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»Sie soll sterben «, ertönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher des Computers. »Sie hat es nicht verdient, weiterzuleben. Sie hat nur dich verdient.«
Lilja hatte die Sounddatei auf dem eingeschalteten Computer in dem winzigen Raum gefunden.
»Du kannst machen, was du willst. Was du willst. Solange sie am Ende stirbt.«
So hatte Pontus Milwokh den psychisch kranken Assar Skanås also dazu gebracht, Ester Landgren auf dem Spielplatz im Schlosspark zu kidnappen und anschließend zumindest den Versuch zu unternehmen, sich an ihr zu vergehen.
»Wir wissen doch, dass du willst. «
Er hatte ihm Stimmen vorgespielt, die Skanås in seinem verwirrten Zustand am Ende offenbar für seine eigenen gehalten hatte. Ich habe doch nur auf die Stimmen gehört , hatte er in einer der Vernehmungen gesagt. Sie haben mir gesagt, was ich machen soll .
»Dass du dich schon lange danach sehnst. Du sehnst dich doch danach, alle Hemmungen abzulegen. Du hast ein Recht darauf. Wer, wenn nicht du?«
Um die Tat nicht selbst ausführen zu müssen, hatte er den pädophilen Assar Skanås in sein krankes Spiel verwickelt, indem er ihm die verlockende Möglichkeit in Aussicht gestellt hatte, ein kleines Mädchen zu vergewaltigen.
»Du spürst, dass sie sterben muss.«
Aber wieso hatte er auf so aufwendige Weise eine zweite Person involviert, anstatt es einfach selbst zu tun? Es musste doch ungeheuer kompliziert gewesen sein. Ganz zu schweigen von dem Risiko, dass etwas schiefgehen könnte. Was am Ende ja auch passiert war, als sie Skanås endlich gefunden und im letzten Moment von der Vergewaltigung abgehalten hatte.
»Du weißt, was du zu tun hast.«
Vielleicht war es nur darum gegangen, die Ermittler zu verwirren. Damit sie alle in die falsche Richtung ausschwärmten, was zunächst ja auch geklappt hatte.
»Du magst doch Kinder. Niemand mag Kinder so gerne wie du.«
Oder war auch das von den Würfeln entschieden worden?
Sie betrachtete die grüne Filzdecke rechts von der Tastatur. Die Würfel darauf sahen genauso aus wie der, den Risk gefunden hatte. Auch diese hier waren aus gebürstetem Metall und wie dafür geschaffen, verhängnisvolle Entschlüsse zu fassen.
Aus irgendeinem Grund lagen alle mit der Sechs nach oben. Zwanzig Stück zählte sie. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie als Neunjährige beim Yahtzee einmal auf Anhieb fünf Sechsen gewürfelt hatte. Aber zwanzig Sechsen waren schier unglaublich.
War er wirklich so vorgegangen? Wie schon bei so vielen anderen Aspekten dieses Falls schienen Zufall und Wahrscheinlichkeit außer Kraft gesetzt zu sein. Doch die Frage, die sich jetzt eigentlich stellte, war, was die zwanzig Sechsen zu bedeuten hatten. Falls sie überhaupt etwas zu bedeuten hatten.
Sie schloss die Augen. Allmählich schwanden ihre Kräfte. Insgeheim hatte sie gehofft, etwas zu entdecken, was die Ermittlungen voranbrachte und ihnen im besten Fall einen Vorsprung verschaffte. Alles, was sie hier gefunden hatte, bezog sich jedoch auf die Vergangenheit. Auf alles, was sie bereits wussten. Natürlich gab es hier auf einige ihrer Fragen auch Antworten, aber nicht auf die wichtigste von allen.
Wann und wo würde er als Nächstes zuschlagen?
Sie blickte auf die Schonenkarte an der Wand. Einmal hatte sie sie bereits studiert. Als sie jedoch die vielen kleinen Notizen und Markierungen gesehen hatte, an denen im Grunde jeder Mord abzulesen war, den Milwokh in den vergangenen Monaten begangen hatte, waren ihr die Tränen gekommen. Diesmal wollte sie versuchen, analytischer an die Sache heranzugehen.
