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Obwohl Fabian einen dicken Pullover übergezogen hatte und die Meeresluft mild war, hatte er schon nach einer knappen Stunde angefangen zu frieren. Er war angespannt. Daran lag es. Sein ganzer Körper war auf der Hut, und als er sich nach einer weiteren halben Stunde zum wiederholten Mal das Fernglas vors Gesicht hielt, den Blick über den
nachtschwarzen Öresund schweifen ließ und nach Dänemark hinüberschaute, war ihm so kalt geworden, dass seine Hände zitterten.
Doch dagegen war nichts zu machen. Die beiden Männer von der Helsingborger Küstenwache hatten es längst aufgegeben, ihn zum Abbruch des Einsatzes zu überreden, der in ihren Augen pure Zeitverschwendung war.
Und deshalb konnte er sich jetzt, so gerne er es auch getan hätte, nicht zu ihnen in den geheizten Steuerstand gesellen. In ihren Augen wäre das ein deutliches Zeichen gewesen, ebenfalls aufzugeben. Sie hätten sofort eine Chance gewittert, zu ihrer Helsingborger Anlegestelle zurückzukehren. Doch solange er hier draußen stand und mit zitternden Fingern das Fernglas umklammerte, mussten sie ihn lassen.
Wenigstens war er dazu gekommen, mit Stubbs zu sprechen, die ihm von einem Mordfall draußen in Munka-Ljungby erzählt hatte, für den sich Elvin im Frühjahr aus irgendeinem Grund interessiert hatte. Sie hatte versucht, ihm das Ganze zu erklären, aber er war nicht ganz mitgekommen. Morgen wollte sie auf jeden Fall mit einem gewissen Conny Öhman sprechen, der wegen Mordes an seiner Ehefrau verurteilt war, und falls ihre Vermutung, er sei unschuldig, sich bewahrheiten würde, glaubte sie genügend Beweise gegen Molander in der Hand zu haben, um ihn festzunehmen.
In gewisser Weise konnte er den Unwillen der beiden Beamten von der Küstenwache verstehen. Der Einsatz, zu dem er sie gezwungen hatte, war praktisch aussichtslos. Der Südhafen von Helsingborg war zwar nur einige Hundert Meter von der Wohnung entfernt, in der Milwokhs jüngstes Opfer noch immer in der Badewanne lag, und dass er ein Schlauchboot gemietet hatte, deutete darauf hin, dass er hier seinen Fluchtweg angetreten hatte
.
Wo er dann aber abgeblieben war, stand auf einem anderen Blatt. Er konnte überall sein. Zum Hafen in Råån, wo sich der Bootsverleih befand, war er nicht zurückgekehrt. Dort hatten sie, genau wie im Südhafen, jeden Quadratmeter abgesucht. Anschließend waren sie die gesamte Küste vom südlichen Landskrona bis nach Höganäs im Norden abgefahren, und auf Fabians Drängen hatten sie sogar ein paar Runden auf dem Sund gedreht.
Ohne Zweifel tappten sie im Dunkeln. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass Milwokh irgendwo hier draußen war und mit ausgeschalteten Lichtern darauf lauerte, dass sie die Suche aufgaben.
Sie wussten nur, dass er sich das Boot für zwei Tage ausgeliehen hatte, was für eine kürzere Reise sprach. Daher hatten sie zur Unterstützung zwei uniformierte Kollegen aus Landskrona angefordert, die den Bootsverleih observierten, obwohl natürlich nicht gesagt war, ob er überhaupt beabsichtigte, das Boot zurückzubringen. Andererseits hätte das wiederum bedeutet, dass er fertig war und nie wiederkommen würde, und danach sah es im Moment gar nicht aus. Im Gegenteil.
Da war es naheliegender, dass er hinüber auf die dänische Seite gefahren war und das Boot in einem unbewachten Küstenabschnitt an Land gezogen hatte.
»Hallo?«, rief einer der Männer am Steuerstand. »Wie läuft es bei Ihnen? Haben Sie etwas entdeckt?«
»Nein, aber vielleicht könnten wir mal auf die dänische Seite rüberfahren …«
»Es wird nämlich langsam höchste Zeit, zurückzufahren«, unterbrach ihn der Mann.
»Ja, das haben Sie schon öfter gesagt, aber ich würde gerne noch ein bisschen weitermachen.« Während Fabian
das Fernglas auf die Insel Ven im Süden richtete, konzentrierte er sich darauf, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.
»Das geht leider nicht. Bengan und ich haben in vierzig Minuten Dienstschluss, und vorher müssen wir das Schiff noch abspülen und volltanken und den Bericht ausfüllen.« Er zuckte mit den Schultern. »Es geht nicht.«
»Für die Überstunden würden Sie doch entschädigt.«
»Das haben leider nicht wir zu entscheiden. Sparmaßnahmen, Sie wissen schon, und angeblich soll unsere ganze Abteilung mit Malmö zusammengelegt werden. Krank, wenn Sie mich fragen. Aber das passiert eben, wenn es nur noch ums Geld geht.« Der Mann drehte sich um und nickte seinem Kollegen am Steuer zu, der daraufhin Kurs auf den Helsingborger Hafen nahm.
