Als Rizzi nach seiner Unterredung mit Giulia Grifo auf dem Rückweg zum Hafen von Procida war, bildete er sich ein, dass die Sonne schon etwas weniger Kraft hatte als noch vor ein paar Wochen. Bald würde die große Hitze vorbei sein. Er setzte seine Sonnenbrille auf, roch im Vorbeigehen den Rosmarin, hörte Stimmen hinter geschlossenen Fensterläden und in den Gassen das Geknatter von Motorrädern, das das Ende der Mittagspause einläutete.

In seiner Innentasche verwahrte er den Brief von Maria Grifo an ihre Tochter, den sie geschrieben hatte, ohne zu wissen, dass es ihre letzten Zeilen sein würden, das letzte Lebenszeichen, die letzten Worte, und er hatte Giulia Grifo versprochen, ihr dieses kostbare Dokument so bald wie möglich, spätestens nach Abschluss der Ermittlungen, zurückzugeben. Zum Schluss hatte er ihr eingeschärft, alles, was sie besprochen hatten, streng vertraulich zu behandeln und vor dem Hintergrund der Ereignisse nicht auf die Idee zu kommen, Kontakt zu Paolo Orlando aufzunehmen, sondern alles Weitere der Polizei zu überlassen.

»Glauben Sie, er war’s?«, hatte Giulia Grifo gefragt, und in ihren Augen war die Furcht vor der Antwort zu sehen und gleichzeitig die Hoffnung, endlich Gewissheit zu bekommen.

Die Tatsache, dass Paolo Orlando bei Maria Grifo studiert hatte, elektrisierte Rizzi. War es Zufall, dass Maria Grifo sich am vergangenen Sonntag ausgerechnet im Hotel La Principessa, direkt neben Paolo Orlando und seiner seltsamen Akademie, eingemietet hatte? Und warum hatte Orlando kein Wort darüber verloren, dass er Maria Grifo kannte, es sogar eine Zeit gegeben hatte, in der er bei ihr zu Hause ein und aus gegangen war?

Giorgio Schifino hatte schon vor der verabredeten Zeit mit dem Polizeiboot angelegt und hielt an der Mole einen Schwatz mit Agente Rosario Ragusa. Beide Männer schauten Rizzi erwartungsvoll entgegen, und Ragusa rief: »Mission erfolgreich?«

»Wird sich zeigen«, entgegnete Rizzi, worauf Schifino weise nickte und seine Zigarettenkippe ins Hafenbecken schnippte.

Rizzi ging an Bord, Ragusa salutierte, und Schifino legte ab. Während sie Kurs auf Capri nahmen, schaute Rizzi zurück auf die lang ausgestreckte Insel mit der Brücke nach Vivara, den bunten Häusern und dem rosafarbenen Würfel am Rande von Terra Murata, unterhalb der Abtei, wo immer noch die Wäsche an der Leine flatterte, die weißen Laken von Matilda.

Procida verschwand im Dunst, Rizzi holte sein Telefon hervor und sah, dass Cirillo ihm schon vor fast zwei Stunden, um dreizehn Uhr dreißig, eine Nachricht geschickt

Sie war sofort dran, als er anrief, und berichtete, Rizzi habe den richtigen Riecher gehabt: Bianchi habe ausgepackt. Es gäbe eine ehemalige Studentin am Konservatorium, eine Harfenistin, die ihr Studium abgebrochen habe und jetzt irgendwo auf Capri als Krankenschwester arbeite. Vielleicht war diese Frau ja der Grund, warum Maria Grifo nach Capri gefahren war. Ihr Name sei Stefania Tramontani.

»Stefania Tramontani?«, wiederholte Rizzi überrascht. »Dann ist es wahrscheinlich die Frau, die mit Paolo Orlando an der Via Tragara die Accademia per corpo e anima betreibt.« Er berichtete, was er gerade erfahren hatte: dass Paolo Orlando ebenfalls ein ehemaliger Student von Maria Grifo war. »Bist du noch dran?«, fragte er, als am anderen Ende keine Reaktion zu vernehmen war.

