14

Als Irmi am nächsten Morgen ins Büro kam, waren Andrea und Kathi schon im Büro, obwohl Wochenende war. Der aktuelle Fall hatte nun einmal oberste Priorität.

»Ich habe mir das Tablet angesehen«, erzählte Andrea. »Da sind noch viel mehr Videos aus Polen drauf. Und Filme aus Hühnerhöfen. Hat mir etwas auf den Magen geschlagen. Aber sonst ist nichts dabei, was wir nicht schon wüssten.«

»Danke. Ist unser Besucher schon da?«

»Ich glaube nicht, dass Fabian kommt«, meinte Andrea.

»Warum?«

»Er ist am 31. März von München nach Toronto geflogen.«

»Nein, oder?«

»Doch!«

»Ach, Scheiße!«, rief Kathi. »Und Bianca wird weiter behaupten, sie hat das ganz alleine getan. Was soll das werden? Ein Indizienprozess? Spinn i?«

»Jetzt wartet mal! Bianca Siebers Anwältin wartet auf euch«, sagte Andrea. »Ich hab sie ins Besprechungszimmer gesetzt.«

»Da dürfen wir gespannt sein«, meinte Irmi, während sie ins Besprechungszimmer gingen.

»Na, da haben Sie uns ja ein tolles Ei gelegt!«, sagte Kathi statt einer Begrüßung.

»Guten Morgen. Inwiefern?«

»Der von Ihnen angekündigte Fabian May ist abgehauen. Wir vermuten, dass er Ihrer Mandantin geholfen hat.«

»Fabian May? Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn angekündigt zu haben. Meine Mandantin hat außerdem ganz eindeutig gesagt, dass er gar nicht vor Ort war.«

»Dann lügt sie!«, rief Kathi. »Es wäre klüger, Sie würden ihr klarmachen, dass ihr ein vollumfängliches Geständnis nur helfen kann!«

»Warten Sie doch bitte kurz. Ich denke, es wird sich dann einiges aufklären.«

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Andrea betrat den Raum. »Herr von Ebersheim ist eingetroffen«, erklärte sie. »Volker von Ebersheim.«

»Genau den habe ich Ihnen gestern angekündigt«, sagte die Anwältin. »Volker ist ein Bekannter von mir und hat mich gebeten, Bianca zu vertreten. Heute ist er gekommen, um eine Aussage zu machen.«

Selbst Kathi war sprachlos.

Wenig später saßen sie ihm gegenüber. Volker von Ebersheim war ein attraktiver Mann, braun gebrannt, mit grauem Kurzhaarschnitt, schlank und muskulös. Man hätte ihn gut bei einem Fotoshooting für Outdoor- oder Jagdmode einsetzen können. Auch seine Stimme war angenehm, das hatten sie am Telefon ja schon feststellen dürfen.

»Herr von Ebersheim? Wir sind ein wenig überrascht«, gestand Irmi.

»Könnten Sie den Titel weglassen? Ich hasse dieses von. Ich bin Landwirt.«

»Also doch kein alter Landadel?«, bemerkte Kathi mit provozierendem Unterton.

»Keine Domestiken, keine Vasallen«, entgegnete er. »Das hatten wir nie. Ich kann ihnen aber gerne die Chronik unserer Familie zukommen lassen.«

»Danke, uns reicht die Gegenwart«, sagte Irmi und trat Kathi auf den Fuß. »Ich nehme an, Sie sind wegen des Todes Ihres Bruders am Graseck gekommen?«

Er nickte.

»Bianca Sieber hat Ihren Bruder entführt«, sagte Kathi, die sich offenbar wieder etwas beruhigt hatte. »Sie hat ihn fast eine Woche lang festgehalten und gefilmt. Ihr Plan war, ein großes Fass aufzumachen und das Video online zu stellen. Sie wollte der Welt zeigen, was für eine Augenwischerei diese ganze Bruderhahnthematik ist. Das hat sie auch alles zugegeben, sie behauptet aber, keine Helfer gehabt zu haben. Und sie will auch nicht wissen, wie Ihr Bruder an die Brücke gekommen ist. Sie wollen uns jetzt erzählen, dass Sie ihr geholfen haben, oder?«

»Nicht direkt, aber Bianca ist ein gutes Mädchen.«

»Das unter Mordverdacht steht! Was ist am Graseck passiert? Warum sind Sie hier?«, fragte Irmi.

»Es ist ein verfluchter Platz.«

»Geht es etwas weniger kryptisch?«, fragte Kathi.

»Garmisch-Partenkirchen hat uns kein Glück gebracht.«

Er wich aus, und Irmi spürte, dass sie ihn nur zum Reden bringen würden, wenn sie ihm Zeit gaben. Das hatte auch Kathi gemerkt und überließ Irmi die Gesprächsführung.

»Wie kommt es eigentlich, dass Sie so einen intensiven Bezug zu Garmisch haben?«, fragte Irmi. »Ihr Familienanwesen liegt doch in Hessen.«

»Unser Vater hat die Berge geliebt. Deshalb kaufte er in den Fünfzigerjahren das Haus. Bevor wir Jungen in die Schule kamen, haben wir den ganzen Sommer in Garmisch verbracht. Später dann waren wir in allen Schulferien hier.«

»Im Haus, das Ihr Bruder bewohnt hat?«

»Damals war es ein sehr großzügiges Landhaus. Mein Vater hat es einem hohen Beamten abgekauft. Es war etwas abgewohnt und alt, aber gemütlich. Und unsere Mutter hatte viel Geschick beim Handarbeiten und Dekorieren. Für uns Kinder war das großartig. Wir kamen aus dem Flachland, nichts als endlose Felder. Aber in Garmisch gab es so viel Natur! Die Partnach und die Klamm waren unser Abenteuerspielplatz. Und das Graseck. Die Buben da oben waren wilde Bergburschen. Wir waren nur die Preußen, wir mussten uns beweisen und uns hocharbeiten.«

»Aha, und weiter?«

Er lächelte wehmütig. »Wir müssen zurück ins Jahr 1972. Das war der Sommer, als wir uns Julian und Richard nannten.«

»Wieso das denn?«, fragte Kathi.