»Moment mal.« Fabian ließ das Fernglas sinken und stieg zu den Männern in den Steuerstand hinunter. »Ich höre, was Sie sagen, aber wir haben es mit einem Mörder zu tun, der innerhalb von etwas mehr als einem Monat mindestens sechs Menschen umgebracht hat, und der befindet sich möglicherweise irgendwo hier draußen und wartet nur darauf, dass wir aufgeben.«
»Möglicherweise befindet er sich aber auch ganz woanders«, sagte der Mann am Steuer. »Und jetzt haben wir die gesamte Küste von Höganäs bis Landskrona abgesucht, und zwar nicht nur einmal …«
»Aber nicht die dänische Küste«, fiel Fabian ihm ins Wort. »Da sind wir nicht gewesen.«
»Dänemark?« Der Mann am Steuer sah seinen Kollegen auffordernd an. »Ohne Genehmigung dürfen wir gar nicht in dänische Gewässer vordringen.«
»Falls Sie ihn dort vermuten, sollten Sie das lieber gleich mit den Dänen klären«, sagte der andere.
»Okay, und wen muss ich da ansprechen?« Fabian versuchte,
sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Sowohl wegen Ihrer Überstunden als auch wegen der Genehmigung, den Sund zu überqueren?«
»Äh, so einfach ist das ja nicht«, sagte der eine und sah wieder seinen Kollegen an. »Oder was meinst du, Bengan?«
»Also, das sind ja zwei völlig unterschiedliche Dinge. Was die Dänen angeht, haben wir genaue Vorschriften. Deren Seestreitkräfte müssen die Erlaubnis erteilen. Unsere Überstunden sind eine Frage des Budgets, und dafür ist Gert-Ove Helin zuständig.«
»Dann schlage ich vor, wir fangen mit den dänischen Seestreitkräften an.«
Die beiden Beamten seufzten, aber dann wandte sich der eine der Schalttafel zu, griff zu einem Hörer mit Schnur und tippte eine Nummer ein.
»Vielleicht sollte ich das machen.« Fabian nahm ihm den altmodischen Hörer aus der Hand. Das Tuten darin rauschte ziemlich.
»Sie sprechen mit den Seestreitkräften.«
»Hallo, mein Name ist Fabian Risk, ich bin von der schwedischen Polizei in Helsingborg.«
»Hallo, was kann ich für Sie tun?«
»Ich befinde mich gleich nördlich von Helsingborg an Bord eines Schiffs der schwedischen Küstenwache, Kennzeichen KB 202
. Wir bräuchten Ihre Genehmigung, während der Verfolgung eines Täters dänisches Gewässer zu befahren.«
»Fabian Risk von der Polizei Helsingborg. Ist das korrekt?«
»Ja, das stimmt.«
»KB 202
also. Geht in Ordnung. Aber wenn was passiert, informieren Sie uns bitte. Okay?«
»Natürlich. Kein Problem.« Fabian legte auf, zog sein
Handy aus der Tasche und drehte sich zu den beiden Männern um. »Und was hat dieser Gert-Ove für eine Nummer?«
Noch bevor er eine Antwort bekam, erwachte das bordeigene Funkgerät zum Leben.
»Notrufzentrale an KB 202
. Kommen.«
»Hier KB 202
. Kommen«, sagte einer der beiden Beamten.
»Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Aber es war besetzt. Kommen.«
»Ja, wir haben uns von den Dänen die Genehmigung geholt, rüber in ihre Gewässer zu fahren. Worum geht’s? Kommen.«
»Wir haben einen Notruf von einer Hallberg-Rassy auf 56°17'16.8" N und 12°20'31.2" E bekommen. Ihr seid nicht zufällig in der Nähe? Kommen.«
»Klingt, als wäre das irgendwo vor Kullaberg. In dem Fall müssten wir in zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten dort sein. Kommen.«
»Gut. Ich glaube, es wäre gut, wenn ihr mal vorbeifahren und nachsehen könntet, ob alles okay ist. Kommen.«
»Kein Problem. Wie lautet denn die Meldung? Motorschaden?«
»Sie sagten irgendwas von einem schwarzen Schlauchboot und einem Schwe… Ach, es würde mich nicht wundern, wenn sie nicht nüchtern sind. Nehmt am besten Blutproben und lasst sie pusten. Sie wirkten ziemlich verwirrt, wenn ich ehrlich sein soll. Kommen.«
»Alles klar, wir fahren hin. Ende.«
»Moment mal. Hallo?« Fabian riss dem Beamten das Funkgerät aus der Hand. »Entschuldigung, was genau haben die Leute gesagt?« Er wartete ab, hörte aber nur ein Rauschen. »Kommen.«
»Mit wem spreche ich? Kommen.
«
»Fabian Risk von der Polizei Helsingborg. Sie sagten etwas von einem schwarzen Schlauchboot. Was haben die Leute noch gesagt? Kommen.«
»Wie gesagt, es klang alles sehr konfus. Aber angeblich hat jemand ihr Boot geentert und sie mit einem Schwert angegriffen. Kommen.«