Im Konzertsaal des Konservatoriums San Francesco spielte ein junger Mann am Flügel, als Cirillo sich bemühte, die große Saaltür so leise wie möglich hinter sich zuzuziehen. Der Mann hatte die Bühne ganz für sich allein und spielte für ein paar Menschen, die sich im Zuschauerraum verteilten und mit ihren gesenkten Köpfen so versteinert wirkten wie draußen im Atrium das Denkmal von Domenico Scarlatti.
Der Anwärter da unten machte seine Sache doch sehr gut, dachte Cirillo, während sie nach Professor Longhi Ausschau hielt und das Klavierstück, das eben noch heiter und virtuos geklungen hatte, plötzlich leise und melancholisch wurde. Cirillo konnte nicht anders und gab sich für einen Moment der Musik und dem Gefühl hin, das sie erfasste, dachte an Oscar, ihren Sohn, der fern von ihr bei seinem Vater aufwuchs, den sie seit Monaten nicht gesehen hatte, und der bald seine eigenen Wege gehen würde. Vermutlich würde er nie wieder zu ihr zurückkehren. Die Erkenntnis traf sie mit einer Wucht und zeitgleich mit den donnernden Akkorden, dass es ihr fast den Atem nahm. Der Mann spielte wirklich gut.
»Danke«, ertönte die sachliche Stimme von Professor Longhi im Saal. »Das reicht.«
Die Musik brach ab, und der Pianist blinzelte ins Publikum.
»Der Nächste, bitte!«
Cirillo sah fassungslos zu, wie der Pianist enttäuscht, mit hochrotem Kopf, seine Noten zusammenraffte, während eine Frau im langen Kleid entschlossen die Bühne betrat. Cirillo nutzte den Moment und ging zügig die Stufen in den Zuschauerraum hinunter.
»Professor Longhi?«, flüsterte sie halblaut von der Seite, und die Leute in den Sitzreihen schauten irritiert zu ihr herüber, der Vertreterin der profanen Welt, die hier einfach hereinplatzte und sich herausnahm, die Aufnahmeprüfung zu stören. Sie machte eine entschuldigende Mimik und fixierte Longhi. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
Er nahm seine Brille aus der Stirn, rückte sie auf seiner großen Nase zurecht und tippte auf seine Armbanduhr. »Dreizehn Uhr«, raunte er kurz angebunden. »In meinem Büro.« Er formte die Worte fast lautlos, wandte sich dann wieder zur Bühne und rief der Frau zu, die am Flügel Position bezogen hatte: »Was haben Sie uns mitgebracht?«
»Entschuldigung.« Cirillo zwang den Herrn am Rand (es war der Chefdirigent aus dem Teatro San Carlo), aufzustehen und sie durchzulassen. »Die Sache duldet leider keinen Aufschub.«
»Ich sagte es doch bereits.« Longhi rang sich mühsam ein Lächeln ab. »Und ich bitte Sie, es einfach zur Kenntnis zu nehmen: dreizehn Uhr. Dann bin ich voll und ganz für Sie da.«
»Ich war gerade eben noch einmal in der Musikinstrumentenkammer«, berichtete Cirillo. »Die Harfe ist nicht da. Sagen Sie mir, wo das Instrument geblieben ist, und ich bin weg.«
Longhi blinzelte irritiert. »Wovon reden Sie?«
»Von der Stradivari-Harfe«, antwortete Cirillo. »Wird sie zurzeit restauriert? Oder ist sie an ein Museum ausgeliehen?«
»Ich weiß nicht, in welchem Raum Sie gewesen sind, aber die Stradivari steht, wo sie immer steht«, erklärte Longhi ungehalten. »Und jetzt lassen Sie uns bitte weiterarbeiten.«
»Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben.« Cirillo sprach laut und deutlich und für jedermann verständlich. »Vier Tage nach dem Mord an Maria Grifo ist hier am Konservatorium ein einzigartiges Instrument verschwunden. Wir müssen von einem Verbrechen ausgehen, es sei denn, jemand von Ihnen kann den Sachverhalt aufklären und etwas über den Verbleib der Stradivari-Harfe sagen.« Cirillo schaute reihum in sprachlose Gesichter. »Also gut«, sagte sie. »Dann ist die Veranstaltung hiermit beendet.« Sie holte ihr Telefon hervor.
