28
Haben Sie Ihre Frau gestern Nacht gefoltert, vergewaltigt und tödlich misshandelt?
Schweigen. Zögern.
Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich kann auch nicht sagen, dass ich es nicht getan hätte.
Stubbs blätterte weiter im Protokoll der Vernehmung von Conny Öhman, die Irene Lilja am 5. April, dem Tag nach dem Mord an seiner Frau, durchgeführt hatte. Noch hatte sie nicht richtig begriffen, worum es bei diesem Fall ging, oder vielmehr hatte sie nicht verstanden, warum Hugo Elvin sich dafür interessiert hatte. Abgesehen davon, dass Molander am Tag danach außerordentlich gut gelaunt gewesen war.
Fest stand, dass Öhman beruflich einen richtig beschissenen Tag hinter sich gehabt hatte. Er war vor allen Kollegen von seinem Chef zur Schnecke gemacht worden. Anschließend hatte er bei Harrys in Ängelholm ein paar Gläser gekippt, und als er etwa drei Stunden später nach Hause kam, ärgerte er sich über die Alte, wie er seine Frau beharrlich nannte.
Und was haben Sie dann gemacht? Zur Flasche gegriffen?
Normalerweise hilft das.
Es hilft? Mir liegen hier vier Anzeigen von Kerstin wegen Körperverletzung vor, und das sind nur die aus dem letzten halben Jahr.
Im Laufe des Tages hatte Stubbs nur wenig Zeit gehabt, bis Mona-Jill ungeduldig geworden war und sie daran erinnerte, dass sie versprochen hatte, das Unkraut im Küchengarten zu jäten, bevor sie gemeinsam die Radiosendung »Sommer auf P1« hörten und anschließend eine Fahrradtour um den Krankesjö machten.
Erst nach Mitternacht, als Mona-Jill im Tiefschlaf war, konnte sie hinaus zum Petterssonboot schleichen und weiterarbeiten.
Ja, ich bin Alkoholiker, falls Sie es genau wissen wollen. Dazu stehe ich. Ich habe es aber unter Kontrolle.
Das nennen Sie Kontrolle?
(Conny wird mit den Fotos seiner malträtierten Frau konfrontiert. Schweigen.)
Damit meine ich, dass ich entscheide, wann ich die Flasche aufmache, nicht umgekehrt. Wer was anderes behauptet, lügt.
Meiner Ansicht nach beweisen diese Bilder jedoch eindeutig, dass Sie gestern Nacht die Kontrolle verloren haben. Stimmen Sie mir da nicht zu?
(Schweigen.)
Doch.
(Schweigen.)
So viel habe ich aber gar nicht getrunken. Es klingt vielleicht, als würde ich lügen, aber es stimmt wirklich.
Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ihrer Frau all das in nüchternem Zustand angetan haben?
Nein, ich will damit sagen, dass ich viel schneller als sonst besoffen war. Und zwar richtig besoffen. Völlig ausgeknockt. Ich kann mich nicht erinnern. An fast nichts kann ich mich erinnern. Und nur damit Sie es wissen, ich habe eigentlich nie Erinnerungslücken. Es ist irgendwie seltsam. Als ob das Zeug … Ach, ich weiß nicht.
Dieser Teil war mit rotem Filzstift eingekreist, und die beiden letzten Sätze waren zusätzlich unterstrichen. Typisch Elvin, lauter Dinge hervorzuheben, ohne auch nur eine winzige Erläuterung an den Rand zu schreiben.
Was haben Sie denn getrunken?
Explorer. Ich trinke immer nur Explorer.
Stubbs blickte auf und schaute sich um, bis sie den Beweismittelbeutel mit der Flasche Explorer in einem Seitenfach des Bootes neben dem Schuhkarton voller Abhöreulen gefunden hatte. Elvin war also am Tatort gewesen. Obwohl es nicht sein Fall gewesen war, hatte er den Tatort aufgesucht und dort unter anderem eine Flasche an sich genommen.