»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Cirillo. »Teresa und ich rotieren hier seit über einer Stunde, kontaktieren sämtliche Arztpraxen, das Krankenhaus Capilupi und sonstige medizinische Einrichtungen in Capri und Anacapri, um diese Stefania Tramontani ausfindig zu machen – und du erzählst nebenbei, dass sie mit Paolo Orlando in der Accademia per corpo e anima tätig ist?«

»Ich habe dir von den beiden erzählt«, erinnerte Rizzi. »Paolo Orlando und Stefania. Du erinnerst dich? Ich glaube, es war bei der Überfahrt nach Neapel.«

»An mir ist die Info jedenfalls völlig vorbeigegangen«,

»Tut mir leid«, sagte Rizzi. »In dreißig Minuten legen wir an. Ich schlage vor, wir fahren dann sofort in die Via Tragara zu dieser Accademia. Am besten holst du mich am Hafen ab. – Hallo?«

Cirillo hatte aufgelegt, und Schifino am Steuer fragte: »Ärger mit Agente Cirillo?«

»Nicht der Rede wert.« Rizzi setzte seine Sonnenbrille auf und stellte sich neben ihn. »Die kriegt sich schon wieder ein.«

Und so war es auch. Als sie um sechzehn Uhr in Marina Grande an Pier eins anlegten, wartete Cirillo mit laufendem Motor auf ihrer Vespa, reichte Rizzi den zweiten Helm und sagte, während er hinter ihr auf dem Sattel Platz nahm: »Erzähl. Was genau hast du herausgefunden?«

Auf der Via Cristoforo Colombo, während Cirillo die Leute beiseitehupte, berichtete Rizzi, was Giulia Grifo ausgesagt hatte: dass Paolo Orlando – wie auch Stefania Tramontani – am Konservatorium studiert und sein Studium abgebrochen hatte und dass er die Musik als therapeutisches Mittel entdeckte und auf Capri die Accademia per corpo e anima ins Leben gerufen hatte.

»Also haben sowohl Paolo Orlando als auch Stefania Tramontani verschleiert, dass sie die Professoressa kannten«, fasste Cirillo zusammen und stellte fest, dass es unter diesen Umständen wohl kein Zufall war, dass Maria Grifo

Sie parkten am Ende der Via Roma, überquerten im Laufschritt die Piazzetta, schoben sich auf der Via Camerelle zwischen den Leuten hindurch und eilten die Via Tragara hinunter, vorbei am Restaurant, wo Stefania Tramontani mit Madame Bergé, der Dame im Rollstuhl, vorgestern zu Mittag gespeist hatte. Stefania Tramontani mit den winzigen blauen Sprenkeln in den grauen Augen, die von sich gesagt hatte, sie sei in erster Linie Musikerin und ihr Instrument sei die Harfe. Waren Stefania Tramontani und Paolo Orlando ein Paar? Hatten sie gemeinsam versucht, mit Maria Grifo einen Deal einzufädeln, um die Stradivari-Harfe in ihren Besitz zu bringen? Aber warum hätte Maria Grifo darauf eingehen sollen? Aus Geldnot vielleicht? Warum war die Situation eskaliert, und welche Rolle spielte Madame Bergé? Steckte die Frau im Rollstuhl mit Orlando und Tramontani unter einer Decke? Oder war die alte Dame ahnungslos und am Ende selbst in Gefahr?

Cirillo riet, alle Theorien vorerst beiseitezuschieben, auch den Brief von Maria Grifo an ihre Tochter, dessen Inhalt Rizzi ihr nun auch zusammengefasst hatte, und sich möglichst neutral in die Vernehmung zu begeben.

Die Pforte an der Via Tragara war so überwuchert von Bougainvillea und Plumbago, dass sie den schmalen Zugang zwischen knallig pinken Blüten und hellblauen Dolden beinahe übersehen hätten.