»Sie sind ein bisschen zu jung, denke ich. Wegen der Fünf Freunde . Hubertus war Julian, der Anführer und Wortführer. Ich war Richard, der in den Büchern auch Dick genannt wurde. Das hat gepasst, weil ich zu der Zeit wirklich viel gegessen habe und etwas moppelig war.«

Irmi wartete.

»Die Jungs da oben haben uns lange ignoriert und dann terrorisiert. Sie haben unsere Fahrradreifen aufgestochen, uns mit Steinschleudern beschossen. Aber wir kamen immer wieder, und irgendwann durften wir mitmachen. Die vollautomatische Seilbahn aufs Graseck gab es ja damals schon. Wenn jemand einsteigt, dann fährt sie automatisch los. Also haben wir schwere Steine reingehievt und fanden es großartig, wenn die Bahn dann losfuhr. Bubenstreiche halt.« Er atmete durch. »Und Mutproben. Natürlich war es uns strengstens verboten, in der Klamm herumzuklettern, aber wir haben uns nicht daran gehalten. Wir haben uns in den kleinen Höhlen in den Klammwänden versteckt. Mal musste man eine Kerze anzünden, dann wieder etwas auf durchwandernde Touristen werfen. Stöckchen, Kieselsteine. Das gab immer wieder Ärger. Oft kamen wir durch, manchmal wurden wir erwischt. Es gab auch mal Hausarrest, aber wir sind entwischt oder unsere Mutter hat den Arrest aufgehoben. Immer mit der Mahnung, nicht so wild zu sein.«

Kathi lächelte ihn an. »So einen Schwachsinn kenne ich von meiner Tochter auch. Die Kinder hatten einfach viel Glück, dass nie etwas passiert ist.«

Ebersheim nickte. »Bei uns war auch immer ein Mädchen dabei. Erna oder Erni. Die stand den Buben in nichts nach. Bei uns war sie Georgina oder George wie im Buch. Ein Mädchen, das lieber ein Junge geworden wäre. Sie konnte besser mit der Steinschleuder umgehen als wir. Und sie kletterte wie eine Gams.« Es war kurz still. »Die Königsdisziplin war es, auf dem Geländer zu balancieren«, sagte er dann.

»Auf dem Geländer der Eisernen Brücke?«, fragte Irmi ungläubig.

»Ja, der völlige Wahnsinn aus heutiger Sicht. Aber das Glück ist mit den Kindern.«

Er schwieg.

»Herr Ebersheim, wir werden Spuren finden«, sagte Irmi nach einer Weile. »Von Bianca und von Ihnen. Was ist passiert?«

»Damals oder heute?«

»Beides.«

»Der Sommer des Jahres 1972 war heiß. Hubertus und ich waren inzwischen anerkannt. ›Die Preißn-Buam san wieder do‹, hieß es, wenn wir kamen. Auf der Alm da oben am Graseck, da brodelte die Hütte, das haben wir Jungs aber nur am Rande mitbekommen. Ich glaube, das war noch, bevor der Bartl-Toni so krank wurde und sein ganzes Leben umkrempelte. Wir Kinder haben viel Blödsinn gemacht. Steine auf die Straße geworfen, dass die Autos nicht weiterfahren konnten. Einigen, die oben parkten, haben wir die Luft rausgelassen. Aber ich war in diesem Sommer auch anderweitig beschäftigt. Als wir in Garmisch ankamen, war grad ein Zicklein geboren worden. Es war erst ein paar Tage alt, die Mutter wollte es nicht annehmen. Ein Knecht hatte es mit der Flasche versucht, doch es trank nicht. Und dann kam ich. Ich taufte es Maxl, es war ein Bock. Vorher hieß er nur ›das Verreckerle‹. Und ich schaffte, was dem Knecht nicht gelungen war: Der Maxl trank und wuchs und gedieh. Er war ziemlich klug, und ich fing an, ihm Kunststücke beizubringen. Wir hatten die Idee, dass wir Vorführungen vor der Alm machen und damit Geld verdienen. Den angeheiterten Gästen saß die Mark sehr locker.« Er sah in die Ferne, verlor sich in seinen Erinnerungen.

Irmi spürte, wie seine starke Wehmut sie mitriss. Von ihm ging eine solche Trauer aus.

»Eines Tages hatte Hubertus den Einfall, Maxl das Balancieren auf dem Brückengeländer beizubringen.«

Irmi ahnte etwas.

»Maxl hat brav mitgemacht. Ziegen klettern ja sehr gut und erst recht, wenn sie mit Futter gelockt werden. Ich habe es zu spät mitbekommen, und als ich kam, ließ sich Hubertus nicht von seiner Idee abbringen. Vielleicht habe ich auch nicht vehement genug widersprochen.« Wieder eine lange Pause. »Jedenfalls gab es plötzlich einen höllischen Knall. Maxl hat einen Schreck bekommen und ist abgestürzt, und wir waren zu langsam. Der Strick verfing sich, der kleine Ziegenbock hatte sich stranguliert.«

»Und fünfzig Jahre später rächen Sie sich und strangulieren Ihren Bruder an derselben Stelle?«, stieß Kathi hervor.

