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Fabian stand unter der Dusche und betrachtete seine Füße, die fast vollständig mit Wasser bedeckt waren. Offensichtlich musste dringend der Abfluss gereinigt werden, damit nicht das ganze Bad überflutet wurde. Aber damit würde er sich ein anderes Mal beschäftigen, in einem anderen Leben, wenn all das vorbei war.
Er war oben im Atelier auf dem Fußboden eingeschlafen. Neben Sonja, die in ihrer Kiste lag. Diesem Kunstwerk, das sie dazu gebracht hatte, sich selbst und ihr Schaffen infrage zu stellen. Ihr ganzes Leben. Nun hatte sie eine Kehrtwende gemacht, die Kiste abgeholt und sich nackt in das Dunkel hineingelegt.
Als er aufwachte, war die Kiste leer. Er fand nur einen handgeschriebenen kleinen Zettel. Sie habe ein wichtiges Treffen, und Matilda übernachte bei Esmeralda. Er selbst war erst einmal unter die Dusche gegangen.
Dort hatte er fast eine Stunde ausgeharrt. Die Zeit, so wichtig sie auch sein mochte, war im Moment nicht von Bedeutung. Die Substanzen, mit denen Molander seinen Körper vollgepumpt hatte, mussten raus. Und mit jedem Tropfen, der auf seinen Körper fiel, fühlte er sich etwas reiner .
Nachdem er sich abgerubbelt und die Durchblutung angekurbelt hatte, stellte er fest, dass der Schmerz am Oberschenkel fast verschwunden war. Zwischen den Schulterblättern juckte es jedoch immer noch, vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Er glaubte nicht mehr an einen Insektenstich. Das hier war anders. Und falls es ein Insekt war, dann schien ein Parasit in seine Haut eingedrungen zu sein.
Er unternahm einen erneuten Versuch, mit den Händen an die Stelle heranzukommen, aber es haperte an den letzten Zentimetern. Mithilfe der Zahnbürste konnte er sich kratzen, aber schlauer wurde er daraus nicht. Er machte stattdessen ein Foto mit dem Handy, auf dem er sehen konnte, dass zwischen den Schulterblättern tatsächlich etwas war. Nachdem er den Bildausschnitt vergrößert hatte, erkannte er ein Wundpflaster auf einer leichten Beule.
Es musste Molanders Werk sein. Er öffnete den Badezimmerschrank, um nach einem geeigneteren Werkzeug zu suchen. Sonjas Hornhautfeile war zwar nicht viel besser als seine Zahnbürste, aber zumindest konnte er damit das Pflaster abrubbeln, um anschließend noch ein Foto zu machen.
Auf diesem sah er eine Wunde auf der kleinen Beule. Es war ein zehn Millimeter langer Schnitt, der mit drei einfachen Stichen genäht worden war. Molander musste ihm den Schnitt während der Betäubung zugefügt haben. Aber warum? Was für eine Art von Operation hatte er durchgeführt? Und warum juckte die Stelle so schrecklich?
Er hätte zu einem Arzt gehen sollen, aber Molander hatte bereits so viel Vorsprung, dass er es sich nicht erlauben konnte, sich ins Wartezimmer der Notaufnahme zu setzen. Stattdessen griff er zur längsten Pinzette, die er finden konnte, desinfizierte sie mit Alkohol und schob sie sich vorsichtig zwischen die Schulterblätter. Nach einigen gescheiterten Versuchen gelang es ihm schließlich, eine Spitze unter den obersten Faden zu schieben. Mit einem festen Ruck riss er ihn heraus.
Blut lief ihm am Rückgrat hinunter. Die Stelle tat weh, und unter normalen Umständen wäre er nicht in der Lage gewesen weiterzumachen. Er war jedoch so darauf fixiert, herauszufinden, was Molander mit ihm angestellt hatte, dass er den Schmerz kaum spürte, als er mit der Pinzette nach dem zweiten Faden stocherte.
Im selben Moment vibrierte auf dem Waschbecken das Handy. Niemand anders als Molander hatte ihm eine Nachricht geschickt.
Sag, du hast verschlafen, bist aber unterwegs.
Bevor er auch nur überlegen konnte, was das zu bedeuten hatte, klingelte das Handy.
»Hallo? Fabian? «, hörte er Tuvesson am anderen Ende sagen. »Hier ist Astrid. Hallo? «
»Ja, hier bin ich«, sagte er.