Rizzi rüttelte an der Klinke, aber die schmiedeeiserne Pforte war verschlossen. Ein Klingelknopf war nicht zu entdecken, nur vermooste, ehemals goldene Mosaiksteine,

»Wie bist du hier reingekommen, als ich dich gerufen habe? Nach der Festnahme von Kabaciński«, fragte Rizzi. »Bist du über die Mauer geklettert?«

»Da war hier offen«, antwortete Cirillo, als über ihren Köpfen ein elektronisches Surren zu hören war und eine Kamera auf der Mauer sie ins Visier nahm. Das Objektiv stand still, dann ertönte plötzlich ein Summer, und mit einem leisen Klicken sprang die Pforte auf.

Die Treppe war mit trockenen Blättern übersät, die Stufen führten aufwärts, zweimal um die Ecke und endeten vor einer Wand aus Rhododendren und Kirschlorbeer, die den Blick vom Haus auf die Mülltonnen, aber auch aufs Meer verstellte.

Man konnte auf die Villa nicht direkt zugehen, man konnte sich ihr nur nähern – über gewundene Wege und weiße Kieselsteine, am Brunnen vorbei, an Stockrosen und Hortensien. Sie betraten die Veranda. Die Korbsessel, das Schachspiel auf dem Tisch, die Zeitungen in der Ecke – alles sah aus, als ob hier seit Rizzis Besuch vor achtundvierzig Stunden nichts angerührt worden wäre. Nur das handgeschriebene Schild, SUONARE IL CAMPANELLO, PER FAVORE – Bitte klingeln, stand nicht mehr auf der Theke, sondern dahinter, neben der Espressomaschine.

Rizzi öffnete die Tür zum Treppenhaus. »Buonasera«, rief er ins Halbdunkel. »Signor Orlando?«

Auf der Treppe überlegte Rizzi, ob es hier vielleicht noch einen zweiten Eingang gab, als plötzlich ein Klavierkonzert ertönte, ein paar Sekunden lang, dann war die Musik

»Signora Tramontani?«, rief Rizzi.

Im ersten Stock war einer der drei Cocktailsessel umgefallen und lag quer auf dem verschossenen Teppich. Die Tür zum Arztzimmer stand offen, und alles war so aufgeräumt, als hätte hier nie eine Behandlung stattgefunden.

Im Zimmer nebenan diente der Schreibtisch als Ablage für Zeitschriften. Das Skelett in der Ecke mit der Schirmmütze auf dem Schädel war lustig anzusehen, während die Bücher im Schrank Seriosität verströmten und den Eindruck machten, als würden sie hier, vollkommen unbenutzt, schon mindestens so lange stehen wie das Gebäude selbst.

Rizzi und Cirillo öffneten eine Tür nach der anderen, schauten in Zimmer, und überall bot sich ihnen das gleiche Bild, das Rizzi schon von seinem ersten Besuch kannte. Es sah aus, als wäre man beim Umzug, wobei schwer zu sagen war, ob es sich um einen Ein- oder Auszug handelte. Möbel waren abgestellt, vielleicht noch nicht ganz hin- oder schon weggerückt, noch nicht auf- oder schon wieder abgebaut worden. Nur der vorletzte Raum sah tatsächlich bewohnt aus. Ein Futon lag auf dem Boden, das Bettzeug war zerwühlt, und die verspiegelten Schranktüren standen offen. Kleiderbügel lagen auf dem Boden, und in den Wäschefächern waren Lücken.

Cirillo fluchte. »Sie sind weg«, rief sie. »Abgehauen.« Sie holte ihr Telefon hervor.

»Sag Teresa Bescheid. Sie soll Neapel informieren.« Rizzi befühlte die Tasse auf der umgedrehten Holzkiste

»Hallo«, war plötzlich eine Stimme zu hören. »Wer ist da?«

Rizzi schaute auf, und Cirillo brach überrascht ihren Anruf ab.

»Madame Bergé?« Rizzi horchte. »Sind Sie das?«

Stille. Keine Antwort. Rizzi ging auf den dunklen Flur hinaus. Der Fußboden knarrte.

