Von Fingerlein und Äugelein ist keine Rede mehr. Ich bin groß geworden. Komme mir wie ein Riese vor, der mit zusammengeklappten Beinen in einem Kinderbett schläft. Vor drei Wochen wurde mein Bett kurzerhand in das Elternschlafzimmer geschoben. In der Wohnung ist es eng geworden, weil alle fortwollen. Onkel Arthur verbringt die letzten Wochen vor seiner Auswanderung nach Amerika bei uns. Er schläft im Wohnzimmer. Die beiden Schneider Siggi und Sali wohnen auch bei uns. Um näher bei ihren Kunden zu sein, haben sich die beiden Schneider aus Lampertheim bei uns einquartiert. Sie haben mich aus meinem Kinderzimmer vertrieben. Zigarettenqualm vernebelt die Wohnung, der Boden ist übersät mit Fäden und Stoffschnipseln. Keiner beachtet mich. Lautlos gleite ich auf zwei ungleich großen Stofffetzen wie auf Schlittschuhen von einem Raum in den anderen. Mutter kommt mit dem Fegen nicht nach. Siggi und Sali, sagt Mutter, können sich vor Aufträgen nicht retten, sie nähen sich die Finger wund. Die Nähmaschine surrt bis spät in die Nacht. Die aufgedrehten Kunden wollen schnell noch eine neue Hose, ein neues Hemd, einen umgearbeiteten Anzug vor der ersehnten Ausreise.
Ich schlafe bei den Eltern. In Walters altem Kinderbett. Ein Erbstück. Hennes, Walters Vater, habe, als er noch klein war, in dem Bett gelegen. Ehrfürchtig nennt Mutter das simple hölzerne Bettgestell auf rollenden Füßen, in dem ich liege, ein barockes Kunstwerk. Was soll daran so besonders sein? Auf dem geschwungenen Kopfteil könnte eine Mäusefamilie vergnügt Achterbahn fahren. Das Kopfende ist bunt bemalt, ein hellblauer Himmel, zwei fette rosige Putten fliegen im Sinkflug direkt auf meinen Kopf zu. Die beiden hüten meinen Schlaf, behauptet Mutter. Eher erdrückt mich ihr drohender Absturz. Im Schlafzimmer der Eltern ist ohnehin an Schlaf nicht zu denken. Ein paar Wochen zuvor hätte ich meine Eltern mit größtem Vergnügen belauscht. Bloß bei dem heillosen Durcheinander vor der Auswanderung bleibt keine Zeit, zarte Kinderohren zu schonen. Die Großen haben keine Geheimnisse mehr vor mir. Aus Gewohnheit liege ich mit gespitzten Ohren im Bett. Aber mein Spürsinn ist nicht gefordert, mein Talent liegt brach. Abends, bevor die Eltern zu Bett gehen, tröste ich mich mit einer kleinen Fingerübung. Ich lerne Vokabeln und Grammatik aus einem englischen Wörterbuch, denke mir aus Spaß ein paar knifflige Rechenaufgaben in der neuen Zahlensprache aus. Auf der ersten Seite des Wörterbuchs, in der rechten Ecke, steht in Schönschrift der Name des ehemaligen Besitzers, die Jahrgangsstufe durch ein Komma säuberlich abgetrennt. Das Buch habe ich aus Mutters Nachttischschränkchen stibitzt. Ein Geschenk vom verliebten Brustmann.
Er bedient Mutter bevorzugt, sobald sie sein Lebensmittelgeschäft betritt. Seine Hundeaugen hängen an ihren Lippen, der verträumte Mund ist leicht geöffnet. Ich muss aufpassen, dass er Mutters Gesicht nicht von oben bis unten abschleckt. Fast rührt mich seine Treue, deswegen habe ich mich für sein einfallsloses Geschenk, das winzige Bonbon, mehr rot als Süßigkeit, laut bedankt. Ohne den Blick von Mutter abzuwenden, griff er blindlings in das Bonbonglas und reichte mir zwei weitere Köder. Einfangen lasse ich mich nicht. Ich glaube aber, ich tue ihm unrecht. Aus Brustmanns Augen sah ich Tränen kullern, als er Mutter das Wörterbuch schenkte. Er ist todtraurig, Mutter für immer zu verlieren.
Wir wandern aus. Weit fort. Für immer. Nach Amerika.