Während die Leute im Saal begannen, aufgeregt durcheinanderzureden, stand Longhi von seinem Platz auf und rief mit schriller Stimme: »Agente, ich muss Sie bitten, den Saal zu verlassen. Wir haben einen engen Zeitplan und sind bereits in Verzug.«
»Giancarlo, verstehst du nicht, was passiert ist?« Der Chefdirigent Bernardo Gallani rang die Hände. »Erst Maria Grifo – und jetzt die Stradivari. Das zerstört alles, was wir in den vergangenen Jahren aufgebaut haben: den Ruf des Konservatoriums, unsere Reputation. Wer will denn hier noch studieren, wo solche Verbrechen passieren?«
Die Frau auf der Bühne war auf den Klavierhocker gesunken und schaute ungläubig in den Zuschauerraum, wo die Leute begonnen hatten zu telefonieren und immer mehr Leute in den Saal drängten und sich bestürzt erkundigten, warum das Vorspielen unterbrochen wurde, während Giancarlo Longhi wütend sein Klemmbrett auf den Sitz schleuderte. »Es wird sich alles aufklären«, schrie er. »Es ist bestimmt alles ein dummes Missverständnis.«
»Die Kriminalpolizei wird in ein paar Minuten da sein«, erklärte Cirillo und rief in die Runde: »Ich bitte alle Anwesenden, sich für Fragen zur Verfügung zu halten.« Sie steckte ihr Telefon ein und sah in der Tür Manuela Bianchi, die mit schreckgeweiteten Augen in die Runde schaute, den Kopf einzog und rasch wieder verschwand.
Die Männer von der Spurensicherung stellten ihre Koffer ab und begannen unverzüglich mit ihrer Arbeit, während Scotto, die Arme vor der Brust verschränkt, breitbeinig vor der Nische mit dem Podest stand und Cirillo aufforderte, noch einmal zu schildern, wann genau sie den Verlust der Harfe entdeckt hatte und warum sie, als Polizistin von Capri, überhaupt an einem Donnerstagvormittag im Konservatorium von Neapel ermittelte.
Cirillo parierte mit der Gegenfrage, warum Scotto und seine Leute es unterlassen hatten, das zu tun, was bei den Ermittlungen in einem Mordfall eigentlich auf der Hand liegen sollte: sich am Arbeitsplatz des Mordopfers gründlich umschauen und sich vielleicht auch mal den Ort zeigen lassen, in dem Musikinstrumente von unschätzbarem Wert stehen.
»Haben Sie von jemandem einen Tipp bekommen?«, fragte Scotto argwöhnisch.
»Nein«, antwortete Cirillo und signalisierte Scotto mit einer Handbewegung, einen Schritt beiseitezutreten, um den Kollegen hinter ihm nicht im Weg zu stehen. »Es ist Instinkt, ein bisschen Glück und vor allem Hartnäckigkeit«, sagte sie. »Aber was mich ärgert, ist, dass wir nicht wissen, ob die Harfe schon verschwunden war, bevor Maria Grifo getötet wurde, oder umgekehrt.«
»Wie meinen Sie?«, fragte Scotto.
»Vielleicht hat jemand die allgemeine Aufregung nach dem Tod von Maria Grifo genutzt, um die Harfe verschwinden zu lassen, in der Hoffnung, dass der Raub erst einmal unentdeckt bleibt, was dann ja auch der Fall war. Und ich frage mich natürlich außerdem, ob der Mord und der Raub wirklich zusammenhängen.«
»Natürlich hängen der Mord und der Raub miteinander zusammen«, sagte Scotto in einem Ton, als sei es doch sehr verwunderlich, dass die Kollegin von der Insel auch nur eine Sekunde daran zweifelte. »Da haben wir doch das Motiv, das wir so lange gesucht haben. Die Stradivari-Harfe ist die Spur, die uns zum Täter führt. Ich gehe davon aus, dass Maria Grifo das Instrument entwendet und versucht hat, es zu verkaufen, und dass sie bei euch auf Capri ihren Hehler traf.«
»Wovon Sie ausgehen und was tatsächlich passiert ist, sind vielleicht zwei ganz verschiedene Dinge«, fasste Cirillo zusammen. »Wir wissen es nicht.«
Scotto legte ihr eine Hand auf den Arm. »Könnten Sie mir einen großen Gefallen tun?«, sagte er. »Holen Sie bitte einen Kaffee. Schwarz. Kein Zucker.«
Cirillo schaute ihn entgeistert an. »Meinen Sie das ernst?«
»Natürlich, warum nicht?«
»Ja, warum eigentlich nicht«, sagte sie. »Kaffee ist eine gute Idee.«
Sie wandte sich um, bekam aber noch mit, wie Scotto mit den Fingern schnippte und Professor Longhi mitteilte, dass er eine Liste mit den Namen aller Leute brauchte, die Zugang zur Instrumentenkammer hatten – und wie er es nicht glauben konnte, als er von Longhi zu hören bekam, dass sich jedermann jederzeit den Schlüssel beim Pförtner holen konnte und gegen Vorlage eines gültigen Ausweises ausgehändigt bekam.
