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Die Ampel an der Tågagata sprang so plötzlich auf Rot, als wäre sie von der Ampelschaltung an der Kreuzung mit der Drottninggata abgekoppelt, aber Fabian, der schon zehn Minuten zu spät dran war, trat aufs Gaspedal, zwang alle anderen Verkehrsteilnehmer zur Vollbremsung und bog in die Bogseraregata im Nordhafen ein.
Gleich nach dem Telefonat mit Stubbs hatte er Tuvesson mitgeteilt, er könne heute nicht an der morgendlichen Besprechung teilnehmen. Sie hatte wissen wollen, warum, und ihm die Begründung, er müsse sich um seine Familie kümmern, zu seiner Verwunderung nicht abgekauft
.
Obwohl er darauf beharrt hatte, war sie nicht einmal dazu bereit gewesen, ihm einen halben Tag Urlaub zu geben. Zu allem Überfluss war sie richtig in Rage geraten, weil er in letzter Zeit so abwesend sei, erst gestern verschlafen habe und nun auch noch zu Hause bleiben wolle, obwohl sich die Ermittlungen in einer entscheidenden Phase befänden. Dass Lilja ebenfalls mit Abwesenheit glänzte und auch nicht zu erreichen war, machte die Sache nicht besser.
Das Gespräch hatte sich in die Länge gezogen, und beinahe hätte er Tuvesson alles erzählt. Die Zeit hätte jedoch nicht gereicht, um all ihre Fragen zu beantworten. Es hätte Stunden oder möglicherweise Tage gedauert, ihr das Ganze zu erklären und sie von der Notwendigkeit einer sofortigen Festnahme zu überzeugen. Daher hatte er keine andere Möglichkeit gesehen, als sie schamlos anzulügen und sich bereit zu erklären, ins Büro zu kommen.
Zu dem Zeitpunkt war er bereits spät dran gewesen, und wie er Stubbs kannte, würde sie nicht tatenlos herumstehen, während sie auf ihn wartete. Er konnte nur hoffen, dass Molander vollständig von der Untersuchung der Hallberg-Rassy absorbiert gewesen war und gar keine Zeit gehabt hatte, an andere Dinge zu denken.
Nachdem er das Auto auf einem freien Parkplatz abgestellt hatte, eilte er zu Fuß an den vielen Cafés voller entspannter Urlauber in T-Shirts und pastellfarbenen Shorts vorbei und weiter zum Hafenbecken und dem Kai des Nordhafens.
Etwa zwanzig Meter entfernt war die Hallberg-Rassy vertäut. Es war zwar nur der Mast zu sehen, aber an ihren Auslegern, dem Radar und dem Windmesser oben an der Spitze erkannte er sie auch so. Der Rest des Segelboots war von einer Absperrung verdeckt
.
Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche, drängte sich durch die Gruppe von Schaulustigen, die bereits ihre Handys gezückt hatten, stieg über das Absperrband und wurde von einem uniformierten Polizisten hinter den Sichtschutz gelassen.
Ab hier hatte die Hallberg-Rassy nichts mehr mit den anderen Booten im Hafen gemein. Der einst schneeweiße Rumpf war voller Blut. Das Großsegel war zwar eingeholt, aber nur achtlos am Baum festgemacht. Das Gleiche galt für die blutbespritzte Genua, die zusammengerollt auf dem Vordeck lag.
Es war ohne Zweifel ein deprimierender Anblick, und daher wäre es naheliegend gewesen, das Boot im Anschluss an die Untersuchung sofort zu verschrotten. Doch das würde nicht passieren, denn dafür war es zu viel wert, und solange der Preis stimmte, würden sich mit Sicherheit mehrere Kaufinteressenten finden, die bereit waren, so zu tun, als wenn sie von nichts wüssten.
Einer von Molanders Assistenten stand in seinem weißen Schutzanzug im Cockpit und bückte sich mit einer Pinzette in der Hand zum Fußboden
. Der andere, ebenfalls im Schutzanzug, stand im Schatten eines Sonnenschirms neben einem Klapptisch oben auf dem Kai und fotografierte die aufgereihten Körperteile, bevor er sie der Reihe nach in Kühltaschen verstaute.
