Schon von unterwegs hatte Irmi mit Kathi telefoniert und sie gebeten, für den nächsten Morgen alle im Büro zusammenzutrommeln. Als Irmi am Sonntagmorgen um zehn in der Polizeiinspektion eintraf, hatte der Hase die anderen schon auf Stand gebracht. Er trug Skitourenoutfit und wollte anschließend noch auf den Berg. Viel zu spät natürlich für seine Begriffe, aber wegen des aktuellen Falls ließ er seine Prinzipien vom frühen Bergvogel sausen.
»Die Idee mit dem Fresko klingt für mich logisch«, meinte Kathi gerade. »Und wenn der Hubsi im Februar vor Ort war, passt das zeitlich auch zu den Symptomen der beiden. Der verabreicht ihnen die Glasfasern, weil er nicht will, dass sie das Luini-Fresko publik machen.«
»Aber, ähm, er konnte doch nicht damit rechnen, dass die beiden so lange schweigen?«, gab Andrea zu bedenken.
»Vielleicht hatten sie es noch gar nicht gefunden und waren dem Fresko nur auf der Spur?«, schlug der Hase vor. »Womöglich haben sie von Ebersheim völlig arglos davon erzählt, ohne einzukalkulieren, dass bei ihm alle Alarmglocken läuten würden. Wenn du diese Begeisterung für Kunst und Gemälde hast, dann denkst du in anderen Kategorien. Aber von Ebersheim ist ein knallharter Geschäftsmann, der walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Und vor Mord schreckt so einer bestimmt nicht zurück.«
»Sie san scho so a Brain«, meinte Sailer bewundernd.
Irmi lächelte. Der Hase war gebildet, intelligent und vielschichtig. Nach Begegnungen wie gestern in Splügen verstand sie nicht so ganz, warum er ausgerechnet sie erwählt hatte. Wieso suchte er die Gesellschaft einer Frau, die ihm in intellektueller Hinsicht nicht das Wasser reichen konnte? Zudem war sie weder jung noch schlank. Sie rief sich zur Räson und sah in die Runde.
»Wir spekulieren nach wie vor nur wild herum«, sagte sie. »Für mehr Fakten brauchen wir diesen Hubertus.«
»Yes, where the hell is Hubsi?«, rief Kathi.
»Wir fahren zu Silvana Sieber«, schlug Irmi vor. »Und treten ihr …«
»… auf ihre grottigen High Heels«, ergänzte Kathi.
Irmi grinste und wandte sich an Andrea. »Hast du was über Silvana Sieber gefunden?«
»Wenig. Sie ist siebenundvierzig Jahre alt und in Garmisch geboren. Mädchenname: Geiger. Ausbildung als Arzthelferin. War mit einem Martin Sieber verheiratet, hat eine Tochter namens Bianca. Martin Sieber ist mittlerweile verstorben. Das Mädchen ist sechsundzwanzig und studiert in Weihenstephan Umweltplanung und Ingenieurökologie. Keine Vorstrafen, nicht mal ein Strafzettel.«
»Vielleicht hat die Silvana ihren ersten Mann ums Eck gebracht?«, schlug Kathi grinsend vor. »Und schröpft jetzt den Hubsi?«
»Danke, Andrea«, sagte Irmi. »Suchst du bitte auch noch ein paar Infos über Hubsis Unternehmen raus?«
»Klar. Mach ich.«
»Der Rest kann heimgehen«, meinte Irmi.
»I kannt aa dobleibn«, sagte Sailer.
»Sailer, heute ist Sonntag!«, rief Irmi.
»Mei Frau räumt den Gartenschuppen auf«, brummte er.
»Und wenn Sie daheim sind, räumen Sie mit?«, konterte Irmi grinsend.
»Wenn sie so a Projekt hot, is mei Weib unerträglich. Oiso dann.« Der Sailer tippte sich an den imaginären Hut und ging.
Der Hase drückte Irmi ein Küsschen auf die Wange und verschwand ebenfalls.
Wenig später standen Irmi und Kathi vor der Villa des Hubertus von Ebersheim. Silvana trug heute eine Jeans mit Pailletten am Saum und einen kurzen Pullover, der obenrum spannte. Echt war der Busen darunter ganz sicher nicht.
»Sie schon wieder. Es ist Sonntag!«
»Ihnen auch einen guten Morgen«, sagte Kathi und ging einfach an Silvana Sieber vorbei in den Raum, den sie ja schon kannten. Wieder war ein Proseccoglas am Start.
»Frau Sieber, wir müssten jetzt wirklich Ihren Lebensgefährten sprechen«, erklärte Kathi.