Cirillo ging den Flur hinunter. Vielleicht täuschte sie sich, aber wenn sie sich so umschaute und sah, wie Angestellte und Studierende aufgeschreckt beieinanderstanden, wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Verlust des Musikinstruments für mehr Aufregung an diesem ehrwürdigen Konservatorium sorgte als vor vier Tagen der Tod der Direktorin. So bitter dieser Umstand war, für die Ermittlungen konnte es nur von Vorteil sein, wenn die Leute endlich wachgerüttelt wurden und begriffen, dass hier eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen passierte, und sich dann vielleicht doch mal jemand von diesen verhuschten und verschreckten und so sensiblen Leuten aus der Deckung traute.
Auf dem Speiseplan am Eingang der Kantine stand, dass es Pasta und Polpette gab, aber an der Essensausgabe war noch kein Mensch. Nur am langen Tisch saß ein Grüppchen von Studierenden und diskutierte, ob es Zufall, Sabotage oder Gottes Gnade war, dass ausgerechnet in der Prüfungswoche die schlimmsten Dinge passierten und jetzt auch noch die Harfe gestohlen worden war.
»Morgen steht die Stradivari wieder an ihrem Platz«, mutmaßte einer der jungen Leute, während Cirillo am Automaten die Taste für den Kaffee drückte. »Als wäre nichts gewesen. Wetten?«
»Ich möchte mal wissen, was der Dieb mit der Stradivari anfangen will«, überlegte ein anderer. »Verkaufen? Das Ding ist weltberühmt.«
»Ich würde sie an irgendeinen Sammler verscherbeln.«
»Aber den musst du erst mal finden.«
»Und so lange liegt die Stradivari unterm Bett!«
Die Leute lachten leise, und das Gespräch verstummte, als Cirillo vorbeiging und auf den Tisch am Fenster zusteuerte, wo eine Person mit dem Rücken zum Raum saß und auf das Smartphone neben seiner Tasse starrte.
Cirillo zog sich einen Stuhl heran. »Darf ich?«
Sergio Palermo schaute sie unsicher an. »Ist es jetzt amtlich?«, fragte er.
»Sie sollten sich in der Instrumentenkammer beim zuständigen Kripobeamten melden«, sagte Cirillo und setzte sich. »Der Kollege heißt Andrea Scotto. Sagen Sie ihm alles, was Sie wissen, dann müssen Sie auch nichts befürchten.«
»Ich war um acht Uhr an der Pforte«, erklärte er halblaut und mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme. »Ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt.«
Cirillo rührte Zucker in ihren Kaffee. »Sprechen Sie mit dem Kollegen in Ihrer Funktion als Pförtner, der sich immer an die Regeln gehalten und den Schlüssel nur an Leute herausgegeben hat, deren Namen er – ohne Ausnahme – in die Liste eingetragen hat. So ist es doch, oder?« Sie nippte an ihrem Getränk und schaute Palermo über den Rand ihrer Tasse prüfend an.