Sie war noch etwas mehr als halb voll, und wenn Conny Öhman nichts anderes getrunken hatte, nachdem er nach Hause gekommen war, konnte es tatsächlich stimmen, dass er für einen Filmriss nicht besoffen genug gewesen war. So hatte Elvin natürlich auch gedacht.
Wenn es stimmte, war Molander möglicherweise vor der Mordnacht dort gewesen und hatte etwas in den Wodka gemischt. Wahrscheinlich Xyrem oder ein anderes schnell wirksames GHB-Präparat, das einen starken, der Wirkung von Alkohol ähnlichen Rausch verursachte und vom Körper innerhalb von wenigen Stunden abgebaut wurde, sodass es schon nach kurzer Zeit im Urin nicht mehr nachgewiesen werden konnte.
Wollen Sie noch etwas hinzufügen?
Nein. Nur dass ich nicht verstehe, was dieses ganze Verhör soll. Sie haben doch schon entschieden, dass ich es war.
Waren Sie es denn nicht ?
(Schweigen.)
Soll ich Ihr Schweigen als Geständnis deuten?
(Schweigen.)
Sieht so aus.
Denn wenn etwas dagegenspricht, sollten Sie jetzt mit der Sprache rausrücken.
(Schweigen.)
Sie können ja ihr Handy überprüfen. Sie hat immer gefilmt, wenn ich wütend wurde.
Das haben wir schon gemacht, und dabei haben wir, wie gesagt, einiges gefunden, was Sie belastet. Nur leider nichts aus der vergangenen Nacht. Ich war ja nicht dabei, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie aus naheliegenden Gründen keine Chance hatte, ihre Handykamera einzuschalten. Oder was meinen Sie?
(Zuckt mit den Schultern.)
Dass sie darauf nicht gekommen waren. Stubbs legte das Vernehmungsprotokoll auf den Tisch und schob sich die Lesebrille ins Haar. Elvin hatte natürlich auch ein Handy gehabt. Und das musste bei ihm in der Wohnung gewesen sein. Es war dort jedoch nicht gefunden worden, und soweit ihr bekannt war, auch sonst nirgendwo.
Hatte Molander es beschlagnahmt? Und wenn ja, warum?
Noch hatte sie sich die Daten auf dem Computer nicht angesehen. Normalerweise machte sie das bei einer Tatortuntersuchung als Letztes. Die wichtigsten Spuren waren fast immer physischer Natur. Außerdem konnte die Sichtung einer Festplatte je nach Größe eine zeitraubende Angelegenheit sein, die mehrere Tage in Anspruch nehmen konnte, vor allem, wenn man nicht wusste, wonach man suchte.
Als sie sich diesmal vor den Computer pflanzte, ihn hochfuhr und den DCIM-Ordner anklickte, wusste sie es allerdings genau. In diesem Ordner waren die Fotos. Es war ganz egal, ob man eine externe Speicherkarte hineinsteckte oder ein Handy mit dem USB-Anschluss verband. Sie landeten immer dort.
Und tatsächlich waren dort Fotos, allem Anschein nach sogar unendlich viele, und eines schönen Tages würde sie bestimmt dazu kommen, sie alle in Ruhe zu analysieren. Aber nicht jetzt. Deswegen sortierte sie die Bilder in chronologischer Reihenfolge und scrollte zurück zum 5. April. Doch da waren keine Fotos. Vom Freitag, dem sechsten, als Molander laut Bericht dort gewesen war und seine Untersuchungen durchgeführt hatte, gab es auch keine. Und auch nicht vom darauffolgenden Wochenende.
Dafür fand sie ein Video.
Am Sonntag, dem achten, um 07:17 Uhr hatte Elvin ganze vier Minuten und dreiundvierzig Sekunden lang gefilmt. Es war zwar zweieinhalb Tage nach dem Mord gewesen und hätte im Grunde alles Mögliche sein können. War es aber nicht.
