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Bislang kämpfte die Oberflächenspannung zwar lautlos, aber deshalb nicht weniger erbittert gegen die Schwerkraft an, obwohl das Schicksal dieses Wassertropfens am äußersten Rand des Wasserhahns von Anfang an besiegelt gewesen war. Ebenso wie das all der Tropfen zuvor.
Trotzdem war es jedes Mal, wenn die Schwerkraft am Ende siegte und den Tropfen zwang, sich vom äußersten Rand zu lösen, zu fallen und auf die spiegelblanke Wasseroberfläche in der Badewanne zu treffen, ein einzigartiges Ereignis.
In Zeitlupe wurde ein tiefer Krater in die Wasseroberfläche gerissen, von dem eine kreisförmige Wellenbewegung ausging, die sich wenige Zentimeter über dem Gesicht
mit den aufgerissenen Augen und der Luftblase, die im einen Nasenloch hängen geblieben war, ausdehnte.
Noch ein Opfer. Noch ein sinnloser und völlig unbegreiflicher Mord.
Unfähig, einen anderen Gedanken zu fassen, richtete Tuvesson die Taschenlampe auf die Leiche in der randvollen Badewanne. Diesmal war es die eines nackten jungen Mannes, ebenso schön wie durchtrainiert. Ein Mann, der an diesem Abend seine Freundin zum Essen einladen wollte, um ihren Verlobungstag zu feiern. Der jedoch nicht gekommen war. Eine halbe Stunde später hatte sie ihn tot in seiner Badewanne aufgefunden.
Womit hatte er ein so frühes Ende verdient? Was sollte das Ganze? Sie schüttelte den Kopf und spürte, dass ein Teil von ihr dazu neigte, zu resignieren und sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie dieses Rätsel vielleicht nie lösen würden.
Immerhin war Molander sowohl konzentriert als auch tatkräftig bei der Arbeit, obwohl es schon nach Mitternacht war und Gertrud ihn verlassen hatte. Mit seiner gewohnten jungenhaften Neugier ging er durch die Wohnung, leuchtete mit der Taschenlampe Wände, Boden und Decke ab und schien genau zu wissen, an welchem Ende er anfangen musste.
»Es ist noch zu früh für endgültige Befunde, aber hier haben wir wahrscheinlich den Grund für den Stromausfall.« Molander richtete den Lichtkegel auf ein Kabel, das provisorisch unter der Zimmerdecke und an der einen Wand verlegt war und schließlich hinter der Badewanne endete.
Sie selbst konnte sich leider gar nicht konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten in alle Richtungen und verknäulten sich zu einem einzigen Durcheinander, das bald so groß sein würde, dass es sich überhaupt nicht mehr entwirren
ließ.
»Irgendwo hinter der Wanne ist das Kabel vermutlich geteilt worden«, fuhr Molander fort. »Hier am Fußende haben wir nämlich den Nullleiter, und am Kopfende ist die Phase.«
Tuvesson nickte und sah auch selbst, dass unter Wasser ein blaues und ein braunes Kabel, beide ohne Isolierung an den Enden, mit Klebeband an der Wanne befestigt waren.
»Hältst du mal?« Molander drückte ihr die Taschenlampe in die Hand, griff nach dem Schrubber, der an der Wand lehnte, und hielt den Stiel vorsichtig ins Wasser. Dann schob er die Leiche vorsichtig ein Stück zur Seite und bückte sich. »Das habe ich mir gedacht.« Er drehte sich zu Tuvesson um.« Die Erde ist bis zum Boden hinuntergezogen worden.«
»Dann ist er also an einem Stromschlag gestorben.«
»Das wäre zumindest eine Hypothese.« Molander stellte den Schrubber weg. »Wir warten aber lieber ab, was Flätan sagt. Meines Wissens ist niemand so allergisch gegen voreilige Schlüsse wie er.«
»Und was wäre die andere Hypothese?«
»Dass er ertrunken ist. Was sonst?«
Natürlich. Was sonst. Sie musste sich wirklich zusammenreißen, bevor es peinlich wurde.