Sie begann mit dem Kreuz in Spalte sechs, Zeile drei. Es war genau auf der Stadt Klippan eingezeichnet. Die dazugehörige Anmerkung lautete: 25. Mai 2012, Evert Jonsson, Todesursache: Ersticken . Das stimmte mit Flätans Obduktionsbericht überein.
Für das Kreuz in Spalte fünf, Reihe vier galt das Gleiche. 13. Juni 2012, Moonif Ganem, Waffe: Maschine jeglicher Art . Sie versuchte sich innerlich dagegen zu wappnen, aber es fiel ihr schwer. Trotz der nüchternen Feststellung tat es immer noch weh, an diesen Morgen zurückzudenken, an dem sie auf dem Weg zur Arbeit die Meldung erhalten hatte, in Bjuv werde ein Junge vermisst.
Sie sah sich alle Kartenquadrate an, die mit einem Kreuz, dem Datum des Mordes, dem Namen des Opfers und der Mordwaffe oder der Todesursache versehen waren.
In einigen war auch noch ein kleineres Kreuz mit einer zweistelligen Zahl dahinter verzeichnet. Sie hatte keine Ahnung, wofür sie stand. Dafür war ihr aufgefallen, dass der Badewannenmord fehlte. Im Quadrat südlich von Helsingborg gab es weder ein Kreuz noch sonst irgendeine Notiz bezüglich des Mordes an Mattias Larsson.
Vielleicht hatte Fabian tatsächlich recht, und Milwokh steckte gar nicht hinter diesem Mord.
Ebenfalls stutzig gemacht hatte sie das Quadrat ganz unten links, das größtenteils von Kopenhagen ausgefüllt wurde. Darin waren ein großes und ein kleines Kreuz mit einer 120 dahinter eingezeichnet. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Datum und keine Angaben zu Waffe oder Todesursache. Sie hatte auch von keinem spektakulären Mord auf der anderen Seite des Sunds gehört.
Und dann war da das Kreuz mitten im Öresund, gleich nördlich von der Insel Ven, und die entsprechende Notiz, 27. Juni 2012, Frank Käpp, Waffe: Schwert .
Es war das Datum des heutigen Tages. Aktueller ging es nicht. Der Mord hatte aus naheliegenden Gründen sehr viel weiter nördlich von der Insel Ven stattgefunden, aber Name und Waffe stimmten. Dass die Waffe stimmte, war nicht verwunderlich. Aber wie kam es, dass der Name korrekt war? Hieß das, dass er ihn schon gewusst hatte, bevor er auf den Sund hinausgefahren war, oder hatte er nachträglich … Nein. Es bedeutete wahrscheinlich nur, dass sie noch immer viel zu wenig über seine Arbeitsweise wussten.
Sie rieb sich die Schläfen, um die Durchblutung anzukurbeln. Irgendwie musste sie ihr Denken in neue Bahnen lenken.
Vor ihr tauchte der Bildschirmschoner auf, und ihr ebenso leerer wie müder Blick heftete sich an die schwebenden hypnotischen Formen. Als wäre sie auf dem besten Weg einzuschlafen. War sie aber nicht. Irgendwo in ihrem Innern war etwas zum Leben erwacht.
Es war ein neuer Gedanke. Noch nicht mal ein Gedanke. In Wirklichkeit hatte sich das Bett, das direkt hinter ihr stand, im Bildschirm gespiegelt.
Sie drehte sich um und betrachtete das offenbar hastig ausgebreitete Bettzeug. In der Mitte des Kissens war noch ein Abdruck seines Kopfes zu sehen, und die Decke war in Falten geworfen. So sah es aus, wenn Hampus behauptete, er hätte das Bett gemacht. An einer Stelle beulte sie sich, als ob etwas darunterläge.
Sie stand auf, schlug die Decke zur Seite und sah das gelbe Notizbuch mit dem X auf dem Umschlag. Sie begriff intuitiv, dass sie die ganze Zeit genau danach gesucht hatte. Vorsichtig streifte sie das Gummiband ab und begann zu blättern.
Auf allen Seiten waren handschriftliche Notizen, aber die wenigsten waren vollgeschrieben. Auf den meisten Seiten standen nur wenige Sätze und auf einigen nicht mehr als einzelne Wörter.