»Ich sag doch, er ist auf Geschäftsreise.«
»Auch am Sonntag?«
»Ja, was glauben Sie? Er ist Unternehmer. Nicht bloß unter der Woche.«
»Der Unternehmer wird ja wohl ein Handy haben, wenn er so viel unternimmt!«, rief Kathi wütend.
»Zwei, aber wenn er nicht drangeht, dann geht er nicht dran.«
»Ach was!«
»Rufen Sie in der Lausitz an. Da ist der Firmensitz. Vielleicht wissen die etwas. Amelie Lohberger ist seine Assistentin. Die kennt seine Termine.«
»Sie nicht?«
Silvana Sieber zwinkerte und nahm einen Schluck Prosecco. »Wozu soll ich seine Geschäftstermine kennen?«
Aus ihrer Sicht völlig korrekt. Es reichte, dass sie sein Geld ausgab. Und solange der Prosecco nicht versiegte, schien ihre Welt in Ordnung zu sein.
»Wie lange sind Sie denn schon ein Paar?«
»Warum?«
»Wie lange?«
»Seit 2006, wir haben uns bei einer Maibaumfeier kennengelernt.«
»Wie schön«, sagte Kathi. »Sie waren vorher verheiratet?«
»Ich weiß zwar nicht, was Sie das angeht, aber bitte: Mein Mann ist 2002 verstorben. An Krebs. Das war eine schwere Zeit. Hubsis Vater ist auch 2002 verstorben, wir haben beide einiges durchgemacht. Meine Tochter war gerade mal sechs, als ihr Papi starb. Sonst noch Fragen?« Das klang nun doch recht provokativ. »Meine Schuhgröße ist 39. Ich trage Kleidergröße 38/40. Brauchen Sie weitere Daten von mir?«
»Frau Sieber, wir möchten Sie nicht belästigen, aber es geht um zwei Todesfälle. Sie haben neulich gesagt, dass Sie schon lange nicht mehr am Lago gewesen sind, oder?«, versuchte es Irmi mal aus einer anderen Ecke.
Silvana Sieber überlegte kurz. »War ich auch nicht. Im Januar zuletzt.«
»Ihr Lebensgefährte war aber da. Zweimal. Im Februar und kürzlich noch einmal.«
»Ja? Kann sein. Dann war er eben dort. Mich interessiert die Villa erst, wenn sie bewohnbar ist! Im Januar war das eine Ruine. Da braucht es viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie das mal werden könnte. Wenn er dort war, umso besser. Man muss den Handwerkern auf die Finger sehen. Und ich kontrolliere ihn doch nicht!«
»Und telefonieren tun Sie auch nicht? Wie der Tag so war?«
»Wie oft muss ich das jetzt noch sagen? Hubsi ist Geschäftsmann, aber seine Geschäfte interessieren mich nicht. Er ist ständig irgendwo. Auch mal in Italien.«
»Warum?«
»Er hat Futterlieferanten. Da fährt er schon auch mal zu den Häfen.«
Da fährt er schon auch mal zu den Häfen. Was war das für ein Satz? Der Mann führte einen Großbetrieb und holte ja wohl kaum sein Futter sackweise in Genua ab?
»Frau Sieber, um nochmals auf Antonia Bauernfeind zurückzukommen«, sagte Irmi. »Die hat sich außer dieser einen kurzen Kontaktaufnahme wirklich nicht bei Ihnen gemeldet? Oder hat Sie besucht?«
»Nein, wieso auch?«
Das kam zu schnell. Etwas in ihrer Stimme wackelte, was Irmi nicht dem Prosecco zuschrieb. Den schien sie ja sehr gut zu vertragen.
»Wenn wir etwas wissen müssen, sagen Sie uns das, Frau Sieber?«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es so, als knicke Silvana Sieber ein. Dann straffte sie die Schultern. »Was wollen Sie dauernd? Ich gebe Ihnen die Durchwahl von Amelie. Warum muss ich seine Termine kennen? Das ist nicht mein Job!« Sie leerte ihr Glas. »Und dass diese Antonia tot ist, tut mir leid. Ich kannte sie aber kaum. Ich hab sie einmal gesehen. Und ich muss jetzt auch weg!«
»Die Nägel machen lassen?«, kommentierte Kathi boshaft. »Ach so, ist ja Sonntag. Was machen Sie eigentlich so den ganzen Tag?«
»Ach, Sie meinen, ich häng hier rum?«
Kathi und Irmi schwiegen.
