Das Krankheitsbild – eine Eingrenzung
Das Phänomen Tinnitus ist sehr subjektiv: Jeder empfindet sein Geräusch anders.
Tinnitus tritt überwiegend als ein hochfrequentes Geräusch auf – als ein hoher Ton, der meist den Charakter eines Pfeiftons hat. Tiefe Töne sind weit seltener und werden in der Regel auch als wesentlich weniger störend empfunden. Die hohen Töne werden von den Betroffenen als lauter eingestuft als die tieferen, wenn man nach der subjektiven Beurteilung fragt. Außerdem ist das Phänomen Tinnitus in jeder Hinsicht sehr subjektiv geprägt: Kein Ton gleicht dem anderen, jeder empfindet sein Geräusch anders. Dieser höchst subjektive Charakter der Ohrgeräusche macht eine einheitliche Klassifikation unmöglich. Wie also lässt sich das Krankheitsbild Tinnitus umgrenzen?
Tinnitus ist keine neue Krankheit. In allen Kulturen war dieses Krankheitsbild bekannt, ob im Europa der Antike oder in der alten indischen Naturmedizin Ayurveda. Der griechische Arzt Hippokrates, der um 460 v. Chr. geboren wurde, beschäftigte sich mit dem Phänomen des Ohrensausens ebenso wie der in Rom wirkende Claudius Galenus (129–199 n. Chr.).
Die Bezeichnung Tinnitus geht auf das lateinische tinnitus zurück, was so viel wie Klingeln oder Geklingel heißt. Sprachen die Mediziner noch im 19. Jahrhundert von „Sausen“ oder „Ohrentönen“, setzte sich in diesem Jahrhundert mit Tinnitus ein Name durch, der für alle Hörwahrnehmungen steht, die keine erkennbare äußere Ursache haben.
Schon die assyrisch-babylonische Medizin sprach in Keilinschriften vom „Singen der Ohren“. Es wurde aber nicht als Erkrankung aufgefasst, sondern als Botschaft von Geistern und Göttern. Vor allem Knaben wurden daher als Medium für Weissagungen geschätzt, glaubten die Menschen doch, durch sie sprächen die Götter. Die Griechen berichteten von der „kosmischen Musik“, und dem römischen Kaiser Titus wurde nachgesagt, er habe einen „Wurm in seinem Kopfe“.
In der Medizingeschichte taucht das Phänomen Ohrgeräusche durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder auf. Avicenna (Ibn Sina), der islamische Arzt und Philosoph (980–1037), beschäftigte sich ebenso damit wie Paracelsus (1493–1541) in seiner „Grossen Wundarztney“. Er schrieb über das „gedös der oren“ oder „oren sausen“.
Als erster versuchte der Anatom Guichard Joseph Duverney (1648–1730) eine wissenschaftliche Einordnung. Die Ursache dieses Phänomens, so nahm er schon 1683 richtig an, liegt entweder im Bereich des Gehirns oder der Ohren. So wurden die unterschiedlichen Arten der Ohrgeräusche in solche unterteilt, die durch eine Erkrankung des Gehirns verursacht worden waren, und in andere, die mit einer Erkrankung der Ohren in Zusammenhang standen. Schon diese erste Klassifikation unterschied einen echten und einen falschen Tinnitus – dem heutigen objektiven und subjektiven Tinnitus entsprechend.
Die zweite wissenschaftliche Einteilung nach Grapengießer von 1801 basiert auf der Verbindung des Tinnitus mit dem Hörverlust. Es wurden zwei große Kategorien unterschieden: Tinnitus, der mit einer Schwerhörigkeit einhergeht, und Tinnitus ohne Schwerhörigkeit.
1977 wurden die ersten Tinnitus-Masker eingesetzt.
Die dritte bedeutende Unterteilung nach Itard, erneut ein Franzose, von 1822 sah den Tinnitus noch komplexer und brachte auch statistische Daten mit ein. Dabei wurde erkannt, dass der Tinnitus ohne Hörverlust seltener auftritt als der mit Hörverlust. Auch die Tatsache, dass Tinnitus sowohl Ursache als auch Folge einer Schwerhörigkeit sein kann, wurde registriert.
Erst im vergangenen Jahrhundert wurden die Techniken verfügbar, um Tinnitus zu messen. Seit den 1970-er Jahren wird intensiv und mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin geforscht. Im Jahr 1977 wurden die Masker (siehe S. 85) in die Therapie eingeführt, seit 1979 finden alle vier Jahre internationale Tinnitus-Kongresse statt; die Forscher tauschen sich weltweit aus. Lange galten die Experten in den USA und Großbritannien als führend; doch mittlerweile treiben auch die Fachleute in Deutschland das Thema auf hohem Niveau voran. Das zeigen die regelmäßigen Tinnitus-Symposien hierzulande und das wachsende Interesse der Ärzte. Nicht zuletzt dank des Engagements der Deutschen Tinnitus-Liga e.V. wird das Krankheitsbild in der jüngsten Zeit auch von den Medien aufgegriffen.
Bis heute gibt es keine einheitliche Klassifikation des Tinnitus. Doch sind uns einige Kriterien bekannt, die in praktischer Hinsicht von großer Bedeutung sind und zu folgenden wichtigen drei Unterteilungen führten.