Die Orgel war zu hören. Der Klangteppich kam aus dem offenen Kirchenportal gerollt, hinaus auf die Piazzetta mit ihren Sonnenschirmen und Markisen und dem Mäuerchen, wo Enrico Rizzi seine Vespa parkte. Strenggenommen war die Stelle kein Parkplatz, und Rizzi selbst verteilte gerade hier immer wieder Strafzettel an Leute, die sich nicht daran hielten, es waren immer dieselben, und bezahlt wurden diese Strafzettel nie.
Er verstaute den Helm im Sattel, eilte die Stufen hinauf und betrat die Kirche Santo Stefano. Padre Ivano setzte gerade dazu an, das Kreuz zu schlagen, und wie er da stand mit den ausgebreiteten Armen, in seinem Gewand mit den goldenen Stickereien und dem kleinen Kopf obendrauf, erinnerte er an eine Fledermaus – wenn auch an eine sehr prächtige. Rizzi nahm seine Sonnenbrille ab, bekreuzigte sich und setzte sich in die hinterste Bank neben seinen besten Freund Alberto, der bereitwillig ein Stück zur Seite rückte.
Die alte Beatrice – nun hatte sie es also geschafft. Der Herrgott hatte sie heimgeholt, wie Padre Ivano über Mikrofon in einer Lautstärke verkündete, die auch jene wachrüttelte, die hier im Dämmerlicht gerne mal ein Schläfchen hielten. Die meisten Anwesenden dachten in diesem Moment wohl auch an die Zwillingsschwester von Beatrice, die alte Clarissa, die schon vor zwei Jahren gestorben war. Man konnte nur hoffen, dass die beiden Schwestern, die zu Lebzeiten unzertrennlich gewesen waren, nun im Tode wiedervereint sein würden.
»Kommst du heute Abend zur Probe?«, fragte Alberto halblaut.
»Heute Abend?« Rizzi streckte seine Beine aus, so weit es möglich war, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mal schauen. Ich versuch’s.«
»Was ist los mit dir?«, wollte Alberto wissen.
Rizzi sah seine Eltern in der dritten Reihe sitzen, die schwarze Haarpracht seiner Mutter, die an eine Mütze erinnerte, und den eisgrauen Schopf seines Vaters. Ein Hund stromerte geschäftig durch den Mittelgang und drehte am Altar schnüffelnd nach rechts ab.
»Ich muss mich heute auf jeden Fall noch um die Elektrik kümmern«, sagte Rizzi. »Mit dem Scheibenwischer stimmt etwas nicht. Einmal wischen – und er bleibt stehen, wie eingefroren.«
Alberto seufzte. »Mach, was du willst, aber wir sind auf dich angewiesen. Ohne deine Trompete wird es ein bisschen dünn – zumal Giuseppe schon gesagt hat, dass er mit seiner Alten ausgerechnet am zwanzigsten nach Syrakus fährt. Stell dir das mal vor: Giuseppe mit seiner Alten in Syrakus.«
»Keine Sorge«, sagte Rizzi, »bis zu Edoardos Geburtstag haben wir noch zehnmal geprobt.«
»Denk dran, es ist sein Siebzigster.«
Padre Ivano stimmte das Lodato sia il mio Signore an, die Gemeinde fiel schleppend ein, und Rizzi ließ, während er aus voller Kehle sang, seinen Blick schweifen. Beatrice auf dem Foto neben ihrem Sarg sah genauso aus, wie man sie die meiste Zeit gekannt hatte und in Erinnerung behalten würde: weise und voller Güte. Die unangenehmen Charaktereigenschaften, das Bösartige und dass sie Leute beschimpfte, die es nur gut mit ihr meinten, waren erst in den letzten beiden Jahren hervorgetreten, genauer gesagt, nach dem Tod ihrer Schwester. Rizzi wünschte, er hätte sie vergangene Woche nicht so eilig abgefertigt. Aber wer konnte schon ahnen, dass sie nie wieder auf die Wache getippelt kommen würde mit der Namensliste all jener, die ihr angeblich Schmuck und Bargeld geklaut hatten?
Aber Padre Ivano fand wie gewohnt viele schöne Worte für die alte Nervensäge, und das war auch gut so. Strich vor allem Beatrices Gottesfürchtigkeit heraus und die Zuverlässigkeit und Sorgfalt, mit der sie sich um die Gesangsbücher in der Kirche gekümmert hatte, die immer ordentlich und in ausreichender Zahl bereitlagen, und viele, vor allem die Älteren in der Kirche, nickten zustimmend.