»Nein, so war das nicht.«

»Wie dann?«

Als er fortfuhr, sprach er ins Leere, in die Unterwelt hinein, an deren Abgrund er sich befand.

»Ich hatte den toten Maxl auf den Armen. Ich hatte Angst vor Strafe. Aber der Knecht hat nur gesagt: ›Hat er sich wo aufghängt, der Depp, der.‹ Er hat ihn mir weggenommen. Ich konnte ihn nicht mal begraben.« Er schluckte. »Ja, ich weiß, Sie werden sagen: Ich übertreibe. Wir stammten ja selber aus einer Landwirtschaft, wir wussten, dass Tiere sterben.«

»Aber nicht so«, sagte Irmi leise.

»Ich war zehn und Hubertus zwölf. Die anderen hatten sich sowieso schon lustig gemacht, dass ich ein Baby aufziehe. Sie haben mich ein Mädchen genannt. Ein Weichei. Erni hätte das machen sollen, aber die hatte keine Lust. Und dann war Maxl tot. Hubertus hat nur gesagt: ›Er hatte seine Chance. Er hat sie vertan.‹ Den Satz vergesse ich nie.«

»Idiot«, sagte Kathi. »Und dann?«

»Ich habe geschwiegen. Und nichts mehr gesagt. Doch in mir tobte alles.« Er sah die Kommissarinnen an. »Kennen Sie das? Eine Erinnerung, die sich so sehr eingebrannt hat, dass man alles noch immer so spürt, als wäre es gestern gewesen? Ich kann sogar noch den Geruch dieses Tages abrufen. An diesem Tag begann ich, Hubertus zu hassen. Am Abend im Haus habe ich zu meiner Mutter gesagt, ich würde nach Hause fahren. Eineinhalb Wochen vor der geplanten Abreise. Meine Mutter wollte wissen, warum, aber ich habe immer nur ›darum‹ gesagt.«

»Und Ihr Bruder?«

»Der hat mich nicht ernst genommen, war längst schon in neuen Abenteuern gefangen. Julian wollte mit Georgina besonders hohe Stelzen bauen, für ihn war das nicht mehr als eine Episode.«

»Und dann?«

»Ich weiß das nicht mehr so genau, aber ich habe wohl so getobt, dass ich am Ende fahren durfte, aber nur weil meine Tante sowieso abreisen wollte und sich die verbleibenden Ferientage zu Hause um mich kümmern konnte. Ich war seitdem nie mehr auf dem Graseck. Nie mehr in meinem Leben. Aber ich habe das Bild von Maxl nie aus dem Kopf bekommen. Es springt mich an bis heute.«

»Sie waren ein Junge. Ein liebenswertes Tier ist gestorben. Natürlich war das ein traumatisches Erlebnis«, sagte Irmi.

»Ich hatte immer das Gefühl, als hätte ich Maxl verraten. Ich hätte Hubertus schlagen müssen, verprügeln. Aber ich bin einfach verschwunden. Ich habe mich durchgesetzt, dass ich in ein Internat gehe. Nach dem Abitur habe ich Agrarwissenschaften studiert. Hubertus habe ich nur noch selten gesehen. Während der Schulzeit lediglich in den Ferien und nach dem Abitur nur noch auf Beerdigungen. Unsere Mutter starb 1982.«

»Ihre Mutter ist …?«

»Sie ist nicht alt geworden? Nein, sie hat Selbstmord begangen. Tabletten. Sie war depressiv, immer schon gewesen. Aber man hat das in den Siebzigerjahren nicht verstanden. Sie galt als traurig. Oder schwach. Oder sie war schon immer bei schlechter Gesundheit gewesen. Dabei war doch das Klima in Garmisch so gut, da hätte sie sich erholen müssen. Aber sie ist in Garmisch gestorben. Im Sommer 1982. An der Partnach. Der Hund eines Spaziergängers hat sie gefunden. Es ist ein verfluchter Platz. Und ich habe mir natürlich auch Vorwürfe gemacht, dass ich ins Internat gegangen bin. Ich habe Maxl und auch meine Mutter im Stich gelassen.«

»Aber das ist Unsinn! Ihr Vater hätte es merken müssen, andere Verwandte. Doch nicht ein Junge!«

»Zu dem Zeitpunkt war ich kein kleiner Junge mehr«, sagte er. Ein kurzer Satz voller Selbstvernichtung.

»Sie haben alles richtig gemacht. Für sich«, sagte Kathi.

»Das sagt mir die Logik auch, aber da sind Gedanken in mir, die kann ich nicht aufhalten.«

»Das heißt aber auch, dass Sie wenig über Ihren Bruder wussten, oder?«

»Natürlich habe ich etwas von seinem Aufstieg mitbekommen, aber ich wusste nicht so genau, was er für Deals und Schiebereien eingefädelt hat. Ab und zu bin ich in den Branchenmedien über ihn gestolpert. Es waren kritische Artikel, aber er schien ja immer alles von sich abwenden zu können. Ich wollte mich nicht damit konfrontieren. Nach der Beerdigung unserer Mutter sah ich ihn erst 2002 bei der Beerdigung unseres Vaters wieder. Einige Jahre später starb unsere Tante. Bei diesem Begräbnis 2007 hatte mein Bruder Silvana dabei. Und deren Tochter, die damals zehn, elf Jahre alt war. Ein liebes Mädchen. Ich fand Silvanas Erscheinungsbild etwas gewöhnungsbedürftig, wobei sie als Person eigentlich sympathisch wirkte. Eher bodenständig, was im Kontrast zu ihrem Bekleidungsstil stand.«

