36
Beata Sandström stand auf der Kommandobrücke und wanderte mit dem Fernglas, das sie von ihrem Mann für ihre erste Fahrt als Kapitänin der MS Vinterland
geschenkt bekommen hatte, den Horizont ab. Die vor ihr liegende Insel Anholt war nur ein zarter Bleistiftstrich, und hinter ihr löste sich Schweden in hellblauem Nebel auf.
Sie hätte nicht allein auf der Brücke sein dürfen. Es verstieß gegen die Vorschriften auf einem Frachter dieser Größe. Der Erste Steuermann Piter Grynhoff war jedoch so anstrengend, dass sie schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als ihn in seine Kajüte zu schicken, obwohl sein Dienst erst in einer halben Stunde zu Ende war.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sich der Zweite Steuermann in einer halben Stunde zu ihr gesellen würde. Ihn mochte sie. Jan-Ove Bengtsson war das Gegenteil von Grynhoff und hatte es im Gegensatz zu vielen anderen Männern nicht nötig, das typische Revierverhalten an den Tag zu legen, nur weil sie ihre Anweisungen von einer Frau entgegennehmen mussten.
Vielleicht sollte sie einen der Matrosen heraufbeordern, damit er Bengtsson Gesellschaft leistete, während sie ein paar Stunden schlief. Aber sie würde ohnehin nicht einschlafen können. Sie war zwar völlig erledigt, aber ihre Nerven waren viel zu überreizt.
An sich war das kein Wunder. Es war ihre Jungfernfahrt als verantwortliche Schiffsführerin, und trotz einiger Konflikte und Probleme hatte sie das Schiff ohne schwerwiegende Zwischenfälle über eine der kompliziertesten und meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt gebracht.
Allerdings hatten sie zwei Stunden Verspätung, was vollkommen inakzeptabel war. Und selbst wenn sie von nun an
eine Geschwindigkeit von achtzehn Knoten halten könnten, würden sie bis zur Ankunft in Fredrikshamn höchstens eine halbe Stunde aufholen.
Zwei Stunden. Eigentlich war das nichts, aber in ihrer Welt war es eine mittlere Katastrophe. Genau wie beim Flugverkehr entstanden die meisten Kosten während des Be- und Entladens. Überhöhte Hafengebühren, Kranmiete und die Stellplätze für die vielen Container. Von all den Hafenarbeitern, die in zwanzig Minuten bereitstehen würden, ganz zu schweigen. Hier ging es um Millionen.
Doch auch das würde sie irgendwie überstehen. Sie spürte bereits, dass sie auf dem besten Weg war, alles hinter sich zu lassen und ihre innere Ruhe wiederzufinden. So als ob sie auf dieser Fahrt über den Sund mehr Erfahrung gesammelt hätte als auf allen bisherigen Reisen zusammen.
Schon beim Anblick des Falsterboer Leuchtturms war sie nervös geworden. Sofort hatte sich das Grummeln im Bauch wieder bemerkbar gemacht und sie ihre eigene Kompetenz infrage gestellt. Dabei war sie endlich an ihrem Ziel angelangt, die jüngste Kapitänin zu sein, die einen Frachter von mehr als einhundertsechzig Metern Länge und einer Bruttotragfähigkeit von mehr als zehntausend Tonnen durch den dicht befahrenen Sund manövriert hatte. Plötzlich hatte sie den Glauben an sich verloren und sich nur noch weggewünscht.
Seitdem der Frachter mit seinen siebenunddreißig Metern Höhe unter der fünfundfünfzig Meter hohen Öresundbrücke hindurchgefahren war, hatte sie Schweißperlen auf der Stirn gehabt. Doch die Anspannung würde noch mehrere Stunden anhalten.
Grynhoff hatte ihre Angst natürlich sofort gewittert. »Wir werden nicht gegen die Brücke stoßen, das verspreche
ich dir«, hatte er mit einem so arroganten Grinsen gesagt, dass sie ihn am liebsten gekielholt hätte. Sie hatte den Angriff jedoch geflissentlich überhört, weil sie wusste, dass sie während der Fahrt durch die schmale Fahrrinne womöglich auf ihn angewiesen sein würde.
Und kurz darauf, als sie die flachste Stelle der Flintränna passierten, war es so weit gewesen. Dort war das Wasser durchschnittlich nur 8,4 Meter tief, und da das Schiff in voll beladenem Zustand 6,82 Meter Tiefgang hatte, betrug der Abstand zum Grund nur 1,58 Meter. Da zu allem Überfluss Niedrigwasser war, hatte sie ernsthaft befürchtet, auf Grund zu laufen und abgeschleppt werden zu müssen.