Du musst es mit verbundenen Augen machen , stand zum Beispiel auf der Seite mit der kleinen 73 am unteren Rand. Auf Seite 111 stand: Töte auch den Kollegen, Nachbarn oder Freund des Opfers. Der Würfel entscheidet, wer gemeint ist, und teilt dir mit, wie viele Stunden zwischen den beiden Aufträgen vergehen müssen.
Aufträge . So empfand er seine Taten also. Aufträge, die um jeden Preis erfüllt werden mussten.
Mach dem Opfer tagelang Angst, bevor du zur Tat schreitest.
Dring nachts in die Wohnung des Opfers ein. Betäube das Opfer mit Hexan. Lass den Würfel anschließend eine oder mehrere der folgenden Möglichkeiten auswählen:
  1. Stell alle Lebensmittel im Kühlschrank um.
  2. Nimm einen Teil vom Körper des Opfers als Trophäe mit.
  3. Schalte die Stereoanlage des Opfers ein, lass irgendein Stück Repeat laufen und dreh die Lautstärke auf.
  4. Tätowiere dem Opfer etwas auf die Stirn.
  5. Mach alle Fenster weit auf.
Fotografiere das Opfer mit seinem eigenen Handy, hacke das Handy und installiere das Foto als Hintergrundbild.
Genau das war Molly Wessman passiert. Milwokh hatte ihr den Pony kurz geschnitten und ihr Handy manipuliert, bevor er sie zwei Tage später vergiftete. Es handelte sich also um eine Art Zusatzaufgabe zum eigentlichen Hauptauftrag.
Sie hatte plötzlich eine Idee, ging zurück zur Karte und suchte das Kreuz in Spalte drei, Zeile fünf, neben dem 16. Juni 2012, Molly Wessman, Todesursache: Gift stand. Was sie jetzt interessierte, war das kleine Kreuz mit der Nummer daneben.
X 97
Sie nahm wieder das Buch zur Hand, und tatsächlich stand ganz unten die Seitenzahl siebenundneunzig.
Vielleicht waren die Markierungen auf der Karte gar keine Kreuze, sondern ein großes X.
Sie suchte nach dem ebenfalls angekreuzten Kartenquadrat, in dem sich Hyllinge befand. 16. Juni 2012, Lennart Andersson, Waffe: Gegenstand vom Tatort. Auch hier stand ein X mit einer Nummer dahinter.
X 28
Sie blätterte im gelben Notizbuch zur Seite achtundzwanzig.
Vor Augenzeugen.
Jetzt war klar, warum er den Messermord vor den Augen der Kundschaft von Ica Maxi und nicht an einem etwas einsameren Ort begangen hatte. Es erklärte auch, warum er sich maskiert hatte. Er hatte keinerlei rassistische oder fremdenfeindliche Motivation gehabt, sondern einfach nur sein Gesicht verbergen wollen.
Warum er Molly Wessman und Lennart Andersson an ein und demselben Tag umgebracht hatte, erklärte der Zusatzauftrag auf Seite dreizehn.
Fang mit einem neuen Auftrag an und führe ihn parallel zum ersten aus.
Als sie Seite siebenundvierzig las, wurde ihr auch klar, welche Rolle Assar Skanås bei der Entführung von Ester Landgren gespielt hatte.
Dies ist nicht dein Auftrag.
Wähle nach Belieben eine andere Person aus und lass sie den Auftrag an deiner Stelle ausführen.
Ob es Absicht war oder nicht, wusste sie nicht. Aber plötzlich zogen die Würfel auf der Filzdecke ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die zwanzig Würfel, die aus irgendeinem Grund alle mit der Sechs nach oben gelandet waren und die Summe einhundertzwanzig ergaben.
Sie drehte sich zur Karte um und sah sich die kleine Markierung im Kopenhagener Quadrat an.
X 12 0
Sie überprüfte rasch, wie viele Seiten das Notizbuch hatte, und merkte schnell, dass es sehr viel mehr waren. Aber auf Seite einhundertzwanzig stand der letzte Zusatzauftrag. Der letzte und mit Abstand der längste:
VERGISS ALLES
Zeitpunkt, Ort, Opfer, Waffe und Methode.
Vergiss alles. Dies ist ein Auftrag wie kein anderer.
Zeitpunkt:
Es wird kein neuer Zeitpunkt festgelegt. Triff zügig alle notwendigen Vorbereitungen. Handle so schnell und effektiv, wie du kannst. Wenn möglich, in den nächsten Tagen.