»Bianca kannten Sie also?«

»Ja, ich habe ihr bei solchen Anlässen immer mal ein Eis oder ein Stück Kuchen besorgt. War ja auch langweilig für sie. Ich habe ihr immer eine Weihnachtskarte geschrieben und sie mir. Bianca nahm 2019 mit mir Kontakt auf. Sie wollte Agrarwissenschaften studieren und brauchte einen Rat, wo sie studieren sollte und wie ich die Idee fände.«

»Sie hatten also die letzten Jahre Kontakt?«

»Ja, ab und zu. Sie hat auch mal ein Praktikum bei mir gemacht. Ich impfe Hölzer mit Shiitakepilzen, und ich baue Soja an. Deutsches Soja! Die EU importiert rund fünfunddreißig Millionen Tonnen Soja pro Jahr – über die Hälfte davon aus Brasilien. In den letzten fünfzig Jahren wurde die Produktion um das Zehnfache gesteigert. Das ist Wahnsinn! Vor allem natürlich, um Tierfutter zu gewinnen. Achtzig Prozent der Sojabohnen weltweit kommen aus den USA , Brasilien oder Argentinien. Für die Ausweitung des Anbaus werden riesige Wald- und Savannenflächen umgewandelt. So gehen einzigartige Lebensräume für Pflanzen und Tiere verloren, fruchtbarer Boden wird zerstört und Wasser verseucht. Brasilien geht voran mit der Umweltzerstörung. Die Hälfe des Savannenwalds ist schon vernichtet. Er ist einer der wichtigsten Süßwasserlieferanten Südamerikas und bindet enorme Mengen an Kohlenstoff. Wir müssen andere Wege gehen. Bianca ist Veganerin, das ist ihr Thema.«

»Wussten Sie von ihrem Engagement bei Animal Patrol?«

»Anfangs nicht. Dann hat sie mir davon erzählt. Ich fand den Ansatz gut, denn Animal Patrol fokussierte sich auf Nutztiere und ging dabei weniger drastisch vor als PETA . Bianca hat bei einem Projekt in Afrika mitgearbeitet, was ich ziemlich mutig fand. Es ging darum, schon Schulkinder für Tierrechte zu sensibilisieren. Sie und ein paar Mitstreiter lieferten Materialien an Agraruniversitäten in Schwellenländern und Entwicklungsländern. Tierschutz an der Basis eben.«

»Sie haben mitbekommen, dass Animal Patrol auch Ihren Bruder im Fokus hatte?«

»Ja, aber nur am Rande. Allerdings war Bianca einmal mit einer Antonia da, und das hat mir Sorgen gemacht.«

»Warum?«

»Die junge Frau vertrat sehr radikale Positionen, es ging etwas Ungutes von ihr aus. Ich hatte den Eindruck, dass sie Bianca nicht guttat.«

»Animal Patrol löste sich auf, und Ihr Bruder hat einen gewissen Fabian May verklagt. Haben Sie etwas dazu zu sagen?«

»Nein, aber wer sich mit meinem Bruder anlegte, hatte früher schon schlechte Karten.«

»Sie sagten, Sie seien nie mehr am Graseck gewesen. Was aber nicht stimmt, oder? Sie waren ja doch oben«, sagte Irmi.

Ebersheim seufzte. »Bianca hat angerufen und mir gestanden, was sie getan hat.«

»Was?«

»Sie hätte Hubertus entführt und gefesselt. Ich wollte das erst gar nicht glauben und habe mehrfach nachgefragt. Es blieb aber dabei: Bianca war in echter Panik. Das Ganze war aus dem Ruder gelaufen. Hubertus hatte wohl eine Art Kreislaufattacke. Sie war völlig durch den Wind, nicht mehr ansprechbar. Ich bin sofort losgefahren.«

»Wir haben am Montag mit Ihnen telefoniert!«

»Da wusste ich noch nichts. Wirklich! Bianca hat mich am Dienstagmittag angerufen. Ich bin gleich los, habe unter fünf Stunden gebraucht. Übrigens bin ich auf der A 7 geblitzt worden. Das können Sie überprüfen.«

»Von mir aus! Und Sie sind auch nicht auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen?«

»Ich wusste nicht, was da los ist. Ich hatte keine Vorstellung. Ich musste mir ein Bild machen, konnte das wirklich nicht glauben.«

»War ja nur ein Mann mit Hühnerdreck vollgestopft!«, rief Kathi empört.

»Ja, aber ich wusste, dass Bianca jung ist und sensibel. Ich habe mir gedacht, dass sie womöglich übertreibt. Ein bisschen hysterisch ist. Können Sie alle Verzweiflung immer ganz korrekt kanalisieren?«

»Gerade die Kollegin tut sich da manchmal etwas schwer«, sagte Irmi leise.

»Stimmt, aber ich hab noch keinen Toten auf meinem cholerischen Gewissen«, sagte Kathi.

»Lassen wir das kurz weg. Was passierte dann?«, fragte Irmi.

»Ich bin losgefahren und habe, wie gesagt, alle Geschwindigkeitslimits überschritten. Schließlich kam ich seit fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder in Garmisch an. Der Ort hat sich ziemlich verändert. Ich habe mein Auto am Skistadion geparkt, ich hatte ein Mountainbike dabei. Dann bin ich losgeradelt. Die Straße ist viel besser geworden, ist aber immer noch steil. Ich hatte so viele Déjà-vus. So viele Flashbacks in die Vergangenheit.« Er atmete und rang dabei richtiggehend nach Luft. »Ich hoffte bis zuletzt, dass er … ja, was eigentlich? Dass er geflohen wäre, dass er einfach weg oder gestorben wäre. Ja, ich hoffte sekundenlang, er wäre tot. Damit ich nicht mit ihm sprechen musste.«

Eine lange Pause folgte.