Doch es war alles nach Plan gelaufen, und als das Nadelöhr zwischen Helsingborg und Helsingör hinter ihnen lag, hatte sie sich eine Pause gegönnt, um sich in der Kapitänskajüte unter den Armen zu waschen, ihr Deo zu benutzen und ein frisches Hemd anzuziehen. Endlich hatte sich vor ihnen das Kattegat geöffnet. Sie würden rechtzeitig ankommen, und sie konnte stolz auf sich sein.
Doch sie hatte die Kapitänsmütze noch gar nicht wieder aufgesetzt, als sich das eintönige Motorengeräusch plötzlich veränderte. Auf einmal waren es nur noch halb so viele Umdrehungen. Sofort hatte sie Grynhoff über Funk um eine Erklärung gebeten, doch die war er ihr schuldig geblieben. Stattdessen hatte er sie aufgefordert, sich auf der Brücke einzufinden. Einzufinden.
Genau dieses Wort hatte er verwendet. Als ob er
der verantwortliche Schiffsführer gewesen wäre.
Als sie auf der Brücke ankam, war die Geschwindigkeit bereits um einen ganzen Knoten reduziert worden, und sie hatte ihn sofort angewiesen, das Tempo zu erhöhen. Er hatte sich jedoch geweigert und auf eine dringende Durchsage der Kü
stenwache verwiesen.
Im Nachhinein war offensichtlich, dass er die Verspätung absichtlich herbeigeführt hatte. Es war einfach zu gut für sie gelaufen. In dem Moment jedoch hatte sie ihm vertraut. Sogar, als er behauptet hatte, es würde nach einem mutmaßlichen Mörder auf der Flucht gesucht, der mitten auf dem Öresund eine Familie mit einem Schwert attackiert hätte, hatte sie ihm geglaubt und die gesamte Mannschaft aufgefordert, nach dem Mann Ausschau zu halten.
Doch natürlich hatten sie keinen Verrückten in einem Schlauchboot gesehen, und als sie die Suche schließlich abblies, hatte Grynhoff so vehement protestiert, dass sie sich gezwungen gesehen hatte, ihn runterzuschicken. Außerdem waren sie mittlerweile so langsam geworden, dass sie über eine Stunde brauchten, um wieder auf ein normales Tempo zu kommen.
In fünf Minuten würde Bengtsson kommen, und in einer guten Stunde würden sie die Geschwindigkeit drosseln und Kurs auf den Hafen nehmen. Sie hatte beschlossen, ihm einen Matrosen zur Seite zu stellen. Nicht, um zu schlafen, sondern um einen ausführlichen Bericht zu verfassen. Wenn sie die richtigen Worte fand, konnte sie die Kritik hoffentlich ein wenig abmildern.
Sie ging hinüber zu den Funkgeräten, nahm den Hörer des internen Telefons ab und wählte gerade die Nummer des Matrosen Axel Johnsson, als sie in der Scheibe die Spiegelung eines Schattens vorbeihuschen sah. Instinktiv drehte sie sich um und erschauerte.
Wie hatte er es geschafft, geräuschlos hereinzukommen? Wie war er an Bord gelangt? Grynhoff hatte die Geschwindigkeit zwar erheblich gedrosselt, aber sie waren doch die ganze Zeit in Bewegung gewesen.
Sie hatte weder an seine Existenz geglaubt, noch hatte sie ihn je zuvor gesehen. Trotzdem wusste sie, wer er war. Sein dunkler
Neoprenanzug. Mehr war nicht nötig. Die Schwimmbrille, die ihm um den Hals hing. Die Haube, die nur das Gesicht frei ließ. Diese Augen, dieser hypnotische Blick, mit dem er sie durchbohrte. Sie wusste es sofort.
»Hallo, hier ist Johnsson
«, hörte sie den verschlafenen Matrosen sagen.
»Er ist hier!«, rief sie, als sie die Fassung endlich wiedererlangt hatte. »Hier oben auf der Brücke! Er ist …«
Bevor sie weitersprechen konnte, hatte der Schatten sich auf sie gestürzt. Seine warmen Atemzüge drangen an ihr Ohr, und sein Arm umklammerte fest ihre Taille. Sie hatte nicht gehört, wie er den Raum durchquert hatte. Er gab lediglich ein metallisches Geräusch von sich, dessen Ursprung sie in dem Moment erkannte, als die kalte Klinge an ihren Hals gedrückt wurde.