»Es ist jedoch eindeutig, dass der Wasserstand über die Kabel gestiegen ist«, fuhr Molander fort. »Und Wasser an sich leitet zwar keinen Strom, aber hier gibt es genügend Schmutzpartikel, die es tun.«
»Genug, um jemanden zu töten?« Okay, sie hatte getrunken. Aber nur wenig und bei Weitem nicht so viel, als dass es sie bei ihrer Arbeit beeinträchtigt hätte.
»Kommt drauf an, würde ich sagen.« Molander machte eine abwägende Handbewegung.
»220 Volt sind es doch auf jeden Fall,
oder?« Sie war wahrscheinlich nur müde und brauchte Schlaf. Es war ja auch schon weit nach Mitternacht.
»Ja, es kommt aber nicht auf die Voltzahl, sondern auf den Amperewert an. Man braucht mindestens dreißig bis vierzig Milliampere, und zwar für ungefähr eine Minute, um die Atemmuskulatur zu lähmen und das Opfer bewusstlos zu machen.«
»Im Grunde willst du damit also sagen, dass es noch zu früh ist, um überhaupt etwas zu sagen.«
Molander nickte. »Ja, ich werde die Stromstärke in den Kabeln, die Leitungsfähigkeit des Wassers und eventuelle Spuren in der übrigen Wohnung gründlich untersuchen müssen, bevor wir irgendetwas mit Sicherheit wissen. Und dann wäre da ja noch Flätan, der, wie du schon gesagt hast, keinen Mucks von sich geben wird, bevor er ihn nicht wenigstens aufgemacht und einen Blick auf die Lunge geworfen hat.«
»Okay. Aber irgendeine Vermutung musst du doch haben? Ich muss zugeben, dass ich das Ganze, gelinde gesagt, verwirrend finde. Ich meine, wenn man sein Opfer nun mit einem Stromstoß töten will, wäre es doch leichter, es im Trockenen zu machen und die Kabel direkt am Körper zu befestigen. Oder täusche ich mich?«
Molander schüttelte den Kopf. »Genau darüber habe ich auch nachgedacht. Die einzige Erklärung wäre, dass diese Elektroinstallation hier nur ein Teil der Erklärung ist.«
»Du meinst, da ist noch mehr? Was könnte es sein?«
»Eine zweite Ebene? Ich weiß nicht.« Molander zuckte mit den Schultern. »Meine Untersuchungen dienen dazu, es herauszufinden.«
»Komm schon. Du hast doch eine Vermutung. Das merke ich dir an. Seit du diesen Raum betreten hast. Meine Güte, Ingvar, ich
kenne dich doch.«
Molander seufzte. »Würdest du mir wenigstens eine Stunde Zeit …«
»Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Aber vorher will ich, dass du mir ganz genau erklärst, was hier deiner Vermutung nach passiert ist. Ich sagte, deiner Vermutung nach, nicht, deines Wissens. Solltest du später doch Hinweise entdecken, die in eine andere Richtung deuten, beschäftigen wir uns dann damit.«
»Okay.« Molander holte tief Luft und drehte sich zur Badewanne um. »Zunächst einmal muss Milwokh sein Opfer überwältigt und irgendwie ruhiggestellt haben.«
»Er könnte ihn doch niedergeschlagen oder betäubt haben.«
»Ja, das ist sehr gut möglich, aber ob es tatsächlich so war, wird Flätans toxikologische Untersuchung zeigen. Wenn, dann hat er ihn jedenfalls nur betäubt, um ihn auszuziehen und in die Badewanne zu verfrachten.«
»Hoffen wir, dass er auch seinen eigenen Tod verschlafen hat.«
»Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt, aber die Realität sah wohl leider anders aus.« Molander steckte erneut den Schrubberstiel ins Wasser und schob die Leiche zur Seite. »Es deutet nämlich einiges darauf hin, dass er wach war. Schau mal hier.«
Tuvesson beugte sich über die Wanne und sah ein Drahtseil, das durch eine Öse auf dem Boden der Badewanne gezogen war und unter dem Rücken des Opfers verschwand.