Er starrte auf den Tisch und murmelte: »Ich kriege dieses Bild nicht aus dem Kopf. Wie die Professoressa am Sonntag mit ihrem Rollkoffer an mir in der Pförtnerloge vorbeispaziert, und im Koffer ist womöglich die Harfe. So viel zur Liste.« Er stieß hörbar die Luft durch die Nase. »Sie musste jedenfalls nicht ihren Namen eintragen lassen und ihren Ausweis hinterlegen. Sie hatte ihren eigenen Schlüssel.«
»Signor Palermo.« Cirillo beugte sich vor. »Wenn Sie irgendetwas wissen oder sich doch einmal nicht ganz regelkonform verhalten haben sollten – und ich spreche hier nur von Ihrer Rolle als Pförtner –, sagen Sie es mir bitte.«
Er hielt ihrem Blick stand, mehrere Sekunden, als wäre es ein Kräftemessen, bevor er den Blick senkte und erklärte: »Alles, was ich weiß, habe ich Ihnen erzählt. Und mehr kann ich auch Ihrem Kollegen nicht sagen.«
»Schön.« Cirillo stand auf. »Eine Sache können Sie mir aber noch verraten: Wo finde ich Signora Bianchi?«
Wenn die Honorarkräfte keinen Unterricht gaben und nicht in der Kantine herumsaßen, hielten sie sich meistens, weil sie kein eigenes Büro hatten, in einem der Klassenzimmer auf. Besonders beliebt waren die Räume 102 bis 108, weil sie nach Norden gingen und am kühlsten blieben.
Manuela Bianchi war tatsächlich in der 107, saß am Pult, die Arme am Hinterkopf verschränkt, und sagte: »Ich habe schon auf Sie gewartet.«
Cirillo schloss hinter sich die Tür. »Und ich dachte schon, Sie laufen vor mir davon.« Sie legte ihr Notizbuch auf den Tisch und ging zum Fenster. Unten, im Kreuzgang, hatten Studierende sich zu Füßen von Domenico Scarlatti niedergelassen, aßen Panini und unterhielten sich. Irgendwo wurde eine Violine gestimmt.
»Können Sie sich vorstellen«, fragte Cirillo, »dass Maria Grifo einfach in die Musikinstrumentenkammer marschiert ist, die Stradivari eingepackt hat und mit ihr am Pförtner vorbei aus dem Konservatorium spaziert ist?«
Bianchis Gestalt spiegelte sich im offenen Fensterflügel, während sie etwas zu überlegen schien. »Wenn Sie mich das vor einer Woche gefragt hätten«, sagte sie schließlich, »hätte ich Ihnen vermutlich den Vogel gezeigt. Unsere Direktorin, die an ihrem eigenen Konservatorium einen Kunstraub begeht. Eine vollkommen absurde Vorstellung. Aber mittlerweile … Ich halte inzwischen alles für möglich.«
Cirillo schloss das Fenster und drehte sich herum. »Gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen?«
Bianchi ließ ihren Blick über die Tische, Stühle und umherstehenden Notenständer schweifen. »Die Schlüsselliste«, sagte sie. »Wenn Sie die Liste anschauen, werden Sie sehen, dass ich regelmäßig Gebrauch vom Schlüssel für die Instrumentensammlung gemacht habe.«
»Wann zuletzt?«, fragte Cirillo.
»Am Semesterende, irgendwann Ende Juni. Wie es auf der Liste vermerkt ist.«
»Und da war die Harfe noch da?«
»Selbstverständlich.«
»Und warum gehen Sie so regelmäßig dorthin?«
»Weil ich es wichtig finde, dass die Studierenden wenigstens einmal die Instrumente gesehen haben, sie auch mal anfassen und begreifen, wo sie hier am Konservatorium San Francesco eigentlich sind. In welcher Tradition sie stehen, welche Verantwortung daraus erwächst und auch was für ein Privileg es ist, hier zu studieren.«
»Signora Bianchi.« Cirillo trat näher. »Es geht hier um einen Mordfall. Wenn Sie Informationen unterschlagen, die zur Aufklärung beitragen könnten, machen Sie sich strafbar. Haben Sie mich verstanden?«
Bianchi stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und legte ratlos den Kopf in ihre Hände. »Wissen Sie«, erklärte sie müde, »ich könnte Ihnen aus dem Stand ein Dutzend Namen aufzählen, Aktive und Ehemalige, die man ohne Weiteres als Leichen im Keller von Maria Grifo bezeichnen kann. Ich habe gestern schon versucht, es Ihrem Kollegen Rizzi zu erklären: Ich unterliege zwar keiner Schweigepflicht, aber ich will das Vertrauensverhältnis zwischen meinen Studierenden und mir nicht missbrauchen.«
»Wenn Sie nicht kooperieren, schaden Sie nicht nur sich selbst, sondern auch Ihren Studenten. Verstehen Sie? Je schneller der Fall Grifo gelöst ist, umso besser für den Ruf des Konservatoriums.« Cirillo schlug ihr Notizbuch auf. »Also?«
Bianchi erhob sich und ging, die Arme vor der Brust verschränkt, langsam durch den Raum. »Es gab hier vor nicht allzu langer Zeit eine Studentin mit dem Spitznamen ›Dottoressa‹«, begann sie. »Sie wurde von ihren Kommilitonen und auch intern von uns Lehrenden so genannt, weil sie vor ihrer Aufnahme am Konservatorium eine Ausbildung zur Krankenpflegerin und Physiotherapeutin absolviert hatte.«
»Wie heißt die Frau?«, fragte Cirillo.