Ort:
Geh von der Position des ursprünglichen Auftrags aus und such dir den größten öffentlichen Ort in der Nähe. Es muss ein Ort sein, an dem sich möglichst viele Menschen auf möglichst begrenztem Raum gleichzeitig aufhalten.
Vorbereitungen:
Ermittle anhand der Kriterien weiter unten Opfer, Waffe, Aussehen und Position mithilfe des Würfels. Begib dich unverzüglich in das entsprechende Gebiet und führe den ersten Teilauftrag aus. Sobald dieser abgeschlossen ist, würfle noch einmal. Das Ergebnis entscheidet darüber, welche der sechs folgenden Kriterien vor dem so schnell wie möglich auszuführenden nächsten Teilauftrag verändert werden müssen .
Eine Eins
Der Auftrag ist beendet. Ziehe dich zurück.
Eine Zwei
Wechsle die Position. Ein weiterer Wurf.
1. Bleib immer in Bewegung.
2. Verwende ein Fahrzeug oder etwas anderes, was sich bewegt.
3. Begib dich in möglichst große Höhe.
4. Begib dich in möglichst große Tiefe.
5. Finde einen versteckten Ort.
6. Misch dich unter die Menschenmenge.
Eine Drei
Wechsle die Waffe. Ein weiterer Wurf.
1. Messer
2. Armbrust
3. Seil
4. Gewehr
5. Dein eigener Körper
6. Gift
Eine Vier
Wechsle die Farbe des Opfers. Ein weiterer Wurf.
1. Rot
2. Orange
3. Gelb
4. Grün
5. Bla u
6. Lila
Eine Fünf
Wechsle dein Aussehen. Ein weiterer Wurf.
1. Perücke
2. Brille
3. Jacke
4. Hose
5. Kopfbedeckung
6. Schuhe
Eine Sechs
Mach weiter wie bisher.
Lilja legte das Buch weg. Etwas so Krankes und Fürchterliches hatte sie noch nie gelesen. Es war alles nur ein Spiel. Ein Konstrukt. Wie ein Computerspiel, das man mit VR-Brille spielte, nur dass das hier real war.
Es ging um echte Menschenleben. Richtige Menschen, die vollkommen unschuldig waren und nicht ahnten, dass sie zu einer Beute degradiert worden waren, die der Spieler nur deshalb jagte und abschlachtete, weil es ihm einen Kick gab.
Sie war sich bei Weitem nicht sicher. Aber die Zweifel blieben aus, als sie zwischen den Würfeln, dem aufgeschlagenen Notizbuch und der Karte mit dem Kreuz unten links, wo Kopenhagen lag, hin und her blickte.
Alles passte zusammen.
Es war ihr bereits aufgefallen, als sie die Fotos in seinem Album angesehen hatte. Die geradezu ekstatische Freude, die in seinen Augen aufblitzte. Die Anspannung und das Gefühl, dass alles möglich war. Danach suchte er. Nach dem Rausch, den er als Kind an diesem einen Tag erlebt hatte. Nach dem Kick. Es gab also doch ein Motiv .
Doch jetzt zählte nur, dass sie Bescheid wusste, und das tat sie. Sie wusste, wo und wie er wieder zuschlagen würde.
Sie nahm aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahr und drehte sich um, aber die Rückseite des Schranks war bereits geschlossen worden, und kurz darauf rastete mit einem schnappenden Geräusch die Metallplatte ein.
»Hallo? Wer ist da?«, schrie sie, während sie zur Rückwand des Schranks rannte und an der Metallplatte zerrte. »Hallo, ich bin hier drin! Lasst mich raus …«
Der Knall klang wie ein Pistolenschuss aus nächster Nähe, und bevor sie reagieren konnte, sah sie den Nagel ihren linken Handrücken durchbohren. Der Schmerz setzte erst ein, als das Blut vom Handgelenk bis zum Ellbogen gelaufen war.
Sie hatte es gerade geschafft, die Hand loszureißen, als der nächste Knall ertönte und ein weiterer Nagel durch das Holz drang. Im nächsten Moment knallte es wieder, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zurückzuweichen und mit anzusehen, wie ein Nagel nach dem anderen die Rückwand des Kleiderschranks penetrierte.