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Mit laut tuckerndem Dieselmotor legte sich das Schiff KB 202
von der Küstenwache neben die Hallberg-Rassy, die Vorsegel und zwei Drittel des Großsegels gerefft hatte.
Die Fender hingen draußen. Tampen wurden hinübergeworfen und an Klampen befestigt, bis die beiden Boote zu einem
wurden, auch wenn die Segelyacht selbst aus der Entfernung im Vergleich zu ihrem Besucher winzig aussah.
Er war an die hundert Meter von ihnen entfernt und musste zugeben, dass er von seinem neuen Fernglas beeindruckt war. Ein Armasight Discovery 5X
. Er benutzte es zum ersten Mal, und hier draußen konnte es wirklich beweisen, was es taugte. Schluss mit den verwaschenen grünen Nachtbildern. Jetzt hatte er ein ebenso klares wie detailreiches Bild vor Augen. Hätte der Ton nicht gefehlt, hätte er beinahe das Gefühl, mit an Bord zu sein. Das Ding war jede Krone wert.
In gewisser Weise hatte er Glück gehabt. Er hätte genauso gut noch im Wasser sein und vergeblich nach seinem Schlauchboot suchen können. Er hatte eine Dreiviertelstunde gebraucht und war kurz davor gewesen, die Hoffnung aufzugeben, als es plötzlich wie aus dem Nichts auf ihn zutrieb. Sogar das Schwert war noch da, weil es in den Sekunden, in denen er bewusstlos gewesen war, an einer der Ösen an seinem Neoprenanzug hängen geblieben war.
Trotzdem hatte er ganz und gar nicht das Gefühl, dass das Glück auf seiner Seite war.
Er hatte gerade erst den Fehlschlag mit dem Mädchen in Ordnung gebracht und endlich das Gefühl gehabt, sich mit neuer Energie und Hingabe dem nächsten Auftrag widmen zu können. Einem Auftrag, der sich, man konnte es nicht anders sagen, in ein totales Fiasko verwandelt hatte.
Ging ihm die Luft aus? War er zu beschäftigt gewesen, um es zu merken? Schwanden seine Kräfte? Fast fühlte es sich so an.
Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass der Zufall einen eigenen Willen hatte, und unterm Strich hatte er vielleicht sogar großes Glück gehabt. Trotzdem hatte er in den vergangenen zwei Tagen das Gefühl gehabt, der Würfel wäre gegen
ihn.
Auf den ersten Blick war die Hallberg-Rassy eine perfekte Zielscheibe gewesen. Der Würfel hatte seine Entscheidung gefällt, und ein paar Minuten lang war er fest überzeugt gewesen, dass diese Begegnung einen höheren Sinn hatte.
Und dann war alles schiefgegangen. Buchstäblich alles.
Allein, an Bord zu kommen, war alles andere als ein Kinderspiel gewesen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er bereits in dreißig Metern Entfernung seinen Motor ausschalten und das letzte Stück lautlos zurücklegen müssen. Trotzdem war er ein wenig zu schnell gewesen und hatte, obwohl er sich gleich nach vorn gestürzt hatte, nicht verhindern können, dass er gegen den Rumpf stieß.
Zunächst hatte niemand auf das Geräusch reagiert. Als er über die Reling geklettert war und durch eins der Fenster das bläuliche Licht schimmern sah, wusste er auch, warum. Sie hatten einen Film geschaut, was angesichts der Tatsache, dass sie sich immer noch im stark befahrenen Öresund befanden, recht mutig war.
So weit, so gut
, hatte er gedacht, während er mit dem Würfel in der Tasche und dem Schwert im Rückenholster ins Cockpit hinunterstieg. Völlig unvorbereitet auf das verschlafene kleine Arschloch, das aus der Achterkajüte schaute.
Und so hatten sie eine Weile dagestanden. Wie versteinert. Ihm war sogar die Idee durch den Kopf geschossen, wieder in sein Gummiboot zu steigen, den Tampen zu kappen und zu verschwinden. Er hatte der Versuchung jedoch widerstanden.
Sie waren zu dritt gewesen, eventuelle Haustiere nicht mitgezählt. Er konnte also jedem Familienmitglied zwei Ziffern zuordnen. Das Kind bekam die Eins und die Zwei, weil es am jüngsten war, die Mutter die Drei und die Vier und der Vater schließlich die Fünf und die Sechs.
Das Problem war, dass er keine
Zeit zum Würfeln gehabt hatte, ein Problem, für das er dringend eine Lösung finden musste, weil es in Stresssituationen immer wieder vorkam. Nun hatte er sich stattdessen um den Jungen kümmern müssen, der augenscheinlich zu einem gellenden Schrei ansetzte.
Drei schnelle Schritte später stürzte er sich auf ihn und stieß ihn zurück in die Achterkajüte. Anschließend hatte er die Tür von innen zugemacht und sein Schwert gezogen, das sich in der Enge als nahezu unbenutzbar erwies. Vor allem auf engstem Raum mit einem Kind, das wie wild um sich trat und um sein Leben kämpfte.
