Das eigentliche therapeutische Problem ist der dekompensierte chronische Tinnitus, auch komplexer chronischer Tinnitus genannt. Was versteht man darunter?
Der dekompensierte chronische Tinnitus hat hauptsächlich Folgen psychischer Art.
Das ist ein Tinnitus, der schon längere Zeit (drei bis sechs Monate) besteht, schlecht oder gar nicht auf die angewandten Maßnahmen des Arztes anspricht und den Betroffenen erheblich belastet. Im Laufe der Zeit entwickelt sich dabei ein komplexes, besonders durch Merkmale psychischer Belastung geprägtes Krankheitsbild: das sogenannte Tinnitus-Syndrom. Was geschieht nun beim Einzelnen, der sich durch den Tinnitus belastet fühlt? Was kann der dekompensierte chronische Tinnitus für Folgen nach sich ziehen? Es sind hauptsächlich Folgen psychischer Art.
Als Betroffener fühlt man sich zunächst von dem Geräusch als solchem schon sehr belästigt. Dieses Geräusch ist ständig vorhanden, wo Sie auch gehen und stehen und was immer Sie auch tun. Es ist immer präsent. Sie stehen morgens auf – und es ist da. Sie gehen zur Arbeit – es ist da. Es begleitet Sie überall hin.
Wenn Sie nach der Arbeit nach Hause kommen und erst mal etwas ausruhen wollen und den Feierabend genießen, ist es immer noch da. Wie kann man dann noch ungestört reden und zuhören, wenn einem ständig etwas in den Ohren sitzt? Da macht kein Gespräch in noch so netter Runde oder im Kreis der Familie mehr Spaß. Beim Hören von Musik ist dieses Geräusch da und beim Fernsehen auch. Und nachts, wo jeder seine Ruhe braucht, raubt Ihnen dieses Geräusch den Schlaf.
Tinnitus ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen.
Sie können vor dem Geräusch nirgendwohin flüchten. Es gibt keine Möglichkeit zu entkommen. Sie fühlen sich ausgeliefert – und allein. Denn kein anderer Mensch kann das nachempfinden oder verstehen. Kein anderer glaubt überhaupt so recht, dass es so etwas wirklich gibt. Keiner versteht, wie Sie sich tatsächlich fühlen. Keiner kann den Ton hören, der Ihnen in den Ohren sitzt, und daher begreifen, wie unangenehm und belastend er wirklich ist. Manchmal wird man sogar ausgelacht, für leicht verrückt erklärt: „Du hast wohl einen kleinen Mann im Ohr!“ Das Misstrauen gegenüber der Umgebung wächst. Und hinzu kommt noch die Angst, eine undefinierbare Angst vor dem Ungewissen.
Selbst das Musikhören über Kopfhörer kann die Ohrgeräusche nicht immer übertönen.
Und wenn Sie dann zum Arzt gehen, hören Sie womöglich, da könne man eben nichts tun und müsse damit leben. Dann fühlen Sie sich noch schlechter, noch unverstandener, noch mehr alleingelassen. Mehr und mehr ziehen Sie sich in sich selbst zurück. Was soll man denn tun? Es wird ja doch nicht besser. Alles hat keinen Sinn mehr. Man geht in sich, grübelt über alles Mögliche. Abgründe tun sich im Inneren auf. Nicht einmal schlafen kann man mehr. Von Tag zu Tag wächst die Verzweiflung, von Tag zu Tag geht es schlechter.
Mit der Familie kann man nicht reden. Die Familienmitglieder leben ihr Leben weiter und wissen nicht, was in Ihnen vorgeht. Die Kollegen am Arbeitsplatz kümmern sich auch nicht darum, wie es Ihnen tatsächlich geht. Und außerdem – es hat ja doch keinen Sinn, den Leuten davon zu erzählen. Die verstehen das ja nicht. Es gibt keine Lösung. Dies ist der typische Teufelskreis einer Depression. Von den Patienten, die sich wegen ihrer Tinnitus-Beschwerden in stationäre Behandlung begeben, leiden rund 85 % an solchen depressiven Störungen. Der Höhepunkt dieser Depression ist der Gedanke an Selbstmord.