»Aber da war Bianca vor dem Stadl. Völlig fertig. Sie zeigte mir das Video. Ich war fassungslos. Ich habe sie weggeschickt und ihr gesagt, sie solle sich einfach normal verhalten. Nach München fahren. An ihrem Projekt weiterarbeiten, was auch immer. Und dann bin ich rein.«

Es herrschte eine ungute Stille.

»Er lag da. Mitten im Dreck und Kot. Hob den Kopf. Erkannte mich. Ich nahm den Knebel raus, und er brauchte eine Weile, um Luft zu schöpfen. Doch dann beschimpfte er mich. Er dachte wohl, ich hätte etwas damit zu tun. Er war wahnsinnig wütend, hustete immer wieder. Ich konnte ihn so weit beruhigen, dass er mich anhörte. Ich habe die Kabelbinder zerschnitten, habe ihm Wasser gegeben, einen Müsliriegel. Es war eine bizarre Situation. Plötzlich lachte er. Und sagte: ›Was für ein Wiedersehen, Brüderlein!‹ Ich erklärte ihm, dass Bianca mich angerufen habe, und da …«

Er schüttelte den Kopf.

»Was?«

»Da spürte ich etwas, was mich wirklich erschüttert hat. Ich weiß nicht, ob mein Bruder lieben kann, aber er kann respektieren. Und er hatte Respekt vor Bianca. Respekt vor ihrem Mumm. Und dann fragte er nach dem Video.«

»Und?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich es gesehen hätte. Dass Bianca es dem Verband der Geflügelhalter, den Medien und der Polizei übergeben wolle, weil solche Praktiken nicht tolerabel seien. Ich habe ihm gesagt, dass ich da Bianca nur zustimmen könne, auch wenn ihre Methoden indiskutabel seien. Er hat gelacht und mich als Agrarromantiker beschimpft, als Ökofanatiker, als grünen Lauch. Als Biotrottel.«

»Das klingt aber so, als hatte er keine Angst vor dem Video?«

»Sie müssen sich in seine Denke hineinversetzen. Er hatte Bianca in der Hand. Sie hatte ihn entführt, und er hätte sie leicht erpressen können. Er war sich mehr als sicher, dass sie das Video vernichten würde. Und selbst wenn es an die Öffentlichkeit gekommen wäre, dann hätte er es eben als Fake News bezeichnet. Er hätte Mittel und Wege gefunden, die Ställe in Polen umgehend zu räumen. Sie sind Polizisten, Sie wissen doch besser als ich, dass man an die ganz Großen nie herankommt. Wir haben überlastete Veterinärämter, und die größten Verbrecher der industriellen Tierhaltung sitzen im Bundestag oder sogar in Gremien für Tierwohllabel. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen.«

Ein tonnenschwerer Satz.

Er trank einen Schluck Wasser, dann fuhr er fort: »Mein Bruder hätte das unter der Hand geregelt, das war sein Rechtsempfinden.«

»Herr Ebersheim, apropos unter der Hand: Antonia Bauernfeind ist verstorben, ihr Freund Hannes Vogl auch. Beide hatten Glasfasern im Körper. Wissen Sie etwas davon? Wissen Sie, ob Ihr Bruder die beiden vergiftet hat? Biancas Wut und Verzweiflung wurden vor allem dadurch genährt, dass Antonia tot war.« Irmi wollte nicht das Wort Rache ins Spiel bringen. Dabei ging es hier um Rache auf allen Ebenen, es ging darum, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

»Es ist, es ist …« Er stockte. »Es ist eine bizarre Geschichte. Angeblich hat Antonia meinen Bruder vor einigen Jahren mit Rizin vergiftet. Und er hat es ihr vergolten. Was für ein alttestamentarischer Irrsinn!«

Er verwendete Irmis Formulierungen. Offenbar hatten sich ihm dieselben Gedanken aufgedrängt.

»Hat er Ihnen gegenüber erwähnt, dass er den beiden Glasfasern verabreicht hat?«, wollte Irmi wissen.

»Ja, er hat mir die ganze Geschichte erzählt. Eigentlich wollte er damit nur Antonia treffen. Er hat die beiden Handwerker wohl auf einen Cocktail eingeladen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dabei hat er in Antonias Getränk seine Glasfasern gemischt. Ich glaube, er hat gesagt, es sei Bellini gewesen, weil da sowieso Pfirsichfasern drin sind. Er wollte ein Exempel statuieren, er wollte es genauso machen wie Antonia bei ihm damals. Ich glaube gar nicht, dass er sie töten wollte. Das war mehr ein Machtspiel. Sieh her, ich hab dich, wenn ich will. Oder wie ein Rüde, der markiert. Widerlich.«

»Aber Hannes war auch betroffen!«

»Ja, er hat Antonias zweiten Bellini getrunken, weil sie ihn nicht mehr haben wollte. Das hat mein Bruder allerdings erst später erfahren. Und wissen Sie, was er dann getan hat?«

»Nein.«

»Er hat Hannes auf irgendeine Brücke bestellt. Spätabends. Dort hat er ihm erklärt, warum es ihm so schlecht geht. Er hat ihm fünfzigtausend Euro gegeben, für gute Ärzte, Medikamente, eine Kur. Unglaublich, oder? Laut Aussage meines Bruders ist Hannes ausgerastet, es gab ein Handgemenge, und der junge Mann ist in die Schlucht gestürzt.«

»Haben Sie ihm das alles geglaubt?«

»Ja, ich habe es ihm geglaubt. Denn er hätte es mir auch erzählt, wenn er ihn absichtlich gestoßen hätte. Er hat keine Strafe befürchtet. So war er.«

»Größenwahnsinnig?«

»Oder einfach siegessicher. Wer immer siegt, kalkuliert das Scheitern nicht mehr ein.«

Selbst wenn Hannes das Geld genommen hätte, nach Hause gefahren wäre und Antonia gleich gewarnt hätte, wäre es für sie wahrscheinlich trotzdem zu spät gewesen. Was für eine grauenvolle Verkettung von Geschehnissen, die in Wahrnehmungsverzerrung und Allmachtsfantasien begründet waren.

