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Frank Käpp richtete das Fernglas nach Westen. Abgesehen von zwei Frachtschiffen war der Horizont auf dieser Seite unberührt. Und so wollte er ihn haben, frei von allem Unwichtigen. 360 Grad Makellosigkeit, wo Meer und Himmel ineinander übergingen. Das beruhigte ihn.
Innere Ruhe war jedoch das Letzte, was er fühlte. Er stand noch immer unter Schock und konnte nicht einmal die Hände ausstrecken, ohne zu zittern. Die Ereignisse der Nacht quälten ihn wie der stete Tropfen Wasser, der ein Folteropfer langsam, aber sicher zermürbte. Der Anblick des vollkommen verängstigten Vincent, der mit einem Schwert am Hals in der Achterkajüte lag, würde ihn, so surreal und unfassbar er auch gewesen sein mochte, für den Rest seines Lebens verfolgen.
Klara hatte eine Schlaftablette genommen, Vincent hatte eine halbe bekommen, und nun lagen die beiden zusammen in der vorderen Koje und schliefen. Er selbst hätte niemals schlafen können. Diese ganze Reise war seine Idee gewesen, und er
hatte hoch und heilig versprochen, dass alles gut gehen und dass er sie, was immer auch passierte, beschützen würde.
Kein Zweifel, er hatte zu viel versprochen.
Er seufzte. Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, richtete er das Fernglas erneut auf die beiden Schiffe am Horizont – das mit dem blauen Rumpf schien sehr viel näher gekommen zu sein –, aber in seinen Gedanken spielte sich unablässig der Film mit dem aggressiven Froschmann und seinem Schwert ab.
Es ließ sich einfach nicht bestreiten, dass er an allem schuld war. Er hatte den Nachttörn erzwungen. Obwohl beide vehement dagegen gewesen waren, hatte er nicht nachgegeben, und aus irgendeinem merkwürdigen Grund hatte er Vincent sogar gezwungen, in der Achterkajüte zu schlafen.
Im Nachhinein war es ihm nahezu unerklärlich, wie er das Vincent trotz seiner Angst vor Seeungeheuern hatte antun können. Aber wie hoch war denn die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass ausgerechnet in diesem Moment so etwas passieren würde? War es nur ein unglücklicher Zufall gewesen, oder steckte jemand anders dahinter? Eine höhere Macht, die sie einschüchtern wollte. Die ihm beweisen wollte, dass er so weit wegsegeln konnte, wie er wollte. Seinen Dämonen würde er nie entkommen.
Mit einem trockenen Lachen schob er seine quälenden Gedanken beiseite. Er neigte eigentlich nicht zur Selbstbefragung à la Ingmar Bergman. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf den Frachter, der offenbar seinen Kurs geändert hatte, denn er sah nun zwar kürzer, aber auch größer aus. Offenbar kam er direkt auf sie zu.
Vermutlich war er ebenfalls auf dem Weg nach Halmstad. Neben dem Yachthafen dort befand sich ein großer
Industriehafen. Es war nur ein wenig seltsam, dass ein so großes Schiff einen so plötzlichen Kurswechsel vornahm.
Er selbst hätte seine Route ebenfalls ändern können, um sich den Umweg über Halmstad zu ersparen. Klara und Vincent hätten keinen Unterschied bemerkt, und für ihn wäre es kein Problem gewesen, wie ursprünglich geplant bis Göteborg durchzufahren.
Doch er würde das Versprechen, das ihm die Polizei abgerungen hatte, halten und in Halmstad anlegen, damit sie alle die therapeutische Hilfe bekamen, die sie brauchten. Auch er, obwohl er das nur ungern zugab. Es war typisch für ihn, immer schnell wegzuwollen und vor allem, was ihn belastete, zu fliehen. Als ob die Dinge sich in Luft auflösten, nur weil man wegrannte. Im Grunde ging es doch auch bei dieser Weltumsegelung darum.
Er war nie in Therapie gewesen. Als es in ihrer Beziehung besonders schlecht lief, hatte Klara ihn zu einer Paartherapie gedrängt, aber er hatte ihren Vorschlag jedes Mal mit den fadenscheinigsten Argumenten abgelehnt.
Aber vielleicht brauchten sie wirklich eine Therapie, ganz unabhängig von den Ereignissen in der Nacht. Mussten in aller Ruhe besprechen, was zwischen ihnen gewesen war und welche Erwartungen sie aneinander hatten. Schlicht und einfach reinen Tisch machen, damit ihnen der neue Anfang gelang, den sie so dringend brauchten. Eine gute Seite zumindest hatte all das Schreckliche gehabt. Ihm war jetzt klar, wie falsch er gelegen hatte.
Das Frachtschiff war noch immer weit entfernt, aber es fuhr eindeutig auf sie zu. Er fiel deshalb ein wenig vom Kurs ab und drosselte die Geschwindigkeit. Wenn sie ihre Route ein kleines Stück nach Osten verlegten, verloren sie eine halbe Stunde, aber sie hatten es ja nicht eilig
.
Er hätte den Motor abschalten und die Segel hissen können. Der Wind war wie dafür gemacht, auf Raumschotkurs entspannt in die Laholmsbucht hineinzufahren. Aber dann wären Klara und Vincent sofort aufgewacht.
Viel besser war es, sich auszuruhen und so viel therapeutische Hilfe wie nötig in Anspruch zu nehmen. Anschließend konnten sie einen Ausflug nach Göteborg machen und sich im Vergnügungspark Liseberg ein Tagesticket für die Fahrgeschäfte mit allem Drum und Dran zu gönnen.
Viele Leute hatten sehr viel schlimmere Dinge erlebt, und daher würde garantiert alles wieder gut werden. Die Zeit heilte alle Wunden, und wenn die Emotionen keine so hohen Wellen mehr schlugen, würde sich das Ganze allmählich in eine Anekdote verwandeln, die ihnen ohnehin niemand abkaufte. Vielleicht würden sie eines Tages selbst bezweifeln, dass es wirklich passiert war.
Aber was war bloß mit diesem Schiff los? Noch vor einer halben Stunde war es weit weg gewesen. Nun fuhr es schon wieder direkt auf sie zu. Er konnte sogar schon den Namen lesen. MS Vinterland
. Dabei hatte er seinen Kurs doch geändert und die Geschwindigkeit erheblich reduziert. Nun, dann musste er eben noch ein wenig abfallen und noch langsamer werden.
»Was ist los?« Verschlafen schaute Klara aus der Kajüte.
»Nichts. Alles in Ordnung. Ich muss nur diesem Schiff ausweichen.«
Klara kam zu ihm ins Cockpit und sah den Frachter an.
»Gut geschlafen?«, fragte er. Sie nickte.
»Wann sind wir da?« Gähnend streckte sie sich.
»Mindestens eine Stunde später, wenn die da drüben nicht aufhören, uns zu ärgern.« Er legte den Arm um sie. »Zum Glück haben wir
es nicht eilig.«
Klara schüttelte lächelnd den Kopf, und er zog sie an sich.
»Es wird alles wieder gut. Versprochen.«
Sie nickte und gab ihm ein Küsschen, das bald in einen richtigen Kuss überging.
Keiner von beiden merkte, dass die MS Vinterland
erneut ihren Kurs änderte, wieder direkt auf sie zuhielt und langsamer wurde, indem sie alle Maschinen stoppte.