»Hallo?« Wieder die helle Stimme.

»Ich bin’s. Agente Rizzi.« Die letzte Tür am Gang hatten sie noch nicht geöffnet. Er drückte die Klinke herunter.

»Monsieur Rizzi?«, rief die Stimme. »Sind Sie das?«

Er rüttelte an der Tür. »Hat man Sie eingeschlossen?«, rief er. »Wo sind Signor Orlando und Signora Tramontani? Madame Bergé, bitte sprechen Sie mit mir. Geht es Ihnen gut?«

»Was haben Sie gesagt? Hallo?«

Rizzi senkte eindringlich seine Stimme. »Wenn Sie da drin sind, machen Sie bitte die Tür auf. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ihnen passiert nichts. Hören Sie mich? Madame Bergé? Ist Ihnen etwas zugestoßen? Sind Sie verletzt?«

»Wie bitte?«, fragte die Stimme hinter der Tür. »Ich habe hier keinen Schlüssel. Sie müssen über den großen Korridor kommen, nicht hier hinten durch den Flur. Hat man Ihnen das am Empfang nicht gesagt?«

»Am Empfang?« Rizzi schaute Cirillo fragend an, die nur den Kopf schüttelte.

»Welcher Empfang?«, fragte Rizzi. »Da ist niemand. Sie sind hier ganz allein.«

Sie gingen zurück, an den unbewohnten Zimmern vorbei den Flur hinunter, landeten wieder bei den Cocktailsesseln und nahmen die andere Tür, durch die Rizzi schon einmal spaziert war, als er Stefania Tramontani folgte, nachdem sie seine Kopfwunde versorgt hatte.

Die Flügeltür zum Musikzimmer stand offen, ebenso die Tür zur Terrasse. Draußen, an der Brüstung, parkte der Rollstuhl. Er stand schräg, das Kissen auf der Sitzfläche war verrutscht. Von Madame Bergé keine Spur.

»Madame Bergé!« Rizzi fluchte, stürzte zum Geländer und schaute hinunter in den Garten.

Entlang der Mauer waren die Stümpfe der gefällten Pinien zu sehen. Auf der anderen Seite, am Hotelpool, richtete sich eine Person auf ihrem Liegestuhl auf, schirmte ihre Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab und schaute suchend herüber.

»Was haben Sie im Gästeflügel zu suchen?«, war hinter Rizzi und Cirillo die helle, fast mädchenhafte Stimme zu hören. Auf zwei Krücken gestützt, einen Fuß langsam vor den anderen setzend, trat Madame Bergé aus dem Musikzimmer auf die Terrasse heraus. »Sie können hier nicht durchs Haus geistern, wie es Ihnen passt, und die Leute aufschrecken«, sagte sie tadelnd. »Wir wollen alle unsere Ruhe, deshalb sind wir hier, und wenn wir italienische Oper wünschen, brauchen wir dafür keine Polizisten, die bei uns einfallen wie die Räuber. Ich bereue schon, Sie überhaupt reingelassen zu haben.« Ohne Strohhut, ohne Sonnenbrille, im dunkelblauen

Rizzi grüßte sie höflich und erklärte, während er ihr mit dem Rollstuhl entgegenkam: »Wir sind auf der Suche nach Signor Orlando und Signora Tramontani.«

»Sehr aufmerksam, Monsieur.« Sie gab Rizzi ihre Krücken zum Halten. »Dachte ich mir schon, dass Sie nicht meinetwegen hergekommen sind.«

»Und?«, fragte Rizzi. »Wo sind sie?«

»Ich habe sie weggeschickt.« Sie machte die entsprechende Handbewegung und brachte sich für den Rollstuhl in Position. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die beiden sahen heute Morgen wirklich aus wie Käsekuchen mit Spucke. Jetzt reicht’s, habe ich gesagt, lasst euch mal ein bisschen die frische Luft von Capri um die Nase wehen, und habe sie rausgeworfen. Ich halte hier die Stellung. Das ist normalerweise kein Problem. Konnte ja keiner ahnen, dass Sie hier anrücken, und dann auch noch gleich zu zweit.«

»Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollen?«

Sie überhörte Rizzis Frage und ließ sich rückwärts in den Rollstuhl fallen. Dann schaute sie sich nach Cirillo um. »Und wer ist das Mäuschen da hinten, das keinen Ton herausbringt?«

»Eine ernste Angelegenheit?«, wiederholte die alte Dame und hob spöttisch die Augenbrauen. »Was ist denn so ernst? Aber gut. Verstehe schon. Also, zu Ihrer Frage.« Sie zog ein Taschentuch hervor und tupf‌te sich damit in aller Ruhe die Stirn. »Ich habe es doch schon gesagt: Sie sind auf einem Ausflug.«

»Haben sie Gepäck mitgenommen?«

»Sie meinen: großes Gepäck?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und jetzt ziehen Sie nicht so besorgte Gesichter, meine Herrschaften. Ich versichere Ihnen, die beiden werden heute Abend wieder da sein.«

Rizzi holte sein Telefon hervor. »Wir schreiben Orlando und Tramontani zur Fahndung aus.«

Cirillo signalisierte ihm, damit noch einen Moment zu warten, ging so weit um den Rollstuhl herum, dass sie Madame Bergé direkt anschauen konnte, und sagte: »Sie erwähnten eine Person am Empfang, die uns nicht richtig hochgeschickt hat. Wo ist denn diese Person?«

»Warum fragen Sie?«, erkundigte sich Madame Bergé spitz. »Sie sagten doch selbst, da sei niemand.«

»Und die Pforte haben Sie uns aufgemacht, richtig?«

»Sie sind ein kluges Mädchen, und ich merke, Sie hören gut zu. Das gefällt mir. Ich habe sie nämlich immer im Blick, die Pforte, oder sagen wir: fast immer. Schauen Sie.« Sie holte umständlich ein goldenes Smartphone aus ihrer Westentasche.

»Das ist das einzig Dumme. Dass die Funktionen alle so eng beieinanderliegen. Da vertue ich mich schnell mal.« Sie drückte mit dem Finger auf dem Display herum, und das Klavierkonzert erklang erneut in ohrenbetäubender Lautstärke, bevor es wieder verstummte. »Voilà. Sehen Sie? Hier, mit der Kamera, kann ich jederzeit überprüfen, was an der Pforte los ist. In dem engen Zugang, wo man sich schnell mal unbeobachtet fühlt, habe ich schon die erstaunlichsten Dinge beobachtet. Tagelang, manchmal wochenlang passiert gar nichts – und dann …«

»Aber wo ist das Personal, das man braucht, um einen solchen Laden am Laufen zu halten?«, fragte Cirillo.

»Gutes Personal erkennt man daran, dass es unsichtbar ist«, belehrte Madame Bergé. »Und hier muss ich mich um diese Belange zum Glück nicht kümmern und genieße den Luxus, dass Dottor Orlando und Signora Tramontani immer persönlich für mich da sind und alle fremden Leute von mir fernhalten. Sie bringen mir mein Essen. Sie holen mich zu den Therapiesitzungen ab. Und inzwischen habe ich sogar meinen eigenen Fahrstuhl. Darüber hinaus begleitet mich Signora Tramontani einmal am Tag vor die Tür. Die beiden tragen mich wirklich auf Händen.«

»Warum ist Ihre Tür zum Gästeflügel verschlossen?«, fragte Cirillo.