»Wer hat dieses Video denn nun gedreht, Herr Ebersheim?«

»Antonia den ersten Teil in Polen. Bianca den zweiten.«

»Aber sie war nicht allein! Wir haben uns gefragt, wie ein schmales Mädchen wie Bianca überhaupt einen großen Mann wie Ihren Bruder überwältigen konnte«, sagte Irmi. »Sie hat uns erzählt, er habe sie ausgelacht und ihr die Hände hingehalten, damit sie ihn fesseln konnte.«

»Das glaube ich sofort. So war Hubertus. Das Ganze hat ihn zu Anfang sicher amüsiert.«

»Wir glauben aber dennoch, sie hatte Hilfe. Und zwar von Fabian May, der zu dem Zeitpunkt in Bayern war.«

»Ich habe Fabian nie kennengelernt. Aber ich glaube auch, sie war nicht allein. Doch sie hat es mir gegenüber nicht zugegeben. Und ich bezweifle, dass sie es jemals erzählen wird. Bianca ist schmal und sensibel, aber auch sehr stur. Und loyal. Wenn man in einer Umgebung voller Verrat aufwächst, dann wird man entweder selber zum Verräter oder versucht, es anders zu machen«, sagte er leise.

Irmi sah zur Wand. Wieder so ein gewichtiger Satz.

»Hatten Sie anhand des Videos nicht auch den Eindruck, dass da jemand Zweites war?«, fragte sie schließlich.

»Ja, aber als ich ankam, war da nur Bianca.«

»Aber Ihr Bruder müsste doch gewusst haben, dass noch jemand da war!«

»Er hat das vermutet, aber seine Augen waren verbunden. Drum hat er ja auch mich verdächtigt, Teil dieses Irrsinns zu sein.«

»Aber Sie konnten ihm glaubhaft vermitteln, nicht dabei gewesen zu sein?«

»Ich denke, schon. Er fand die ganze Sache sogar lustig. Auch Hannes’ Sturz in die Schlucht hatte für ihn einen gewissen Unterhaltungswert. Als er mir davon erzählte, fühlte ich mich zurückversetzt in die Situation mit Maxl damals. Ich war plötzlich wieder zehn.«

»Und was haben Sie dann getan? Sie waren doch nun am längeren Hebel«, sagte Irmi leise.

»Ich bin ein völlig anderer Typ. Hubertus war schon immer machtbesessen. Er hatte nie Selbstzweifel.«

»Ist das die Huhn-Ei-Frage? Wird ein Machtmensch nur deshalb immer unangenehmer, weil ihn die Macht korrumpiert? Oder war er vorher schon ein Arschloch?«, warf Kathi ein.

Ebersheim lächelte ein wenig. »Dazu gibt es Studien. Sie kennen den Film Das Experiment ? Er ist im Nachgang des Stanford-Prison-Experiments entstanden. Ein Psychologe teilte junge Männer in zwei Gruppen auf: Wärter und Gefangene. Dann ließ er sie aufeinander los. Mit dem Resultat, dass das Experiment nach sechs Tagen abgebrochen werden musste – die Wärter hatten die Gefangenen körperlich und psychisch so gequält, dass einige Insassen zusammengebrochen waren. ›Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht‹, hat Abraham Lincoln gesagt – und er hatte recht. Mein Bruder konnte nicht die Perspektive von anderen einnehmen oder gar empathisch sein. Bei einem Würfelspiel im Rahmen eines Experiments mogelten Spieler mit einem höheren sozialen Status viermal mehr als andere, obwohl es nur fünfzig Dollar zu gewinnen gab. Macht fördert Selbstbezogenheit und unethisches Verhalten.«

»Das heißt, für Ihren Bruder war der Tod zweier Menschen nicht so wichtig?«

»Nun ja, er war immer der Meinung, jeder ist für seinen Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich. In seiner Logik war Hannes selber schuld, er hatte seine Chance gehabt und sie vertan. Hubertus war erfolgreich, ohne viel dafür tun zu müssen. Und sein Weg ging immer nur steil hinauf. Was ihn störte, vernichtete er. Mit Geld, mit Betrug, mit Erpressung. Er kam immer durch: Macht stabilisiert sich durch Legitimation. Er war unverwundbar. Antonia hatte sich definitiv den falschen Gegner ausgesucht!«

»Bianca aber auch!«

»Ich kann mir vorstellen, dass er damit nicht gerechnet hat. Denn, wie gesagt, er mochte das Mädchen. Und ich glaube, er mochte auch Silvana. Sie war wahrscheinlich zuerst ein Spielzeug, später auch eine bürgerliche Fassade, aber ich glaube, die beiden hatten einen Draht zueinander, den man als Außenstehender nicht unbedingt versteht. Und Bianca gegenüber scheint er sogar so etwas wie Vatergefühle entwickelt zu haben. Womöglich hat ihr auch das bei ihrem Vorhaben geholfen. Ihr hat er das nicht zugetraut.«

»Wollte er Bianca denn anzeigen?«

»Nein, aber er wollte das Video haben. Und er hat mir ins Gesicht gesagt, dass man ihm bezüglich Antonia und Hannes nie etwas nachweisen könne.«

»Er hat Ihnen doch erzählt, dass er mit Glasfasern operiert hat!«, rief Kathi.