»Kapitänin Sandström, sind Sie das?«,
rief der Matrose. »Hallo!
«
»Sie haben sich verwählt«, flüsterte ihr die Stimme ins Ohr.
»Ist was passiert?
«
»Alles in Ordnung«, fuhr der Mann leise fort, während sie spürte, wie die scharfe Klinge in ihre Haut schnitt.
»Hallo? Antworte, Beata. Ist was passiert?
«
»Nein«, bekam sie schließlich heraus. »Ich habe mich nur verwählt. Entschuldige. Eigentlich wollte ich Bengtsson anrufen, der in ein paar Minuten hier sein müsste.«
»Sicher?
«
»Ja, ich wollte ihm nur sagen, dass er sich beeilen soll, weil ich im Moment allein hier oben bin. Aber ich habe alles unter Kontrolle. Schlaf weiter.« Sie legte auf.
»Sehr gut. Braves Mädchen. Geht doch.«
»Wie sind Sie an Bord gekommen?«, zischte sie. »Hat Ihnen jemand geholfen?« Sie musste es einfach wissen
.
»Das ist eine lange Geschichte, und unsere Zeit reicht nicht.«
Der Schmerz an ihrem Hals rief ihr ins Gedächtnis, dass nur wenige Millimeter davon entfernt die Halsschlagader pulsierte. Trotzdem hatte sie aus irgendeinem Grund keine Angst. Vielleicht, weil das Ganze so absurd war. »Wer sind Sie?« Der Schreck ging allmählich in Wut über. »Und was wollen Sie?«
»Viel zu viele Fragen, auf die es nie eine Antwort geben wird. Also lieber zuhören und gehorchen.«
Sie nickte und spürte, dass der Druck der Klinge ein wenig nachließ.
»So. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie mit einer Narbe am Hals davonkommen. Betrachten Sie sie als eine Erinnerung an das Glück, das Sie dieses eine Mal gehabt haben.«
Das Schwert löste sich von ihrem Hals, und der Schmerz wurde erträglicher. Trotzdem lief Blut aus der Wunde unter ihren Hemdkragen und weiter in den BH.
»Und wenn ich nicht gehorche?«
»Das werden Sie. Und als Erstes rufen Sie diesen Bengtsson an und sagen ihm, er soll weiterschlafen.«
»Darauf wird er sich niemals einlassen. Es müssen mindestens zwei auf der Brücke sein.«
»Ihnen fällt bestimmt was ein. Außerdem sind wir ja zu zweit.«
Während sie zum Hörer griff und die Nummer eintippte, überlegte sie, ob sie ihn mit einem plötzlichen Schlag nach hinten überraschen sollte. Sie hatte zwar schon vor Jahren mit dem Kampfsport aufgehört, aber wenn sie ihren Schwerpunkt auf den richtigen Fuß verlagerte, müsste es gehen. Der Stoß würde ihn vollkommen unvorbereitet treffen, und wenn sie ihm gleich noch einen kräftigen Tritt versetzte, würde er das Gleichgewicht verlieren
.
»Ja, hier Bengtsson. Ich bin schon auf dem Weg nach oben und wollte nur
…«
»Nicht nötig, Jan-Ove«, fiel sie ihm ins Wort. »Deswegen habe ich angerufen. Ich habe nämlich schon den Ersten Steuermann hier, schlaf ruhig weiter.«
»Grynhoff? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Was hat der denn da oben zu suchen? Er hat doch gerade …«
»Piter und ich haben einiges zu klären, okay?«
»Das kann man wohl sagen. Nur damit du es weißt, ich stehe hundertprozentig hinter dir. Er muss sich entschuldigen, nicht du.
«
»Danke, Janne. Bis später.« Sie wollte gerade auflegen, als dieses Klirren wieder ertönte, und als ob ihr Unterbewusstes nur auf dieses Signal gewartet hätte, schlug sie mit voller Kraft nach hinten. »Janne, er ist hier!«, schrie sie und versetzte ihm auch noch einen Fußtritt. »Der Mann mit dem Schwert ist hier!« Sie hörte ihn fallen. »Alle Mann auf die Brücke!« In einem Adrenalinrausch wirbelte sie herum und warf sich auf ihn.
Zu spät begriff sie, dass das Schwert nach oben gerichtet war.