An Munka-Ljungby war sie sicher schon mal vorbeigefahren. In die Pizzeria Munka jedoch hatte sie nie einen Fuß gesetzt. Den Unterlagen zufolge hatten Kerstin und Conny Öhman einen Teil ihres Hauses an das Lokal vermietet, und dem wackeligen Video nach zu urteilen, das Elvin offenbar im Gehen mit dem Handy gefilmt hatte, war er dorthin unterwegs.
Sein eigenes Auto hatte er vermutlich ein Stück weiter weg geparkt, um dem dunkelblauen Audi nicht zu nahe zu kommen, auf dessen Nummernschild Elvin jetzt die Kamera richtete. Sie drückte auf Pause, führte eine kurze Recherche durch und überzeugte sich davon, dass sie richtig geraten hatte.
Der Audi gehörte Molander.
Laut Ermittlungsakte hatte er die Untersuchung des Tatorts bereits am Freitag, dem sechsten, abgeschlossen. Trotzdem war er nach etwas mehr als 24 Stunden dort gewesen. Es war zwar nichts Ungewöhnliches, dass der Kriminaltechniker einen letzten Blick auf den Tatort warf, bevor der Reinigungstrupp anrückte. Das hatte sie selbst auch schon oft gemacht. Aber nie in ihrem privaten Wagen und definitiv nicht, ohne es dem verantwortlichen Ermittlungsleiter mitzuteilen, in diesem Fall Irene Lilja.
Elvin ließ Molanders Auto hinter sich und ging über einen Sandweg zur Rückseite des Hauses, öffnete vorsichtig die Tür und trat ein. Da er immer noch das Handy in der Linken hielt, konnte man nur einen schmutzigen grünen Teppich, seine bequemen Ecco-Schuhe und den Saum seiner Jeans erkennen.
Geräusche hingegen gab es reichlich. Der Fußboden knarrte, er selbst keuchte leicht, und die Tür zum Wohnzimmer quietschte.
»Ach, hallo«, hörte man Molander rufen, der eine Sekunde später im wackligen Bild zu sehen war. Er stand ganz oben auf einer Leiter und hatte eine Hand an der Deckenlampe. »Was machst du denn hier?«
»Nichts Besonderes. Ich kam zufällig vorbei und war etwas neugierig.«
»An einem Sonntagmorgen um halb acht zufällig in Munka-Ljungby. Aha.« Molander schien etwas in die Jackentasche zu stecken.
»Ob du es glaubst oder nicht, ich war in Skälderviken angeln und habe sogar einen fast drei Kilo schweren Kabeljau gefangen. Und selbst? Wart ihr nicht vorgestern schon fertig hier?«
»Du weißt ja, wie das ist. Wir waren in Eile, und man will schließlich nichts übersehen.« Molander stieg hastig die Leiter hinunter und verschwand aus dem Bild.
Er war eindeutig gestresst und verhielt sich, als hätte Elvin ihn auf frischer Tat ertappt. Aber wieso war er dort, und was hatte er von der Deckenlampe heruntergeholt ?
»Nein, das will man nicht.« Elvin richtete die Handykamera auf den Fußboden, auf dem keine Blutspuren zu sehen waren. Mit anderen Worten, der Reinigungstrupp war bereits da gewesen und hatte alle eventuellen Spuren entfernt, was Molanders Anwesenheit noch merkwürdiger machte. »Ich wusste gar nicht, dass noch Unklarheiten bestehen.«
»Wer hat was von Unklarheiten gesagt?« Das Handy wurde schräg nach oben gehalten, woraufhin Molander wieder im Bild zu sehen war, aber diesmal aus der Froschperspektive. »Hier gibt es keine Unklarheiten.«
»Es steht also fest, dass es dieser Conny war, oder wie er hieß?«
Das Handy filmte wieder den Fußboden, auf dem zwei von Molanders sorgfältig sortierten Aluminiumkoffern voller technischer Geräte aufgeklappt standen.