»Ja, aber wem hätte ich das erzählen sollen? Und er verfügte über sehr gute Anwälte, falls Aussage gegen Aussage gestanden hätte. Und sagen Sie jetzt nicht, ich hätte das Gespräch ja mit meinem Handy aufnehmen können. An so etwas denkt man doch erst später. Und selbst wenn: Auch das hätte ein Anwalt zerpflückt. Ich wiederhole mich: Für Hubertus waren die meisten Menschen nicht mehr als lästige Schmeißfliegen.«

»Das hat Sie doch sehr wütend gemacht, oder?«, meinte Kathi.

»Ich war gar nicht wütend. Eher gelähmt. Ich meine, mental gelähmt. Plötzlich sah er mich an. Sagte: ›Brüderlein, wie lange warst du nicht mehr hier?‹ Ich sagte: ›Seit damals.‹ Er stutzte. Brauchte eine Weile, bis er sich erinnerte. Dann lachte er. ›Was, du redest von dem Ziegenbock? Das ist doch hundert Jahre her.‹ Er war plötzlich wie euphorisiert. Er klopfte ein wenig von dem Dreck ab und kam mir plötzlich so vor wie der Junge damals, der Mutproben machte.«

Ebersheim trank wieder einen Schluck Wasser.

»Es war ja dunkel«, sagte er dann. »Und er musste erst einmal seine Knochen sortieren. Er war so lange gefesselt gewesen. Doch dann nahm er sich einen langen Strick, der auf dem Boden lag, so ein Kälberstrick. Und er rief: ›Komm, Brüderlein! Was damals galt, gilt heute auch noch. Komm, ich beweise es dir.‹ Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, und wollte ihn zurückhalten. Ich habe ihm gesagt, er solle erst mal langsam tun. Aber er war wie high.«

»Wo wollte er hin?«

»Er lief den Hang hinunter, querte die Wege, eilte zur Brücke, ich hinterher. Ich habe ihm gesagt, er solle den Scheiß lassen. Es war dunkel und kalt. Aber er hat gesagt, er wolle das endlich zu Ende bringen. Er wolle mir beweisen, dass die Siegreichen immer siegten. Das hat er wirklich so gesagt.«

Irmi und Kathi tauschten vorsichtige Blicke.

»Er hat sich den Strick um den Hals gewunden, das andere Ende um das Geländer und hat wie irre gelacht«, sagte Ebersheim.

»Niemals! Sie haben ihn gezwungen!«, rief Kathi. »Sie haben einen Jagdschein. Sie besitzen Waffen.«

»Nein, es war genau wie damals. Er ist auf das Geländer geklettert. Er hat balanciert. Er hat gelacht. ›Sieh mal, wie gut ich bin! Ein Leben in Balance!‹ Er hat gelacht. Und ich wollte nur, dass er endlich wieder herunterkommt.«

»Aber er ist abgestürzt?«

»Ja, er ist auf dem Geländer ausgeglitten und ins Seil gestürzt. Er hat sich sofort das Genick gebrochen. Ich habe versucht, ihn hochzuziehen. Aber er ist eine so fette Sau geworden.«

In Irmis Innerem zogen Bilder vorbei, böse Bilder. Und irgendwann hörte sie sich leise sagen: »Selbst wenn das stimmen sollte, ist das unterlassene Hilfeleistung. Sie sind einfach gegangen.« Sie wusste gar nicht, woher sie diese Ruhe nahm.

»Ich weiß. Ich bin gegangen. Genau wie damals. Nur waren jetzt die Rollen vertauscht: Er hatte seine Chance. Er hat sie vertan. Sie können mich jetzt verhaften, aber lassen Sie Bianca gehen. Sie ist ein gutes Mädchen.«

»Sie haben Ihre Aussage mit Ihrer Anwältin abgestimmt?«, fragte Irmi.

Die Anwältin nickte.

»Natürlich«, sagte er. »Es ist die Wahrheit. Bianca war längst weg. Sie war nicht mehr vor Ort, ebenso wenig wie dieser Fabian.«

Kathi hieb auf den Tisch. »Was für ein Schmarrn! Und nach der ganzen Aktion sind Sie einfach zur Tagesordnung übergegangen?«

»Ich war nur Zuschauer, kein Täter.«

»Das pack ich nicht!«, rief Kathi und stürmte aus dem Raum.

»Über Ihren Verbleib wird die Staatsanwaltschaft entscheiden«, sagte Irmi.

»Mein Mandant ist freiwillig gekommen und hat eine vollumfängliche Aussage gemacht«, sagte die Anwältin, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.

Irmi nickte nur und ging schließlich in ihr Büro. Ihr Kopf war leer wie ein ausgeblasenes Osterei.

Später kam Kathi mit zwei Tassen Kaffee. Sie wirkte erschöpft, was bei Kathi selten war.

»Glaubst du ihm das?«, wollte sie wissen.

Irmi schwieg. »Eigentlich ja«, sagte sie schließlich.