»Das andere Ende ist vermutlich an den Handgelenken des Opfers befestigt, was nicht nötig gewesen wäre, wenn der Mann die ganze Zeit bewusstlos war.«
»Könnte das Drahtseil nicht nur zur Sicherheit da gewesen sein, falls das Opfer zufällig aufwacht?«
»Klar. Falls es nicht beabsichtigt war, dass er aufwacht.« Molander zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es der Witz an
der Sache, dass er wach ist, während er stirbt. Das würde auch erklären, warum er ihn in die Badewanne gelegt hat.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Ich glaube, und ich betone ausdrücklich glaube
, dass Milwokh seinem Opfer die Wahl der Todesart überlassen hat.«
»Und wieso sollte er das tun? Ich verstehe nicht, warum.«
»Warum steckt man jemanden in eine Waschmaschine?« Molander breitete die Arme aus. »Es würde die Badewanne, das Drahtseil an den Handgelenken und nicht zuletzt die Position der Kabel erklären.«
Tuvesson wollte Einspruch erheben, wurde aber von einer erhobenen Hand gebremst.
»Unterbrich mich bitte nicht ständig.«
»Entschuldige, ich bin nur so …«
»Astrid, ich weiß. Wir tappen alle im Dunkeln. Deswegen möchte ich auch so schnell wie möglich mit der Untersuchung beginnen. Wenn du wissen willst, was ich vermute, musst du dir meinen Gedankengang erst einmal anhören, bevor du ihn mit deinen Kommentaren torpedierst. Okay?«
Tuvesson nickte.
»Wie du siehst, sind die Kabelenden ziemlich weit oben in der Badewanne befestigt, nämlich direkt unter dem Rand«, fuhr Molander fort. »So weit oben, dass er sogar den Überlaufschutz abdichten musste, damit das Wasser nicht abläuft.« Er zeigte auf die graue Masse im Überlauf. »Ich vermute, dass er sein Opfer betäubt, ausgezogen und am Boden der Badewanne festgezurrt hat. Dann hat er abgewartet, bis das Opfer aufgewacht ist. Erst dann hat er den Wasserhahn aufgedreht. Ich würde sogar darauf wetten, dass er das Wasser gar nicht voll aufgedreht hat, sondern nur einen dünnen Strahl laufen ließ.
«
»Und wie kommst du darauf?«
»Vielleicht wollte er dem Opfer Zeit lassen, den Ernst der Lage zu begreifen. Wer weiß? Vielleicht saß Milwokh auf diesem Hocker da und hat ihm alles genau erklärt. Dass nämlich das Wasser langsam bis zu den Kabeln steigt, und er selbst entscheiden könne, ob er ertrinken oder lieber abwarten wolle, bis er einen sehr viel schmerzhafteren Tod durch Stromstoß erleiden würde.«
»Stimmt es wirklich, dass der Tod durch Stromstoß schmerzhafter ist?«
»Auf jeden Fall. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber ertrinken. Nach dem Anfangsschmerz spürst du nichts mehr und treibst einfach schwerelos im Wasser. Ein Tod durch Stromstoß hingegen ist alles andere als angenehm. Je nach Stromstärke verbrennst du im Grunde von innen. Muskeln, Gewebe, innere Organe. Außerdem kann es sich ziemlich in die Länge ziehen. Wenn du Pech hast, bis zu zehn, fünfzehn Minuten.«
»Er hätte sich also selbst ertränken oder abwarten können, bis er von innen verbrennt.«
Molander nickte. »Aber frag mich lieber noch mal, wenn ich mit der Untersuchung fertig bin und Flätan seine Arbeit gemacht hat.«
»Hätte denn nicht die Sicherung rausspringen müssen, sobald die Kabel unter Wasser waren?« Endlich war sie geistig einigermaßen auf der Höhe. »Darauf hätte ich an seiner Stelle jedenfalls gesetzt.« Tuvesson drückte auf den Lichtschalter, aber es ging keine Lampe an. »Strom fließt hier offensichtlich nicht, der Strom kann also höchstens eine Sekunde lang geflossen sein.«
»Stimmt.« Molander nickte nachdenklich. »Auf der anderen Seite betrifft der Stromausfall nicht nur diese Wohnung, sondern das ganze Haus, und das würde erklären …« Er verschwand aus dem Badezimmer und ließ Tuvesson ratlos zurü
ck.