»Tramontani.«
»Vorname?«
»Stefania.«
Cirillo notierte, und Bianchi fuhr fort, die Dottoressa sei am Anfang ganz unauffällig gewesen, habe sich an ihrem Instrument, der Violine, zwar gut entwickelt, musste aber hinnehmen, dass Sologesang als ihr zweites Wunschfach erst mal nicht in Frage kam. Stattdessen entdeckte sie die Harfe für sich und beschloss, sich fortan auf dieses Instrument zu fokussieren. Diese Entscheidung (zu der Manuela Bianchi sie ermuntert hatte) stellte sich als goldrichtig heraus. Die Dottoressa machte einen solchen Sprung in ihrer musikalischen Ausbildung, dass sogar Maria Grifo auf sie aufmerksam wurde, ihr in Einzelkonsultationen Tipps gab und sich persönlich dafür einsetzte, dass sie ein Stipendium bekam, damit sie nicht mehr nebenher jobben musste.
Doch statt dankbar zu sein und sich voll und ganz auf ihr Studium zu konzentrieren, habe die Dottoressa plötzlich nachgelassen und, von Bianchi darauf angesprochen, behauptet, das Leben bestehe ja schließlich nicht nur aus Partituren, Noten und Kadenzen. Ausgerechnet in einer Phase, als man von einer Stipendiatin und Studentin des Konservatoriums San Francesco erwartete zu liefern, hatte die Dottoressa beschlossen, ihre Ausbildung nicht mehr ernst zu nehmen.
»Und was passierte dann?«, fragte Cirillo.
Die Stimmung wendete sich gegen die Dottoressa, berichtete Bianchi. Vor allem Maria Grifo, wie es ihre Art war, sagte nicht nur einmal laut, dass jemand anderes den Platz am Konservatorium mehr verdient und aus den Möglichkeiten, die sie hier hatte, wohl auch mehr gemacht hätte. Es war ein unterschwelliger Groll, der sich gegen die Dottoressa aufbaute und das Klima am Konservatorium zu vergiften begann, bis es bei den Proben für das erste große Publikumskonzert vor Ostern zum Eklat kam. Als die Dottoressa an einer Stelle den Einsatz verpasste, hielt es Maria Grifo nicht mehr auf ihrem Sitz, und sie brüllte, die Dottoressa solle doch lieber auf der Via Montesanto Fisch verkaufen, als die Harfe weiter mit ihren Pfoten zu malträtieren. Es war totenstill im Saal, dann stand die Dottoressa wortlos auf, ging und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Niemand habe danach noch etwas von ihr gehört, bis vor ein paar Wochen ausgerechnet Maria Grifo die ehemalige Studentin noch einmal erwähnte. Im Vorbeigehen sagte sie zu Manuela Bianchi im spöttischen Ton, die Dottoressa habe inzwischen wohl auf Capri als Krankenschwester angeheuert, und da gehöre dieses Weibsbild auch hin.
»Stefania Tramontani«, murmelte Cirillo und machte unter ihre Aufzeichnungen einen Strich. »Wissen Sie, wo genau sie auf Capri arbeitet?«
Bianchi verneinte. Der Zusammenhang zwischen Capri und der Dottoressa sei ihr erst gestern wieder in den Sinn gekommen, als Agente Rizzi sie mit seinen Fragen bombardierte.
»Haben Sie Kontakt zu Stefania Tramontani aufgenommen?«, fragte Cirillo.
»Ich habe es versucht, sie aber nicht erreicht.« Bianchi beugte sich zu Cirillo herüber. »Ich möchte jedoch noch einmal ausdrücklich betonen«, erklärte sie eindringlich, »Stefania Tramontani ist ein liebenswürdiger Mensch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie etwas mit dem Mord an Maria Grifo zu tun hat.«