Onkel Arthur reist vor uns ab. Er setzt mich auf seinen enormen Koffer. Malt sich aus, wie er die Freiheitsstatue bei seiner Ankunft in New York hochachtungsvoll grüßen wird. Von seinem in Frankfurt gesparten Geld wird er sich in New Jersey eine Hühnerfarm kaufen. Zur Aufzucht der Hühner braucht er die fremde, schwierige Sprache nicht, von der er ohnehin nur ein paar Brocken versteht. Ob man ihn beim Kauf der Hühnerfarm übers Ohr hauen wird? Der Onkel wischt die Bedenken schnell fort. Die Eier, die Hühner, die Hühnerfarmen, eben alles sei in Amerika größer, besser, schöner, schwärmt er. In der Dämmerung beliefert er das schlafende New York mit einem Lastwagen voller frischer Eier, das Dotter so gelb wie die Sonne. Er wird sich an der Ostküste ein Eier-Imperium aufbauen. In Amerika sehen wir uns wieder, sagt er augenzwinkernd, dort darf ich auf seinem Schoß sitzen und den riesigen Lastwagen lenken. Er wird bald merken, dass er mich händeringend zum Verkauf seiner Eier braucht. Ich bin der Einzige, der perfekt Englisch spricht. Auf mein helles Köpfchen ist Verlass. Ich werde darauf achten, dass mein gutgläubiger Onkel in Amerika nicht betrogen wird. Den Krabeiski nehme ich zur Sicherheit mit. Ganoven gibt es überall.
Die Wohnung ist leer geworden. Mein Bett steht wieder im Kinderzimmer. Früh am Morgen stehen die Eltern vornehm gekleidet im Flur. Eine Autofahrt nach Ludwigsburg steht an. Draußen stürmisches, kaltes Novemberwetter. Mutter trägt ihr bestes Kleid unter dem Pelzmantel, die Haare zu Schillerlocken gedreht, die teure Perlenkette baumelt an ihrem Hals. Vater, in einem mondänen Dreiviertelmantel mit Pelzkragen, trägt den Hut verwegen auf dem Kopf. Ein elegantes Paar auf dem Weg, die Welt zu erobern. Und ich, ihr Sprössling, sehe wie ein grellbunter, just dem Dschungel entflogener Papagei aus. Allerdings hätte mich jeder Vogel auch aus größter Entfernung als artfremdes Wesen ausgemacht. Ich war eine grässlich schillernde, bunt gekleidete Witzfigur. Siggi und Sali verdanke ich diese seltsame Aufmachung. Es war ihr Abschiedsgeschenk, bevor sie mit Mutters Freundin, der Roten, nach Italien aufbrachen, um endlich das heiß ersehnte Schiff nach Haifa zu besteigen. Ein echtes Danaergeschenk haben die beiden mir hinterlassen. Sie haben meinen Eltern den Floh ins Ohr gesetzt, die Kleidung würde aus mir einen richtigen kleinen Amerikaner machen! In der Nacht vor ihrer Abreise hatten sie bunte Stoffreste zu einem Anzug für mich verarbeitet. Weil Knöpfe fehlten, brachte Vaters Geschäftsfreund Hennes, in Begleitung seines Sohnes Walter, noch am frühen Abend welche vorbei. Perlmuttknöpfe. Zum Abschied hatte der große Walter mir noch ein Kunststückchen vorgeführt, einen tollkühnen Kopfstand.
Ich, der Stolz meiner Eltern, sah aus, wie zwei Schneiderlein vom äußersten Zipfel der Erde sich ein amerikanisches Kind vorstellten. Ein amerikanischer Papagei.
Die erste Hürde auf dem Weg nach Amerika war die gefürchtete amerikanische Gesundheitsbehörde in Ludwigsburg. Endlose Untersuchungen auf Amerikatauglichkeit. Mutters Hände waren trotz ihres Pelzmantels eiskalt. Eine Mischung aus Hoffnung und Furcht verzerrte ihr Gesicht. Ihr zuliebe lasse ich den hässlichen Anzug, den ich mir am liebsten vom Körper reißen würde, an.
Es war bereits der zweite Anlauf nach Ludwigsburg. Beim ersten Mal brachen wir die Reise nach genau zehn Minuten wieder ab. Ich, der amerikanische Papagei, saß vorne bequem auf Mutters Schoß und schielte auf Vaters Uhr. Er bremste scharf. Ein abgemagertes, kleines schwarzes Kätzchen überquerte auf Samtpfoten die Straße. Mutter schrie auf.
»Eine schwarze Katze bringt Unglück. Ein schlechtes Omen. Kein guter Tag. Wir fahren zurück.«
»So ein Unsinn«, fauchte Vater und gab Gas. Mutters Mundwinkel bebten. Vater wendete und fuhr zurück.