Sie hatte durchaus ein paar kluge Sachen gesagt. Auf einiges war Molander selbst nicht gekommen. Aber sie war nicht in Form, bei Weitem nicht. Jeden einzelnen Gedanken hatte sie sich mühsam erarbeitet, und trotzdem war sie in erster Linie verwirrt.
Aber am Schnaps konnte es nicht liegen. So abwegig es auch klingen mochte, aber die Sauferei hatte sie wieder unter Kontrolle.
»Hier ist er!«, rief Molander aus dem Flur.
»Wer?«
»Der Sicherungskasten.«
»Und? Hilft er dir weiter?«
So wie jeder normale Mensch hatte sie es geschafft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, und nun musste sie nur noch aufpassen, dass sie nicht wieder abstürzte.
»Ich muss mir die Sache natürlich im Labor genauer anschauen, aber es sieht so aus, als hättest du recht. Eine der Sicherungen scheint durch eine Art Eigenbau ersetzt worden zu sein.«
»Okay.« Tuvesson ging in den Flur und folgte dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe.
Ihr erster Versuch war gescheitert. Am Sonntag hatte sie einen waschechten Rückfall gehabt, da biss die Maus keinen Faden ab. Aber dafür war sie vorher auch einen ganzen Monat lang brav gewesen, und Rückfälle gehörten schließlich dazu. Vielleicht hatte sie genau das gebraucht, um wieder in die Balance zurückzufinden, die sie jetzt hielt.
Wenn nur der Anruf nicht gewesen wäre, der ihr nicht aus dem Kopf ging.
»Ich gehe in den Keller und sehe nach, ob es dort genauso ist. Es würde eventuell erklären, warum der Strom nicht sofort, sondern erst nach einer Viertelstunde ausgefallen ist.
«
Ihre Erinnerung war verschwommen. Es war mitten in der Nacht gewesen. Sie lag auf dem Küchenfußboden und war wohl gerade eingeschlafen, nachdem sie in dem verzweifelten Versuch, die schwindelerregende Rotation ihrer Umgebung zu stoppen, in die Spüle gekotzt hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an ein Klingeln erinnern, sondern wusste nur noch, dass sie sich das Handy plötzlich ans Ohr gehalten und am anderen Ende eine männliche Stimme gehört hatte. Kurz darauf war das Gespräch unterbrochen gewesen, und sie versank wieder im Nebel.
Am Tag darauf, also gestern, war sie davon ausgegangen, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch nachdem sie die Anrufe auf ihrem Handy durchgegangen war, hatte sie festgestellt, dass Fabian Risk sie am Montag zwischen 00:15 und 00:18 Uhr ganze dreimal angerufen hatte. Beim letzten Mal war sie offenbar rangegangen, woraufhin sie ein einundzwanzig Sekunden langes Gespräch geführt hatten.
Worüber sie gesprochen hatten, war der Liste nicht zu entnehmen. Erinnern konnte sie sich auch nicht. Sie hatte jedoch einen Verdacht, und daher hatte sie bereits am Vortag die notwendigen Maßnahmen ergriffen.