»Weil er sympathisch ist? Weil er gut aussieht?«

»Nein, weil die Geschichte für mich schlüssig klingt. Natürlich kann er auch eine Waffe gezogen und seinen Bruder gezwungen haben, zur Brücke zu gehen. Was für mich dagegen spricht: Kann man einen solchen Machtmenschen wie Hubertus von Ebersheim überhaupt zwingen? Hätte der es nicht eher darauf ankommen lassen, dass sein Bruder schießt? Und das wiederum traue ich Volker nicht zu.«

»Das wird dann aber ein interessanter Prozess. Ist das wirklich unterlassene Hilfeleistung? Oder doch nicht, weil die Eigengefährdung für den Helfer zu groß wäre? Das könnte ein Argument der Anwälte werden. Oder ist das eine Körperverletzung durch Unterlassen?«

»Das muss das Gericht entscheiden.«

»Und Bianca? Freiheitsberaubung gemäß § 239 S tGB

»Ja, aber auch da ist der Spielraum groß. Womöglich kommt sie mit einer höheren Geldstrafe davon. Sie tut mir leid. Auch sie wird merken, dass sie Hubertus falsch eingeschätzt hat. Und dass er sie geliebt hat. Das kann umso bitterer werden.«

»Was ist das für eine Liebe? Er hat ihre Freundin auf dem Gewissen. Und einen unschuldigen jungen Mann. Das kann man nicht verzeihen!«

Wahrscheinlich war das so. Sie nippten beide am Kaffee. Auch Irmi fühlte diese ganz eigentümliche Müdigkeit, die sie ansprang, wenn es zu Ende war. Es war keine direkte Erleichterung. Dazu waren die Helden zu tragisch. Antonias Tod war kein geplanter Mord gewesen, Hannes’ Tod war vermutlich ein Unfall und der von Hubertus von Ebersheim am Ende womöglich auch.

»Wir wissen immer noch nicht, wer denn nun erbt«, sagte Kathi plötzlich. »Ich bin gespannt, ob es ein Testament gibt.«

»Oder er hat keins gemacht. Er war doch unsterblich.«

An diesem Abend fuhr Irmi zum Hasen. Fridtjof hatte gekocht. Einen Hirschbraten mit Schupfnudeln, Preiselbeeren und einer ziemlich besoffenen Birne. Er hatte ihr ein Bier hingestellt, sich selber einen Brunello. Es waren diese kleinen Gesten, die Irmi immer wieder berührten.

Fridtjof fragte nicht, sondern wartete ab, bis sie selber zu erzählen begann.

»Ich glaube ihm«, sagte sie am Ende. »Vielleicht, weil die Geschichte zu bizarr ist, als dass man sie sich ausdenken könnte. Kathi zweifelt. Aber es gibt doch solche Machtmenschen, die sich wirklich für unverwundbar halten, oder nicht?«

»Natürlich. Nimm Elon Musk, privilegiert in Südafrika aufgewachsen. Der Vater erschießt drei Einbrecher und wird freigesprochen. Ein Machtmensch, ein schlechtes männliches Vorbild. Angeblich wurde der kleine Elon in der Schule gemobbt. Die einen lähmt so etwas, die anderen beflügelt es. Nach dem Motto: Jetzt erst recht. Natürlich ist er ein brillanter Kopf, aber auch einer, der gelernt hat, dass man Widerstände locker wegräumen kann. Umweltsünden in Brandenburg? Arbeitsplätze sind wichtiger. Kritische Journalisten? Die werden einfach ausgeladen von den Pressekonferenzen. Solche Männer steigen immer höher und kalkulieren das Scheitern nicht mehr ein.«

»Aber woher kommt das?«

»Irmi, das ist letztlich Biologie. Wenn rangniedere Männchen dem Alphamännchen zu nahe kommen, empfinden sie Stress. Das Hormon ACTH löst die Ausschüttung von Cortisol durch die Nebennierenrinde aus. Das ist die erste Abwehrmaßnahme des Körpers auf Stress. Cortisol regt die Bildung von Blutzucker an, der dem Gehirn hilft, schneller auf die Situation zu reagieren. Aber es ist gemein: Gleichzeitig schränkt das Cortisol das Langzeitgedächtnis und die Leistung der Stirnlappen ein, die für die Selbstwahrnehmung wichtig sind. Das mit Cortisol geflutete Individuum ist nicht mehr ganz bei sich.«

»Ist es so einfach?«

»Letztlich ja. Menschen mit ausgeprägtem Machtbedürfnis wollen gewinnen. Sind sie siegreich, sinkt der Cortisolwert – der ja ein Indikator für Stress ist – drastisch. Verlieren sie, schießt er in die Höhe. Machtmenschen haben einen höheren Testosteronspiegel. Und Männer mit hohem Machtstreben haben laut einer Studie einen stärkeren Sexualtrieb als weniger Machthungrige. Das liegt daran, dass sowohl Macht als auch Sex einen Anstieg des Hormons Testosteron bedingen, das wiederum das Belohnungsnetzwerk des Gehirns aktiviert. Oder anders gesagt: Macht ist ein Aphrodisiakum.«

»Und macht blöd? Wie bei Clinton, der eine Affäre mit seiner Praktikantin anfing? Und nicht mehr einkalkulierte, dass das rauskommen könnte?«

»Der Volksmund hat schon recht: Wenn alles Blut im Schwanz ist, fehlt es für den Kopf. Es ist etwas komplexer, aber eben immer wieder Biochemie.«

»Und eine Silvana Sieber findet Macht sexy?«

»Tun das nicht alle Frauen? Es ist erwiesen, dass sich Frauen am liebsten mit einem Alphamännchen paaren. Am liebsten mit großen, kräftigen Glatzköpfen.« Der Hase grinste. Er hatte volles Haar und war schlank, beinahe überschlank.

»Du weißt ja, bei Frauen meines Alters sinkt der Hormonspiegel ab. Wahrscheinlich bin ich hormonell nicht auf Glatzen geprägt.«

»Und Bruce Willis?«

»Würde mir besser gefallen als Clooney, aber nur weil Willis nicht für Nespresso geworben hat«, konterte Irmi lachend.

Fridtjof hob das Glas. »Ich Glücklicher. Für dich würde ich mich aber auch kahl rasieren.«