»Was soll die Frage?«

»Warum haben Sie keinen Schlüssel?«

»Ich brauche keinen. Ich habe meine Zimmerflucht, und

»Aber in den Therapiesitzungen begegnen Sie dann schon den anderen Patienten, oder nicht? Signora Bergé, schauen Sie mich bitte an, wenn ich mit Ihnen rede«, bat Cirillo. »Ich will einfach verstehen, wie der Laden hier funktioniert.«

»Ich habe Einzelsitzungen«, erklärte Madame Bergé. »Darum habe ich von Anfang an gebeten. Für mich hat sich die Einzeltherapie bewährt.«

»Also wissen Sie gar nicht«, fragte Cirillo, »dass im sogenannten Gästeflügel überhaupt niemand wohnt? Und es sieht auch nicht so aus, als ob da jemals schon jemand richtig gewohnt hätte, jedenfalls nicht in der letzten Zeit.«

»Was reden Sie denn da?« Madame Bergé drehte verärgert den Kopf zur Seite, und das Licht ließ ihre Augen ganz glasig, fast tränenverhangen aussehen, während sie leise murmelte: »Das ist doch dummes Zeug.«

Cirillo ging vor dem Rollstuhl in die Hocke. »Ich sage Ihnen jetzt etwas. Es gibt niemanden am Empfang, und es gibt auch kein Personal. Die Akademie hat eine einzige Patientin, und das sind Sie. Sie sind hier völlig allein. Es ist ein Schattentheater, das hier um Sie herum veranstaltet wird, immer das gleiche Stück. Merken Sie das gar nicht? Oder wollen Sie es nicht merken?«

Madame Bergé machte eine Handbewegung, als wollte sie Cirillo beiseitewischen, fort aus ihrem Blickfeld. »Was erlauben Sie sich eigentlich?«, rief sie. »Ich bekomme hier die beste Behandlung, die ich mir wünschen kann.«

»Für die Sie wahrscheinlich auch einen Haufen Geld bezahlen.«

»Dann rufen Sie ihn jetzt bitte an.« Rizzi nahm das Smartphone, das sie auf der Armlehne ihres Rollstuhls abgelegt

»Ihr Verhalten ist impertinent«, beklagte sich Madame Bergé. »Und Ihr Ton lässt sehr zu wünschen übrig. Ich werde mich über Sie beschweren.« Sie drückte verärgert und gekränkt auf dem Apparat herum. »Los, sagen Sie mir sofort: Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

»Schluss mit dem Theater.« Rizzi nickte Cirillo zu. »Lass uns die Fahndung rausgeben.«

Während Cirillo sich mit dem Telefon am Ohr entfernte, starrte Madame Bergé ungläubig auf das Display ihres Smartphones. »Das kann nicht sein«, murmelte sie. »Das hat es noch nie gegeben. Dann ist etwas passiert.«

dottor paolo orlando, stand da, temporaneamente non disponibile – vorübergehend nicht erreichbar.

»Er hat Sie im Stich gelassen«, stellte Rizzi nüchtern fest. »Madame Bergé, haben Sie mich verstanden? Er ist abgehauen. Und ich glaube nicht, dass er hier aus freien Stücken wieder auftaucht.«

»Hören Sie auf!«, wies Madame Bergé ihn zurecht. »Der Dottore und ich können einander gar nicht im Stich lassen, weil wir Seelenverwandte sind. Aber dafür fehlt Ihnen der Sinn, das sehe ich auf den ersten Blick. Und wissen Sie auch, woran? Schauen Sie sich mal die Hände von Dottor Orlando an, und dann gucken Sie auf Ihre Hände und vergleichen Sie. Was können Sie mit Ihren Händen tun?

Madame Bergé schnaubte verächtlich, während Cirillo von der Terrassentür meldete: »Die Fahndung ist raus. Und jetzt zeigen Sie uns die Harfe. Signora Bergé, wo ist die Stradivari?«

Reglos saß Madame Bergé da, als würde ganz langsam die Erkenntnis in sie einsickern, dass die Sache ernst war.

Mit ihrem Rollstuhl fuhr sie an dem weißen Konzertflügel und der goldenen Konzertharfe vorbei und hielt neben der Massagebank und dem Hocker, auf dem ein Turm aus sauber gefalteten weißen Handtüchern lag.