»Ich habe Urlaub. Und sonst arbeite ich in der Altenpflege.« Silvana Sieber fixierte Kathi mit den Augen. »Teilzeit bei einem Pflegedienst. Ich hoffe, das passt zu Ihren Klischees.«
Das kam wirklich unerwartet.
Die Frau schrieb ein Zettelchen und reichte es Irmi. Dann machte sie eine Bewegung zur Tür hin. Da war nichts mehr zu holen.
»Alter!«, rief Kathi, als sie draußen standen.
»Sie lügt oder verschweigt etwas. Oder beides. Aber so kommen wir nicht weiter an sie ran«, sagte Irmi.
»Sie nervt mich einfach. Lungert rum, süffelt Prosecco, macht auf Hasi, macht auf doof. Dabei ist die gar nicht so doof! Und dann haut sie raus, sie sei Altenpflegerin. Wie passt das denn zusammen?«
»Eigentlich sollten wir uns schämen. Wir denken doch auch bloß in Schubladen. Animalprint gleich Luxusweibchen. Und genau genommen ist es ja weder selten noch verwerflich, das Geld des Gatten oder Gefährten auszugeben. Könntest du auch, wenn du dir einen Geldigen suchen würdest«, bemerkte Irmi grinsend.
»Aber irgendwas weiß die doch!«, meinte Kathi.
»Etwas, was sie mit uns nicht teilen möchte. Leider. Sie mag uns nicht. Dich schon gar nicht!« Irmi lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Wir müssen mehr über Hubsi erfahren. Irgendwo muss der ja stecken. Und sei es im Hafen unter italienischer Frühlingssonne.«
Sie fuhren ins Büro zurück, holten sich einen Kaffee und gruppierten sich um den Schreibtisch von Andrea, die natürlich noch da war. Wie immer war sie sehr effektiv gewesen.
»Also, der Hubertus von Ebersheim stammt von einem Gut in Hessen, bei Homberg an der Ohm.«
»Ohmmm«, machte Kathi.
»Ein Fluss, viel plattes Land mit einigen sehr großen Betrieben, auch Pferdegestüten. Die von Ebersheim haben fast dreihundert Hektar.«
»Das ist viel Holz«, sagte Irmi.
Andrea nickte. »Holz weniger, aber es war ein Mischbetrieb mit Rinderrassen wie Limousin und Charolais, Getreide, Gemüse und einer Hühnerzucht. So was wie alter Landadel, mit Eigenjagd. Der Senior, der 2002 verstorben ist, hieß ebenfalls Hubertus. Er hatte zwei Söhne, das wissen wir ja schon. Der Jüngere hat den Betrieb übernommen, während Hubertus Agrarökonomie in Berlin studiert hat. Da hat er auch seine Frau kennengelernt, in deren Geflügelbetrieb in Brandenburg er eingeheiratet hat. Er scheint ziemlich erfolgreich gewesen zu sein, aber die Ehe wurde geschieden.«
»Weiß man, warum?«, fragte Irmi.
»Nein, aber interessant ist, dass er nach der Scheidung den Betrieb verlassen und wenig später den maroden Konkurrenzbetrieb gekauft hat. Wo er einen kometenhaften Aufstieg hingelegt hat.«
»Gekauft hat? Da reden wir doch von ordentlichen Summen, oder?«
»Keine Ahnung, so weit konnte ich noch nicht vordringen. Ich habe im Archiv eines Agrarblatts gelesen, dass er und seine Frau unterschiedliche Vorstellungen von der Geschäftsführung gehabt hätten. Die Branche war wohl überrascht, dass er in den maroden Betrieb in der Lausitz investiert hat. Aber er hat furios expandiert. Der Betrieb heißt heute MyEi und besteht aus fünfzehn Ställen mit etwa achthunderttausend Legehennen. Fünf Ställe liegen in Niederbayern, zehn in der Lausitz. Die Rede ist von rund zweihundert Millionen Eiern jährlich.«
»Wahnsinn!«, sagte Kathi. »Und die hocken bei so einem Arsch in Legebatterien, oder?«
»Nein, MyEi scheint ein Vorzeigebetrieb zu sein, mit Bodenhaltung und Freilandhaltung. Er hat sogar eine Biolinie, das sind die Eier aus Niederbayern. Außerdem verkauft er Hühnermobile.«
»Was bitte?«
»Na, diese Camper für Hühner, die man momentan überall sieht. Meist in Kombination mit einem Vierundzwanzig-Stunden-Eierautomaten am Hof«, erklärte Andrea.
Sie schwiegen eine Weile.