»Natürlich war er es. Meines Wissens gab es in diesem Punkt auch nie einen Zweifel. Wer hätte es sonst gewesen sein sollen? Hier gibt es keine Spuren einer dritten Person. Er hatte ihr Blut an den Händen, der Kleidung und zwischen den Beinen. Außerdem hat er Lilja zufolge so etwas wie ein Geständnis abgelegt.«
»Ganz ruhig. Mich brauchst du nicht zu überzeugen.«
»Das will ich auch gar nicht. Ich bemühe mich nur, deine Neugier zu befriedigen.«
»Na dann. Nichts Eigenartiges also.«
»Nein, im Gegenteil. Sei unbesorgt.«
Beide verstummten, und man hörte, dass Molander seine Aluminiumkoffer zuschnappen ließ, während Elvin ins Zimmer hineinging und die Kamera auf die halb volle Flasche Explorer auf dem Kaminsims richtete.
»Hast du denn was entdeckt?«
»Entdeckt? Wie, entdeckt? «
»Auf der Deckenlampe. Was hattest du denn da oben sonst zu suchen?«
»Ach, die. Tja, gute Frage. Mit war nur eingefallen, dass ich vergessen hatte, da oben nachzuschauen, und ich wollte, wie gesagt, auf Nummer sicher gehen.«
»Dann wollen wir hoffen, dass der Reinigungstrupp sie auch vergessen hat.«
»Keine Sorge, oben auf der Lampe war es fast so staubig wie bei dir zu Hause.« Molander lachte etwas zu laut, verstummte aber rasch, als Elvin nicht in sein Lachen einstimmte. »Jetzt muss ich aber nach Hause. Wenn du dich jetzt bitte verziehen würdest, wäre das spitze, dann kann ich hinter dir abschließen.«
»Hast du es eilig?«
»Das kann man wohl sagen. In einer halben Stunde wacht Gertrud auf, und wenn ich ihr dann keinen frischen Kaffee und Croissants serviere, kriegt sie richtig schlechte Laune. Du weißt ja, wie das ist.«
»Nein, um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Aber geh ruhig, ich schließe hinter dir ab.«
»Du willst also noch bleiben? Jetzt werde ich neugierig. Darf man fragen, warum?«
»Ohne bestimmten Grund eigentlich. Wie gesagt, ich kam zufällig vorbei. Es stört dich doch nicht, wenn ich noch ein bisschen bleibe?«
»Nein, wieso sollte es. Von mir aus kannst du so lange bleiben, wie du willst. Conny Öhman kommt vorerst sowieso nicht nach Hause.« Erneut gab Molander ein verkrampftes Lachen von sich. »Na gut, dann gehe ich mal.«
»Tu das, damit du nicht zu spät kommst. Und vergiss nicht, Gertrud von mir zu grüßen.«
Molander nahm seine Koffer und verließ den Raum. Sobald die Haustür ins Schloss gefallen war, richtete Elvin die Handykamera wieder auf den Kaminsims. Diesmal nahm er jedoch nicht die Wodkaflasche in den Fokus, sondern eine Reihe von kleinen schwarzen Plastikgegenständen.
Stubbs sah sofort, dass es die gleiche Art von Abhörmikrofonen war, die Elvin in seinen Eulen benutzt hatte. Er hatte sich von Molander also nicht nur die Idee, sondern auch die Technik abgeschaut, mit der er dann dessen Wohnzimmer verwanzt hatte.
Außerdem musste Molander, sobald er zu Hause seine Koffer aufklappt hatte, aufgefallen sein, dass er vor Nervosität einen Teil seiner Ausrüstung am Tatort vergessen hatte. Wahrscheinlich war er noch einmal zurückgefahren und hatte bemerkt, dass Elvin die Abhörgeräte und die Wodkaflasche an sich genommen hatte.
Wahrscheinlich war das ein ausreichender Grund gewesen, ihn umzubringen.