Ihre Hände umklammerten die Armlehnen, und ihr Mund war seltsam verzerrt, als hätte sie Schmerzen oder würde gleich anfangen zu lachen oder zu weinen. Dann sagte sie: »Es war eine fixe Idee. Die Stradivari hat mir kein Glück gebracht. Ich verehre Stradivari, seine Instrumente bedeuten mir alles, aber er bringt mir kein Glück. Wie damals schon die Violine. Ich bekam sie geschenkt, ein wunderschönes Instrument, ein unvergleichlicher Klang. Und ich war nicht untalentiert, das sage ich Ihnen. Aber ich konnte sie schon bald nicht mehr richtig halten, die Krankheit begann von mir Besitz zu ergreifen. Und jetzt die Harfe. Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, würde ich sagen: Wir lassen die Finger davon.«

»Wo ist sie?«, fragte Rizzi.

»Sie müssen nur den Schrank aufmachen.«

Rizzi trat vor.

»Warten Sie.«

Rizzi gehorchte und drehte sich zu Madame Bergé um.

Es gab keinen Griff an dem Schrank, nur ein Schloss.

»Der Schlüssel ist im Sekretär.« Madame Bergé machte eine Bewegung mit dem Kopf. »In der kleinen Schublade.«

»Wie sind Sie in den Besitz der Harfe gekommen?«, fragte Cirillo.

»Als die Nachricht kam, dass sie zum Verkauf steht, habe ich keine Sekunde gezögert und sofort gesagt: Worauf warten wir? Sie müssen wissen, Signora Tramontani ist eine ausgezeichnete Harfenistin.«

»Hier ist kein Schlüssel«, sagte Rizzi. »Kann es sein, dass Dottor Orlando ihn vorsorglich mitgenommen hat? Auf seinen Ausflug?«

»In der kleinen Schublade.« Madame Bergé verzog keine Miene. »Sie müssen schon den Deckel heben, sonst finden Sie ihn nicht.«

»Woher kam die Nachricht, dass die Harfe zum Verkauf stehe?«, fragte Cirillo. »Von Maria Grifo?«

»Über die Einzelheiten bin ich nicht im Bilde. Darum hat sich Dottor Orlando gekümmert. Er kann so etwas. Und was solche Dinge angeht, hört er das Gras wachsen. Ich wusste nur: Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder, und der Preis war mir egal. Das habe ich Dottor Orlando auch gesagt.«

»Die Harfe von Stradivari stand nie zum Verkauf«, erklärte Cirillo. »Sie gehört dem Konservatorium.«

»Glauben Sie mir, meine Liebe« – Madame Bergé lächelte –, »es gibt nichts, was nicht käuflich wäre, und das

»Die Harfe wurde gestohlen, so viel steht fest.« Der Schlüssel war tatsächlich in dem Sekretär aufbewahrt. Rizzi fischte ihn aus der Lade, schob den Hocker beiseite und steckte ihn ins Schloss des Wandschranks. »Wie das Instrument in Ihren Besitz kam, ob Sie sich dabei strafbar gemacht haben und ob es einen Zusammenhang mit dem Tod von Maria Grifo gibt, wird noch zu klären sein.«

Die Tür ging mit einem leisen Quietschen auf, und da waren nichts als Handtücher, weiß, in hohen Stapeln, so ordentlich gefaltet wie die auf dem Hocker.

»Jetzt nehmen Sie sie schon heraus. Nicht so ehrfürchtig.« Madame Bergé war mit ihrem Rollstuhl zurückgefahren. »Aber seien Sie vorsichtig. Und stellen Sie sie hier herüber, auf den Tisch.«

Im Regal über den Handtüchern befand sich ein Werkzeugkasten. Im Regal darunter ein Staubsauger.

»Aber benutzen Sie nicht den Engel als Anfasser«, warnte Madame Bergé, »und lassen Sie die Finger von der schlanken Säule. Nehmen Sie sie am besten am Fuß. Was tun Sie denn da?«

Rizzi holte die Handtücher heraus und warf eins nach dem anderen auf den Boden. Er räumte das ganze Regal frei und zog zum Schluss auch noch den Werkzeugkasten und den Staubsauger heraus.

»Madame Bergé«, sagte er. »Hier ist keine Harfe.«