»Ehrlich gesagt denke ich wenig über Hühner nach«, brachte es Kathi auf den Punkt. »Wir hatten immer eigene Hühner. Die haben wir übrigens immer noch, Elli liebt sie. Deshalb behält sie sogar die uralten, die nicht mehr legen.«
»Bernhard hatte auch Hühner, die sind aber mit nach Ungarn gezogen«, sagte Irmi und schluckte. »Und jetzt bekomme ich meine Eier von Lissi. Die hat übrigens auch so ein Hühnermobil.«
»Ja, aber die meisten Leute kaufen ihre Eier im Supermarkt. Die von MyEi sind jetzt ganz groß in die Werbung mit den Bruderhähnen eingestiegen. Schaut mal.« Andrea drehte den Bildschirm, damit alle die süßen Flauschküken sehen konnten. Der Slogan über dem Foto lautete: »Lasst die Brüder leben!«
Irmi ließ die Augen über den Bildschirm wandern. Die Worte Achtsamkeit und Gewissen kamen beinahe inflationär vor. Die Sprache hatte sich verändert, neue Worte hatten Hochkonjunktur. Vulnerabel, Mutante, Maskenpflicht, Inzidenz, Verschwörungstheoretiker, Superspreader und Schwurbler – das waren die Gewinner im Duden. Und jetzt waren die Bruderhähne dazugekommen.
»Das Kükentöten ist seit diesem Jahr verboten«, berichtete Andrea. »Vorher war es so, dass man nur weibliche Legehennen aufgezogen hat, weil sie nun mal Eier legen. Männliche Eintagsküken wurden getötet.«
»War das das mit dem Schreddern?«, fragte Kathi.
»Was ich mir auf die Schnelle anlesen konnte, wurden sie in der Regel per Gas getötet. Das Schreddern ist in Deutschland schon seit zehn Jahren verboten. Die Bilder, die man sieht, sind angeblich Polemik und stammen aus dem Ausland. War zumindest auf einer Seite der Geflügelhalter zu lesen. Ob das stimmt, weiß ich nicht.«
Sie schwiegen eine Weile und starrten auf den Bildschirm. Die gelben Küken blickten sie vom Bildschirm heraus ach so putzig an.
»Okay«, meinte Irmi schließlich. »Es bleibt dabei. Wir müssen mit Hubsi reden. Wir haben zwar die Nummer der Sekretärin, da wird heute aber keiner sein. Ich verdamme euch zu einem freien Sonntagnachmittag. Was macht ihr?«
»Ich putz meine Pferde«, sagte Andrea. »Die verlieren Berge von Winterpelz.«
»Und du, Kathi?«
»Ich mach nix. Setz mich in die Sonne und hoffe, dass Elli einen Kuchen gebacken hat«, meinte Kathi.
Was mehr als wahrscheinlich war, dachte Irmi. Und womöglich würde sie von Lissi auch ein Stück bekommen.
Als sie auf den Hof fuhr, rannte Raffi ihr entgegen. Wenig später kam Lissi. Sie sah ernst aus.
»Lissi, was ist los?«
»Der Kater …«
»Was ist?«
Irmi befürchtete immer, dass die Kater weiter weglaufen und unten an der Straße überfahren werden könnten. Sie war zwar nur für Anlieger frei, aber eben auch eine ländliche Rennstrecke. Doch die Alternative wäre gewesen, die beiden im Haus zu lassen, und das war für Irmi keine Option.
»Der Kleine, er liegt hinter unserem Holzregal. Raffi hat ihn gefunden.«
»Tot?«
»Nein, aber völlig apathisch.«
Sie folgte Lissi zu einer Holzbeige, die sich ans Ferienhaus lehnte. Irmi ging in die Knie, und hinter dem Holz, auf welken Blättern, lag er. Sie zog ihn ganz vorsichtig heraus und erschrak. Er wog fast nichts mehr. »Hilf mir«, sagte sein Blick, der Irmi erschütterte.
Sie trug ihn ins Haus und wickelte ihn in eine Decke. Das hätte er sonst nie zugelassen. Sie streichelte ihn mechanisch.
»Ich ruf an«, sagte Lissi.
Er dauerte eine halbe Stunde, bis die Tierärztin da war. Sie horchte ihn ab. Sah Irmi an.
»Ich bin ein bisschen geschockt, dass es nun doch so schnell gegangen ist. Wir könnten natürlich versuchen …«
»Nein«, sagte Irmi.
»Das ist sicher besser so. Wir gewinnen maximal eine Woche. Er steuert in ein Multiorganversagen.«
Die Tierärztin zog die erste Spritze auf.