Aber woran wohl die meisten dachten und worüber Padre Ivano natürlich kein Wort verlor, war die Frage, was nun, nach Beatrices Tod, aus dem Haus der Benzoni-Schwestern in der Via Madre Serafina werden würde. Die Frauen hatten keine Geschwister, keine Kinder, keinen Mann, und das Haus, das ihr Großvater noch mit eigenen Händen gebaut hatte, war inzwischen, wie alle Häuser an der Straße, aufgrund der Lage Millionen wert. Man musste allerdings kein Hellseher sein, um zu erraten, was mit dem Haus passieren würde. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die Schwestern ihr Haus nicht der Kirche vermacht hätten und darin eine Anerkennung sahen für alles, was Padre Ivano in all den Jahren für sie und ganz Capri getan hatte.
Und war er nicht tatsächlich immer zur Stelle gewesen, hatte mit ihnen regelmäßig gegessen und sie in vielen, nicht bloß den finanziellen Dingen beraten? Da war es nur gerecht, wenn die Kirche das Haus künftig nutzte und – wer weiß? – Padre Ivano sich dort seinen Alterssitz einrichtete und den freien Blick aufs Meer genoss, den man vom Wohnzimmer aus hatte.
Padre Ivano breitete die Arme aus für den Segen, und alle standen von ihren Bänken auf. Salvatore liefen die Tränen über die Wangen, als der Sarg angehoben wurde. Dem Straßenkehrer würden die Benzoni-Schwestern wohl wirklich fehlen – wie sie eingehakt, in kleinen Schritten, über die Piazzetta liefen und alle paar Meter anhielten, um auch mit ihm einen Schwatz zu halten, der über das übliche »Wie geht’s, alles gut?« hinausging. Und plötzlich fühlte auch Rizzi, dass die Benzoni-Schwestern eine Lücke hinterließen und dass Capri wieder um eine Farbe ärmer geworden war.
Man reichte einander die Hände, gedachte dabei der Verstorbenen und folgte dem Sarg aus der Kirche. Die Sonne blendete, und die Lilien auf dem Sarg nickten bei jedem Schritt, wie auch Beatrice zeit ihres Lebens immerfort genickt hatte.
Rizzi trat auf die Seite, um Platz für die Leute zu machen, den Trauerzug, der sich Richtung Friedhof in Bewegung setzte. Fortunata Parisi schluchzte, und Rizzi nahm sie in den Arm, während Giuseppe Ruffini tröstend bemerkte, der Abgang der alten Beatrice sei doch genau so, wie man ihn sich auch für sich selbst wünschte: abends in die Klappe gehen, einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen.
Auf dem Weg zur Vespa schaltete Rizzi sein Telefon ein, sah in den Augenwinkeln die Tauben aufflattern und eine schlanke Gestalt in Uniform, die sich von der Via Roma näherte. Antonia Cirillo winkte.
»Ich weiß, du hast heute deinen freien Tag«, rief seine Kollegin schon von Weitem. »Aber eben ist ein Notruf eingegangen.«
Rizzi schaute hinauf zum Uhrenturm, wo in diesem Moment der große Zeiger zum kleinen auf die Zwölf rückte, ohne dass die Glocken zu bimmeln begannen, ein technischer Defekt. »Was ist passiert?«, fragte er, klappte den Sattel hoch und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Die Guardia Costiera weiß schon Bescheid und wartet in Marina Grande.« Cirillo trat näher. »Der Anrufer war ziemlich außer sich. Er behauptet« – sie dämpfte ihre Stimme –, »in Cala del fico liege ein Koffer und es sehe so aus, als ob sich darin ein Mensch befinde.«
»Ein Mensch?«, wiederholte Rizzi ungläubig.
»Er sagt, ein Bein wäre zu erkennen.«
Auf der Fahrt mit dem Motorroller nach Marina Grande klammerte Cirillo sich hinten an Rizzi fest und schrie ihm ins Ohr, was sie wusste. Der Anrufer, ein gewisser Marcello Perasole, sei ganz außer sich gewesen und habe immer wieder gefragt, was er tun solle, er habe das Boot voller Leute. Sie habe zuerst überhaupt nicht verstanden, wovon er sprach, und auch nicht, wo genau er sich befand. »Cala del fico!«, habe er immer wieder gebrüllt, aber sie kannte die Bucht nicht.