Als er ihm das Schwert schließlich vors Gesicht hielt, gab der Junge endlich Ruhe, und er konnte mit der freien Hand den Würfel hervorholen und würfeln. An das, was danach passiert war, wollte er am liebsten nie wieder denken.
Plötzlich war er rücklings ins Cockpit gezerrt worden. Er war zwar schnell wieder auf die Beine gekommen, aber das Schwert hatte überhaupt nicht mitgespielt. Um ehrlich zu sein, hatte es sich als völlig nutzlos erwiesen. Zumindest als Waffe. Es schlug die ganze Zeit irgendwo hin und traf nie die richtigen Stellen.
Vielleicht hatte er nur nicht genug geübt, aber in diesem Moment war er sich wie ein Hanswurst vorgekommen, und dass der Baum ihn schließlich bewusstlos geschlagen hatte, machte seine Demütigung komplett. Das Ganze war so peinlich gewesen, dass er nichts anderes verdient hatte, als über Bord zu gehen.
Doch immerhin war der Abend noch jung, und er hatte genügend Zeit, seine Wunden zu lecken und neue Kraft zu sammeln. Wenn die Küstenwache nicht plötzlich aufgetaucht wäre, hätte er die Gelegenheit genutzt, um ein halbes Stündchen die Augen zuzumachen. Seine Gedanken zu sortieren und wieder Herr der Lage zu werden. Jetzt musste er stattdessen das Geschehen im Auge behalten
.
Am schlimmsten wäre es gewesen, wenn sie gekommen wären, um die Familie nach Helsingborg und das Segelboot in den Hafen zu bringen. Leider war es auch am wahrscheinlichsten. Es würde bedeuten, dass er umdenken musste. Aber damit konnte er sich beschäftigen, wenn es so weit war. Jetzt ging es erst einmal darum, im Schutz der Dunkelheit zu bleiben und zu hoffen, dass die drei bald allein gelassen würden.
Die Besatzung schien aus drei Männern zu bestehen. Einer der Männer war erstaunlicherweise in Zivil gekleidet. Er war auch als Erster an Bord gegangen und derjenige, der jetzt mit der Familie sprach. Was er im Übrigen seit einer Dreiviertelstunde tat.
Vielleicht war er Polizist. Vielleicht war er sogar einer der Kriminalpolizisten, die in den Mordfällen ermittelten, und somit ein Kollege von dieser Irene Lilja, die ihn seit Tagen terrorisierte, was ein echtes Problem darstellte.
Anfangs war er davon ausgegangen, sie würde nur bei ihm klingeln, wenn sie sowieso an seiner Tür vorbeikam, und es bald aufgeben und ihn in Ruhe lassen.
Doch nachdem sie hartnäckig weitergeklingelt hatte, und das nicht nur mehrmals am Tag, sondern mitunter auch minutenlang, war ihm klar geworden, dass dieses Problem nicht von allein verschwinden würde. Und als sie am vergangenen Vormittag auch noch gewaltsam in seine Wohnung eingedrungen war und sie mit mehreren Einsatzkräften durchsucht hatte, war es ihm nur mit Müh und Not gelungen, sich zu verstecken.
Es war kein unglücklicher Zufall gewesen. Sie waren ihm tatsächlich auf der Spur.
Sie wussten nicht nur, wo er wohnte. Sie hatten es irgendwie auch geschafft, herauszufinden, dass sein nächster Auftrag auf dem Öresund stattfinden sollte. Wie hätte es ihnen sonst gelingen können, so
schnell vor Ort zu sein?
Dass die Küstenwache gekommen war, leuchtete ihm ein. Die Familie hatte sie natürlich alarmiert, nachdem er über Bord gegangen war. Aber wie kam es, dass die Polizei hier war?
Er konnte die Frage nicht beantworten, und letztendlich spielte es auch keine Rolle. Er würde seinen Auftrag so oder so zu Ende bringen. Es würde nicht einfach werden. Aber wozu auch. Das Einfache war oft fad und langweilig. Wenn er es sich genau überlegte, hatte ihn immer das Schwierige und nahezu Unmögliche interessiert. Wie damals als Kind, als er das Unmögliche geschafft hatte und mit seinen beiden Sparschweinen von zu Hause abgehauen war und sich bis zum Kopenhagener Tivoli durchgeschlagen hatte, wo er den schönsten Tag seines Lebens verbracht hatte.
Jetzt lag er hier im Dunkeln und beobachtete durch sein Nachtsichtgerät, wie die Vertäuungen gelöst und eingeholt wurden, woraufhin die beiden Schiffe auseinanderglitten.
Das Warten war vorüber, und er spürte endlich seine Kräfte zurückkehren. Sogar das laute, sich jedoch immer weiter entfernende Motortuckern war Musik in seinen Ohren.
Noch erfreulicher war, dass offenbar keins der Familienmitglieder das Segelboot verlassen hatte. Eng umschlungen standen alle drei im Cockpit und winkten wie beim Happy End eines märchenhaften Films, bevor der Abspann einsetzte.
Nicht ahnend, dass es gerade erst losging.