»Er wird gleich schlafen«, sagte sie.
Schlafen? Irmi versuchte immer noch, die Tränen zurückzuhalten. Sie stammte schließlich aus einer Landwirtschaft. So war es nun mal – ein Kommen und Gehen. Ein sanfter Frühling, ein schneller Sommer, ein welkender Herbst, ein stiller Winter. Farbe und Tristesse im Wechsel. Ein ewiger Reigen.
Doch sie hatte sich nie daran gewöhnt. Nicht bei Wally, nicht bei Irmi Zwo und schon gar nicht beim Kater. Der Kleine, der immer schon so zart gewesen war, ganz anders als der Große mit dem dicken Katerschädel. Er war auch nie so selbstbewusst gelaufen wie der Große, der immer wie ein breitbeiniger Django unterwegs war. Und der Kleine war zwei Jahre jünger, warum musste er vor seinem Freund gehen? Er hatte schon beim letzten Wiegen nur noch zweieinhalb Kilo gewogen, Pelz über einem Skelett. Das ruhelose Herz, die völlig entgleiste Schilddrüse. Es war nicht neu, doch es hatte sich in den letzten Monaten manifestiert. Die Verluste nahmen zu, überwogen längst das, was es noch zu gewinnen gab.
Irmi hatte immer gedacht, ihr würden die Krisen erspart bleiben, die andere an runden Geburtstagen befielen. Sie hatte sogar den Sechziger recht unaufgeregt überstanden. Aber nun sprang es sie an: Es würden immer mehr Tage kommen, die aus Abschieden bestanden, von Menschen, von Tieren. Von Ideen und Idealen. Von Hoffnungen. Warum war sie keine, die plötzlich nach Goa oder Sri Lanka flog, Yoga lernte und den dreißig Jahre jüngeren Lehrer vögelte? Warum begann sie nicht ein spätes Studium der Psychologie oder Philosophie, um sich selbst zu finden? Vermutlich, weil sie nichts mehr zu finden hatte. Die Fakten waren auf dem Tisch, genau wie die Brösel und ein Kaffeefleck. Sie war nun einmal so, wie sie war. Pragmatisch, praktisch, zufrieden. Und wenn sie diese berühmten drei Wünsche frei hätte? Raffi sollte ewig leben, der große Kater auch, und Fridtjof sollte bitte nicht vor ihr sterben …
Der Kater schnarchte nun. Sie streichelte ihn mechanisch. Er übergab sich noch einmal. Ja, es war zum Kotzen, dieses ganze dumme Leben. Die Tierärztin horchte nochmals hin, zog die Spritze auf. Release hieß das Präparat, ein hübscher Name für den Tod.
»Er hat es geschafft«, sagte sie schließlich und drückte Irmis Hand.
Der Kleine hatte es geschafft, Irmi hingegen würde das Bild nun mit sich herumtragen. Wieder ein Bild in der Totengalerie. Und da war dieser untröstliche Schmerz.
Sie ging hinaus. Der Himmel sah dramatisch aus – helltürkis mit orangefarbenen Schlieren. Die Berge standen schwarz und schweigend da, aber das Orange umgab sie wie ein Feuerschleier. Der Himmel zollte dem Kater allen Respekt.
Lissi hatte auch den Hasen angerufen, der plötzlich dastand. Er umarmte Irmi nicht, denn er wusste, dass sie das jetzt nicht konnte. Einen Moment sah er sie an, dann verschwand er und kam nach zwanzig Minuten wieder. Er hatte drüben zusammen mit Lissis Sohn Felix eine kleine Holzkiste zusammengeschraubt. Einen Sarg. Darauf stand: Der Kleine, ein großer Jäger .
»Ich habe ein Loch ausgehoben«, sagte er leise.
Ein Grab neben Wally. Sie setzten den Sarg hinein. Warfen Erde darüber. Stellten eine Grableuchte drauf.
»Auf den Kleinen«, sagte der Hase und reichte Irmi, Lissi und Felix einen Zirbenschnaps.
Sie heulten alle. Auch die Landwirtin Lissi gönnte sich Tränen an Katzengräbern, wenn ein Lamm einging oder ein anderes Lieblingstier gehen musste. Dafür liebte Irmi sie und den Hasen. Für vieles andere auch, aber ganz besonders für solche Momente.
Der Tod von Tieren wog genauso schwer wie der von Menschen – oder sogar schwerer. Als alle weg waren, Irmi im Bett lag und der große Kater sich auf ihre Füße legte, kamen die anderen Tränen. Die Flutwellentränen, die aber den Schmerz nicht wegspülten.