Sie legte sich im Kreisverkehr mit Rizzi in die Kurve und rief in den Fahrtwind, sie habe den Mann nicht beruhigen können und ihm schließlich nur noch eingeschärft, er solle sich bis zum Eintreffen der Polizei nicht von der Stelle rühren. Als sie dann Ispettore Lombardi bei seinem Termin auf dem Festland nicht erreichen konnte und auch Rizzis Telefon ausgeschaltet war, sei sie heilfroh gewesen, als Teresa Villa einfiel, er sei höchstwahrscheinlich auf der Beerdigung der alten Beatrice.
Rizzi beschleunigte auf dem letzten Stück und fuhr mit siebzig Sachen die abschüssige Via Marina Grande hinunter.
Was Cirillo nicht wissen konnte und Teresa Villa ihr in der Eile wohl nicht erklärt hatte: Der Anrufer, Marcello Perasole, war der Sohn des mittlerweile auch schon verstorbenen Fischers Vittorio Perasole und hatte den Kutter seines Vaters so umgebaut, dass er damit nicht mehr zum Fischfang rausfuhr, sondern Inselumrundungen für Touristen machte, womit er wahrscheinlich in einem Sommer hundertmal mehr verdiente als der Vater seinerzeit mit dem Fischfang über das ganze Jahr. Marcello Perasole gehörte mit den anderen Männern seiner Zunft zu den Menschen, die den Blick von außen auf die Insel hatten und denen dadurch fast schon so eine Art Wächterfunktion zukam. Sie meldeten regelmäßig, wenn sie etwas an der Küste und den Steilhängen sahen, das da nicht hingehörte. Das war in erster Linie Müll, den manche Leute über die Klippen entsorgten.
Rizzi hupte, und die Leute auf der Piazza Vittoria, die zwischen Mole, Ticketschaltern, funicolare und den Bars kreuzten, sprangen zur Seite. Auf der Via Cristoforo Colombo gab er noch einmal Gas und hielt an der Mole, wo das Polizeischiff lag und Giorgio Schifino mit laufendem Motor wartete. Kaum hatte Rizzi die Helme verstaut und war mit Cirillo an Bord gegangen, holte der Kollege die Brücke ein.
»Wetten«, sagte Schifino, als Rizzi sich neben ihn ans Steuer stellte, »dass einfach irgendein Schwachkopf eine Schaufensterpuppe entsorgt hat?«
»Hoffen wir es«, antwortete Rizzi.
Eine Yacht mit eigener Radaranlage und so groß, dass sie wahrscheinlich hochseetauglich war, und ein Segelschiff, ein gediegener Zweimaster aus Holz, lackiert, mit schönen Messingbeschlägen, blockierten die Hafeneinfahrt und zwangen eine Reihe von aliscafi zu warten, die hier streng getaktet aus Neapel, Sorrent oder Ischia eintrafen. Schifino nutzte eine Lücke, fuhr vor der großen Fähre aus dem Hafen und schob, nachdem sie die korinthische Säule passiert hatten, den großen Hebel nach vorne. Die Bugspitze hob sich, und das Boot schoss über die gekräuselte Wasseroberfläche.
Cirillo klammerte sich im Heck an die Reling, hatte ihre Mütze zwischen die Knie geklemmt, und ihre Haare flatterten im Wind. Die Nordküste von Capri lag im Schatten, die hohen Felsen waren dunkle Wände und die Eingänge zu den Grotten Bove Marino und Ricotta kaum wahrnehmbare schwarze Löcher. Wilde Pistazien, Rosmarin und andere Sträucher bildeten auf dem zerklüfteten Kalksandstein und an den kargen Hängen einen dichten, immergrünen Pelz.
Schifino fuhr bei Punta del Capo eine weite Kurve um den Monte Tiberio, und das dunkle Wasser der Nordseite verwandelte sich im Sonnenlicht in türkisgrünes Meer, das verheißungsvoll glitzerte, als wäre der Boden in der Tiefe mit Topas und Smaragden übersät.
Dafür, dass der Hochsommer vorbei war, ankerten vor den Grotten Bianca, Preti und Moschino noch viele Boote mit bunten Sonnensegeln, unter denen ein unternehmungslustiges Völkchen darauf wartete, einzufahren und mit Besichtigung der Grotten ein kleines Abenteuer zu erleben. Weiter südlich ragten die Faraglioni-Felsen wie riesige, urwüchsige Kegel aus dem Wasser und dominierten die Landschaft, auch den flachen Felsen Scoglio di Monacone, der wie umgekippt im Meer lag und der mit dem Faraglione di Terra die Bucht von Punta di Tragara begrenzte.
