte sich vor.

»Ich habe die Unterlagen gesehen.«

»Also«, sagte Lombardi, ohne weitere Nachfragen zu stellen. »Wir gehen folgendermaßen vor. Agente Cirillo, Sie begeben sich unverzüglich ins Konservatorium und klären den Verbleib der Stradivari-Harfe, aber behutsam. Wenn herauskommt – und davon gehe ich jetzt mal aus –, dass alles in Ordnung ist mit der Harfe, schauen Sie, dass Sie diese Signora Bianchi zu fassen kriegen, um auszubügeln, was Agente Rizzi anscheinend verbockt hat. Und das war’s. Klar? Danach: Rückzug. Keine weiteren Schritte. Und Sie, Agente Rizzi, fahren jetzt nach Procida zu Giulia Grifo. Worauf warten Sie?« Er machte eine Handbewegung, als wollte er Rizzi aus dem Raum wedeln. »Schif‌ino wird Sie rüberfahren. Ich gebe ihm jetzt Bescheid. An die Arbeit, Agenti.« Und dann sagte Lombardi noch einen Satz, den