Endlich in Ludwigsburg. Mir schwirrt der Kopf. Oben, fast am Himmel, flattert die ehrfurchtgebietende, gewaltige amerikanische Flagge. Wozu die Aufregung? Es sind doch nur Sternchen und Streifen auf blauen Stoff genäht worden. Riesengroße, schwer bewaffnete, uniformierte Amerikaner verlangen unsere Papiere, bevor die Eingangstore sich öffnen. Eine Kaserne mit Innenhof liegt vor uns, träge wie eine satte, graue Schlange. Wir betreten ihr Inneres. Schlangen sind tückisch. Da ist Vorsicht geboten.
»Klara«, schärft Vater Mutter vor dem Aussteigen ein, »kein Wort von deinem Nervenzusammenbruch. Ich schrieb in unsere Papiere, wir drei sind an Leib und Seele kerngesund!«
Vater lügt aus gutem Grund. Die Amerikaner lassen nur Gesunde in ihr Land. Unter Blinden sind die Einäugigen Könige. Ob ich Mutter schnell noch ein Auge andichte?
Fahrig streicht Mutter ihr Kleid glatt, Vater rückt seinen Hut zurecht. Eine geschäftige amerikanische Krankenschwester nimmt mich an die Hand und führt mich zum Arzt. Sein teigiges Gesicht sieht wie ein aufgegangener Hefekuchen aus.
Eine Pockenimpfung stünde an, ich bräuchte keine Angst haben. Angst? Dieses Wort kenne ich gar nicht. Ich bin Siegfried, der Unbesiegbare. Ein Drachentöter ist ein Feigling gegen mich. Wie ich denn hieße, fragt das Kuchengesicht scheinheilig. Ein scharfes Messerchen blitzt in seiner Hand. Um mich zu überrumpeln, behauptet er, er würde mir meinen Anfangsbuchstaben, also ein B, in den Arm ritzen. Ein Impfstoff in Form eines Buchstabens? Darauf falle ich nicht rein. Schon steckt die schmerzhafte Klinge in meinem Fleisch. Ich verkneife mir einen Schrei. Der Krabeiski in mir ist wütend und will raus. Ich halte ihn zurück. Später, als ich im Flur bin, reiße ich das Pflaster ab und sehe mir den Pfusch an meinem Arm gründlich an.
Mutter hat trotz meiner Tapferkeit schlechte Karten. Eine Röntgenaufnahme ihrer Lunge war verwackelt, das Röntgen musste wiederholt werden. Die Amerikaner lassen keine Lungenkranken in ihr Land. Auch die kleine Rolle Dollarscheine, die Mutter der Krankenschwester in die Hand drückt, hilft nicht. Seelenruhig händigt die Krankenschwester Mutter das Geld und ihre Passbilder wieder aus. Mutter ließ sich extra die Haare machen, bevor sie sich beim Fotografen ablichten ließ. Ihr Lächeln war wunderschön.
Sechs Wochen später stellt sich Mutter nochmals bei der Gesundheitsbehörde vor. Drei Herzen klopfen bis zum Hals. Mutter habe einen winzigen Schatten auf der Lunge, sagt der Arzt und hebt bedauernd die Schultern, deshalb wird ihr Einwanderungsgesuch abgelehnt. Es ist der verlogene Impfarzt. Das fahle Kuchengesicht. Ich habe ihn gleich erkannt. Von so einem kommt nichts Gutes. Warum glauben sie ihm? Mutter bringt vor Schreck kein Wort über die Lippen. Vater erbleicht. Ich fasse mich als Erster. Amerika will uns nicht.
»Wir bleiben in Deutschland«, sagt Vater während der Rückfahrt. Vier Worte besiegeln unsere Zukunft. Stille. Nur das Motorengeräusch ist zu hören. Wie enttäuscht Vaters Stimme klang. Mutter sitzt wie gelähmt auf ihrem Sitz. Ich krabbele auf die Rückbank. Family Bromberger. Schön hätte das geklungen. Bye-bye. Aus und vorbei. Wer passt auf Onkel Arthur auf, wenn ich nicht nach Amerika komme? Er wird Betrügern in die Hände fallen.
In Deutschland gibt es Arbeit für mich zur Genüge. Der starke Krabeiski ist gefragt. Ob sie Liliput finden werden? Ich muss Mutter beschützen und auf Vater achten. Euer Sohn ist ganz nahe bei euch. Meiner Spürnase entkommt Mechthild Töffler nicht. Ich werde sie finden. Und ich werde sie gemeinsam mit dem mutigen Walter abholen.
Das Gute an unserem Hierbleiben ist, den abscheulichen Anzug muss ich nie wieder anziehen. Und Brustmann wird vor Freude an die Decke springen, wenn er hört, dass wir zurückgekehrt sind. Der verliebte Lebensmittelhändler wird Mutter und mich beim ersten Einkauf mit einem Bonbonregen empfangen. Aber sein englisches Schulbüchlein gebe ich ihm nicht zurück.
Geschenkt ist schließlich geschenkt.