So gesehen, war Cala del fico, gleich hinter Punta Massullo, ein toter Winkel, eine unzugängliche stille Bucht, die nur über das Meer erreichbar und unter normalen Umständen keines besonderen Blicks oder überhaupt nur einer Erwähnung wert gewesen wäre. Dass ausgerechnet hier, genauso wie vor den Eingängen der Grotten, ein ganzer Pulk von Booten lag, war höchst ungewöhnlich und wahrscheinlich noch nie vorgekommen, aber offensichtlich gab es hier etwas, das die Aufmerksamkeit der Leute erregte, so dass sie teilweise aufrecht stehend mit ihren Kameras filmten und fotografierten.
Marcello Perasole auf seinem Kutter befand sich im Zentrum, winkte und schwenkte seine weiße Schirmmütze wie ein Fluglotse seine Kelle und rief: »Da drüben, Erri, siehst du es? Auf dem Stein!« Er deutete auf die Steilwand und auf einen Felsvorsprung, der einen knappen Meter über der Wasseroberfläche ins Meer ragte. Was dort lag, hätte man auf den ersten Blick auch übersehen oder für einen Gesteinsbrocken halten können. Es handelte sich, wenn man genauer hinsah, aber wohl tatsächlich um ein Gepäckstück, einen großen schwarzen Koffer, der durch den Aufprall anscheinend etwas lädiert war. Aber einen Körperteil, der daraus hervorschaute, konnte Rizzi nicht erkennen.
Schifino drosselte das Tempo, und Rizzi rief Marcello zu: »Hast du jemanden gesehen, der dort etwas abgelegt hat oder von dort weggefahren ist?«
»Glaub mir«, schrie Perasole zurück. »In all den Jahren habe ich dort noch nie jemanden gesehen. Warum auch? Dort ist ja nichts. Cala del fico ist tote Hose.«
»Wer hat das Bündel entdeckt?«, schrie Rizzi.
»Was sagst du?«
Rizzi legte seine Hände trichterförmig an den Mund: »Wer die Entdeckung gemacht hat!«
Marcello Perasole wandte sich um, und kurz darauf erhob sich zögernd ein beleibter Mann in Shorts, mit einem Käppi auf dem Kopf, von seinem Sitzplatz. Sein Gesicht war knallrot und leuchtete in der Sonne. Unsicher hob er die Hand.
»Er ist Amerikaner«, schrie Perasole, als würde die Nationalität irgendetwas erklären. »Hast du gehört?«
»Schreib seinen Namen auf«, rief Rizzi, machte die entsprechende Geste, als würde er mit dem Finger etwas auf seine Handfläche notieren, und Perasole antwortete mit Daumen hoch.
Immer mehr Boote näherten sich aus verschiedenen Richtungen. Von einer Nussschale mit Außenbordmotor sprangen zwei Halbstarke ins Wasser, kraulten los, weil sie sich die Sache wohl mal aus der Nähe anschauen wollten, und wurden dabei von allen Seiten johlend angefeuert.
Rizzi ließ sich von Schifino das Megafon geben. »Hier spricht die Polizei«, rief er, und seine Ansage hallte von den hohen Felswänden wider. »Das Baden in dieser Bucht ist bis auf Weiteres untersagt. Kehren Sie zurück in Ihre Boote. Unterlassen Sie das Filmen und Fotografieren, und fahren Sie weiter.«
Während Schifino beidrehte, um den Felsvorsprung und das Gepäckstück darauf mit der Länge des Polizeibootes so gut wie möglich gegen die Blicke der Neugierigen abzuschirmen, versuchten Rizzi und Cirillo das, was da lag, genauer in Augenschein zu nehmen. Sie fotografierten es mit ihren Smartphones, vergrößerten beide mit zwei Fingern ihre Aufnahmen und sahen, dass es sich um einen schwarzen Hartschalenkoffer handelte, der mit einem Reißverschluss zusammengehalten wurde. Genau dort quoll aus einem Riss tatsächlich etwas Weißliches hervor, das schwer zu identifizieren war und matt im Sonnenlicht glänzte.
Schifino kam mit dem Polizeiboot nicht weiter als bis auf zehn Meter heran. Die Brücke konnte man also nicht anlegen. Und einfach die Hosenbeine hochkrempeln und hinüberwaten ging auch nicht, dafür war das Wasser zu tief.
»Gib Teresa Bescheid«, sagte Rizzi zu Cirillo, während er begann, seine Hosentaschen zu leeren. »Gatti soll nach Marina Grande und dafür sorgen, dass die Inselumrundungsfahrten bis auf Weiteres ausgesetzt werden.« Er zog sein T-Shirt aus und streifte die Schuhe ab. »Das betrifft auch Marina Piccola und die Privatboote. Wir können jetzt keine Gaffer gebrauchen.«
»In Ordnung«, sagte Cirillo.