»Wo steckst du? Wir sitzen hier alle und warten auf deinen Bericht von den Ereignissen heute Nacht auf dem Öresund. «
»Tut mir leid, ich habe verschlafen«, hörte er sich sagen. »Ich war spät im Bett und …«
»Okay, okay, schon verstanden «, unterbrach ihn Tuvesson. »Du musst so schnell wie möglich kommen. Wir haben viel zu tun, und es gibt jede Menge offener Fragen. «
»Ich beeile mich«, sagte er.
»Gut. Übrigens habe ich Theodor eine Verteidigerin besorgt. Jadwiga Komorowski. Laut Högsell gehört sie zu den Besten im dänischen Rechtssystem, und wenn ich es richtig verstanden habe, ist sie schon vor Ort. «
»Oh, schön. Tausend Dank. « Fabian spürte, wie ihm eine von vielen Lasten von den Schultern genommen wurde, aber kaum hatte er aufgelegt, vibrierte das Handy erneut.
Ist doch super gelaufen. Allerdings solltest du die Wunde vielleicht desinfizieren, damit sie sich nicht entzündet. Und falls sie blutet, einfach ein großes Pflaster drauf. Mach dir keine Sorgen. Es ist nur ein kleiner GPS-Sender, mit dem ich dich im Auge behalten kann.«
War das Arschloch hier gewesen und hatte alles verkabelt? Fabian sah sich im Badezimmer um, aber auf den ersten Blick schien alles unverändert. Oder etwa nicht? Plötzlich wurde er unsicher. Stand das Potpourri nicht normalerweise weiter unten? Oder dieses Bild? Hatte es wirklich dort gehangen?
Er hatte keine Ahnung. Er war in letzter Zeit so mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, dass Sonja das ganze Haus neu hätte tapezieren können, ohne dass er es bemerkt hätte.
Molander konnte natürlich auch einfach angenommen haben, dass er die Wunde zwischen seinen Schulterblättern entdeckt und darin herumgestochert hatte. Falls er nicht irgendwo im Bad eine versteckte Kamera installiert hatte. Eine Kamera, die ihn von hinten oben gefilmt haben musste.
Er schaute hinauf zu der tellerförmigen Deckenlampe, die genau wie die Lampe im Schlafzimmer schon bei ihrem Einzug da gewesen war. Bisher hatte er ihr noch nie Beachtung geschenkt, aber plötzlich fiel ihm auf, wie schön sie mit ihrem geschliffenen Glas und der runden Messinghalterung aussah.
Vielleicht hatten sich dort oben nur tote Insekten und Staub angesammelt, aber irgendetwas lag auf der flachen Glasschale und verdeckte das Licht. Er stellte sich auf den Toilettendeckel, schraubte die Messinghalterung ab und löste die Schale aus der Verankerung.
Der Boden war von einer Staubschicht bedeckt. Eine versteckte Kamera konnte er jedoch nicht entdecken. Und auch keine Kabel oder ein Mikrofon. Es lag nur ein vergilbtes Stück Papier in der Schale, und als er es auseinanderfaltete, fiel ein verrosteter Schlüssel heraus und landete irgendwo unter ihm auf dem Fußboden. Anstatt von der Toilette hinunterzusteigen und danach zu suchen, las er zuerst, was auf dem Blatt Papier stand.
Jetzt rackert Vater wieder im Keller.
Schwitzt und arbeitet immer schneller.
Die Zeit drängt, aber sie reicht nie aus.
Für den unsichtbaren Raum im Haus.
Fisch, Fleisch oder was kommt auf den Teller?
Ein Limerick. Oder war es ein Rätsel? Und wer hatte das Gedicht geschrieben? Matilda? Nein, ihre Handschrift sah anders aus. Allerdings hatte sie sich seit dem Unglück vollkommen verändert, warum nicht auch ihre Handschrift. Es konnte auch die von Esmeralda sein. Vielleicht hatten die beiden ein seltsames Spiel gespielt. Aber das Papier war alt und vergilbt, und außerdem hatte es unter einer Staubschicht gelegen.
Die erste Zeile über den Vater, der im Keller rackerte, hätte durchaus ihn betreffen können. Phasenweise hatte er praktisch dort unten gewohnt. Und natürlich war es ein Wettlauf gegen die Zeit gewesen. Das war es noch immer. Aber um was für einen unsichtbaren Raum ging es? War damit sein improvisierter Arbeitsplatz im Keller gemeint oder etwas anderes?
Gegen seinen Willen wanderten seine Gedanken in eine Richtung, die er normalerweise tunlichst vermied. Doch jetzt wurde ihm so schwindlig, dass er sich zum zweiten Mal innerhalb von kürzester Zeit festhalten musste. Und da sah er sie. Wie er anfänglich vermutet hatte.
Die kleine versteckte Kamera mit dem Sender lag im Potpourri.