Als das Schwert in sie eindrang, sie durchbohrte und auf der anderen Seite wieder herauskam, schoss ein Schmerz wie von tausend Schweißbrennern durch ihren Körper.
Sie war eher erstaunt als geschockt. Es war anders als erwartet. Nicht einmal in ihrer eigenen Reaktion konnte sie sich wiedererkennen. Es war, als befände sie sich außerhalb ihrer selbst. Als ob nichts von alldem wirklich passierte.
Auf jeden Fall lebte sie noch. Das merkte sie am Schmerz. Ihr Hemd war zwar schon von Blut durchtränkt, aber sie atmete noch.
»Hallo, Jan-Ove Bengtsson«, sagte er ins Telefon. »Jetzt hören Sie mir
mal gut zu.«
Als würde sie einen langen schmerzhaften Tod einem plötzlichen Ende vorziehen.
»Wer ich bin, ist nicht wichtig. Im Gegenteil.«
Und wieso dachte sie überhaupt darüber nach? In den letzten Minuten ihres Lebens.
»Sie brauchen gar nichts zu tun, Jan-Ove, außer in Ihrer Kabine zu bleiben. Genau wie alle anderen.«
Sie hatte nie an etwas Übernatürliches oder ein Leben nach dem Tod geglaubt. Wenn es vorbei war, war es vorbei. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich auf den Rest ihres Lebens gefreut hatte. Vielleicht blieben ihr nur noch Sekunden, bis die Lichter ausgingen. Warum dachte sie nicht einfach an ihren geliebten Mann und die Kinder, über die sie so viel gesprochen, die sie aber aus Zeitmangel nie bekommen hatten.
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass Ihre Kapitänin nicht überleben wird, wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, dass Sie hierherkommen. Also halten Sie sich ihr zuliebe fern.« Er legte den Hörer auf und drehte sich zu Beata um, die in ihrem eigenen Blut lag und knapp über der linken Hüfte vom Schwert durchbohrt war. »Das war wirklich nicht nötig, oder was meinen Sie?« Er hockte sich vor sie und zog das Schwert mit einem kräftigen Ruck heraus.
Dann wischte er die Klinge an ihrem Bein ab, stand auf und steckte das Schwert in die Scheide auf seinem Rücken.
Sie bekam noch immer jede seiner Bewegungen mit, auch wenn ihre Wahrnehmungen immer diffuser wurden. Den Schmerz spürte sie kaum noch, und sie genoss es beinahe, einfach nur dazuliegen und zu spüren, wie jegliche Verantwortung von ihr abfiel.
Plötzlich war er wieder in ihrem Blickfeld. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er weg gewesen war. Das Hemd. Warum zog er
daran? Vergewaltigung? Lief das Ganze darauf hinaus? Vielleicht, wenn sie tot war. Solche Typen gab es ja. Ach ja, Nekrophile hießen die. Aber na ja … Es war wohl zu weit … Was machte er denn jetzt? Der Verbandskasten. Sie verstand gar nichts mehr. Was wollte er mit der Schere? Konnte er sie denn nicht endlich in Ruhe lassen? Was hatte er denn noch mit ihr vor? Er hatte sie doch längst besiegt.
Sie sah die Schere aufblitzen. Sah ihn schneiden. Es tat nicht weh. Sie spürte es gar nicht. War es immer so, wenn das Leben aus einem Menschen wich? Schwanden die Sinne zuerst? Vielleicht war das ein letzter Trost.
Oder schnitt er gar nicht? Sie wurde unsicher. Nein, er drückte eine Kompresse auf ihre blutende Wunde. »Warum?«, bekam sie irgendwie heraus.
»Sie sind nicht diejenige, die sterben soll«, antwortete er, während er ihr einen Verband um die Taille wickelte, um die Blutung zu stoppen.
»Danke …« Es war nicht vorbei. »Vielen Dank …« Sie würde überleben, und sie spürte bereits, wie sie wieder zu Kräften kam und der Nebel sich lichtete.
»Nichts zu danken.« Er befestigte das Ende des Verbands. »Sie sind nur eine Spielfigur. Ein Bauer, den ich nicht opfern will.«
»Ich verstehe das nicht. Was wollen Sie denn? Warum sind Sie überhaupt …«
»Es ist auch nicht Ihre Aufgabe, es zu verstehen, sondern zu gehorchen.«
»Okay.« Sie nickte. »Was soll ich tun?«
Lächelnd legte er sich ihren Arm über die Schulter und half ihr auf. »Sie arbeiten jetzt.«