Während seine Kollegin den Anruf erledigte, stieg Rizzi über die Leiter ins Wasser. Er brauchte nur ein paar Schwimmzüge, dann war er am Felsen, wo die Wassertemperatur stark abfiel, als ob von unten, vom Meeresgrund, etwas Eiskaltes heraufsteigen würde. Er griff mit den Händen nach einem Vorsprung, stemmte einen Fuß unter Wasser in den Stein, hoffte, auf keinen Seeigel zu treten, setzte den zweiten Fuß auf und versuchte, sich an dem scharfen Felsen hochzuziehen. Er brauchte jedoch mehrere Versuche, bis er es geschafft hatte und an Land war.
Auf dem unebenen Plateau hatte er nun das Gepäckstück direkt vor Augen. Der Koffer war nass, weil sich die Wellen am Felsen brachen, dabei Salzwasser aufspritzte und den Kunststoff besprühte. Rizzi beugte sich über den Riss im Reißverschluss.
»Alles okay?«, hörte er hinter sich Cirillo vom Polizeiboot herüberrufen. »Kannst du etwas erkennen?«
Rizzi antwortete nicht. Es gab keinen Zweifel: Was im Sonnenlicht wie Porzellan schimmerte, war vermutlich ein Unterschenkel. Er kämpfte gegen ein Gefühl der Übelkeit und hatte ein Brausen in den Ohren, während Cirillo rief: »Soll ich Teresa sagen, dass sie die Mordkommission in Neapel verständigt?«
Wie durch Watte hörte er, dass Cirillo ins Wasser stieg und herübergeschwommen kam, und obwohl die Sonne auf seinen nackten Schultern brannte, fröstelte er. Was sollte er tun? Er war Inselpolizist, und in dem Koffer steckte ein Mensch, vollständig oder zerstückelt, von jemandem verpackt und wie Müll über die Klippen entsorgt. Er war auf eine solche Situation nicht vorbereitet. So etwas passierte woanders auf der Welt, aber doch nicht auf Capri.
Er half Cirillo aus dem Wasser. Tropfnass, in Hose und Bluse, stand sie neben ihm, strich sich die Haare aus der Stirn, sagte nichts, betrachtete den Kasten, und als würde etwas von ihrer Ruhe und Konzentration auf ihn übergehen, bemerkte er, dass der Reißverschluss intakt war und wie bei einem Kleidersack über die ganze Länge verlief. Man brauchte ihn nur zu betätigen.
Cirillo nickte, und er nahm den Metallanfasser und zog den Reißverschluss auf. Stück für Stück gingen die Kunststoffhälften der Hartschale auseinander, und eine Person kam zum Vorschein, die äußerlich unversehrt zu sein schien. Zusammengekrümmt wie ein Embryo, lag sie da und hielt Arme und Hände schützend vor ihren Körper. Es handelte sich um eine Frau, sie war barfuß, trug einen Rock und ein T-Shirt, das mit Pailletten verziert war. Das dunkle Haar war von hellen Strähnen durchzogen und im Ansatz grau. Rizzi schätzte, dass die Frau ungefähr so alt war wie seine Mutter, Anfang, Mitte sechzig, vielleicht auch etwas jünger.
Cirillo kniete vor dem Leichnam und tastete die Taschen des Rocks ab. Als würde noch ein Rest Leben in ihm sein, bewegte sich der Körper: Die Hände rutschten weg, der Kopf fiel auf die Schulter, und das Gesicht kam zum Vorschein.
Die Augen unter den geschwungenen Brauen waren geschlossen, die vollen Lippen bläulich, die fahlen Wangen aufgeschwemmt. Über dem Nasenrücken verlief ein kleines Muster aus geplatzten Äderchen.
Rizzi begann, das dünne Futter des Koffers abzutasten und nach etwas zu suchen, das einen Hinweis auf die Identität der Toten geben könnte, als Cirillo bei der Toten einen Gegenstand aus der Rocktasche hervorzog. Es war ein Kugelschreiber. In verschnörkelter goldener Schrift stand auf den Stift gedruckt: Hotel La Principessa.
»Siehst du das?«, fragte Cirillo und deutete beim Leichnam auf eine Stelle am Hals, unterhalb der weichen Falte, die ein Doppelkinn bildete. Unscheinbare Verfärbungen zeichneten sich dort ab, die wie Schatten auf der farblosen Haut lagen.
»Totenflecken?«, fragte Rizzi.
Cirillo schüttelte den Kopf. »Die Frau wurde wahrscheinlich erwürgt.«