Auch Molander war beschäftigt, aber nicht mit der Arbeit auf dem Segelboot. Er hatte die obere Hälfte seines Schutzanzugs in der Taille zusammengeknotet, stand neben seinem Kastenwagen und klebte förmlich am Handybildschirm.
»Ingvar!«, rief er.
Molander blickte vom Handy auf und drehte sich zu ihm um.
»Ich bin’s nur.« Fabian merkte plötzlich, dass er dem Kollegen sogar zuwinkte, was er sonst nie tat. Er musste sich normal
verhalten. Wenigstens ging er ihm einigermaßen gelassen entgegen.
»Nur
ist gut.« Molander grinste. »Und was verschafft mir die Ehre? Ich dachte, du sitzt mit den anderen in der Besprechung.«
»Die haben wir ein bisschen verschoben. Anscheinend kann Tuvesson Lilja nicht erreichen.« Fabian blieb vor Molander stehen und zwang sich mit aller Kraft, dessen Grinsen zu erwidern. »Ich wollte nur mal gucken, ob du auch wirklich arbeitest und nicht die ganze Zeit Murder Snails
spielst.«
Molander steckte lachend das Handy in die Tasche. »Schön wär’s.«
»Ich dachte, das wäre genau dein Ding.« Fabian deutete auf die Hallberg-Rassy. »Apropos. Wie läuft es denn bei euch?«
»Bist du deswegen gekommen? Um mich zu fragen, wie es bei mir läuft?«
»Unter anderem.« Er blickte zu dem Assistenten im Cockpit hinüber, der gerade in der Achterkajüte verschwand. Er musste Zeit schinden. Egal wie, Hauptsache, Molander war so lange wie möglich abgelenkt. »Außerdem will ich natürlich wissen, ob ihr hier auch Beweismaterial gefunden habt, das gegen Milwokh verwendet werden kann.«
»Sei unbesorgt. Wir werden die technischen Beweise sichern und ordnungsgemäß verwahren.«
»Da mache ich mir gar keine Sorgen.«
Molander lachte laut auf. »Das kann ja jeder sagen. Dein Gesichtsausdruck spricht eine andere Sprache.«
Wusste er bereits, dass Stubbs auf dem Grundstück war?
»Ansonsten würde ich sagen, wie zu erwarten«, fuhr Molander
fort.
»Wie bitte?«
»Du wolltest wissen, wie es bei mir läuft?«
»Ihr habt also nichts Besonderes gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«
Molander schüttelte den Kopf. »Aber wer weiß. Wir sind ja noch lange nicht fertig.«
»Und wann werdet ihr es voraussichtlich sein?«
»Wie groß ist das Universum? Und apropos, vielleicht sollten wir uns jetzt beide wieder unseren jeweiligen Aufgaben zuwenden. Wir werden schließlich gebraucht.«
»Im Moment ist das hier meine Aufgabe. Und daher wäre ich dir dankbar, wenn du mir zeigen würdest, was ihr schon gefunden habt.«
»Dankbar wäre man ja für so einiges auf dieser Welt. Ich selbst wüsste zum Beispiel gerne, was du damit bezweckst. Außer meine Zeit zu verschwenden.«
»Es könnte doch sein, dass mir etwas auffällt, was ihr gar nicht bemerkt habt.«
»Unwahrscheinlich. Aber wenn du nichts Besseres zu tun hast, will ich dir keine Steine in den Weg legen.« Molander drehte sich zu dem Assistenten am Klapptisch um. »Fredrik! Kannst du Fabian mal schnell zeigen, was wir alles gefunden haben?«
»Klar. Ich muss nur erst die hier an Flätan schicken.«
»Keine Eile. Fabian scheint alle Zeit der Welt zu haben. Bis später.« Molander nickte Fabian zu, drehte sich zu seinem Kastenwagen um und legte die Hand auf den Griff an der Fahrertür.
»Entschuldige, aber musst du irgendwohin?«
»Ja, zu Kjell & Company
in der Bruksgata«, sagte Molander, ohne sich umzudrehen. »Spannendere Dinge habe ich leider nicht zu tun.« Er öffnete die Fahrertür. »Die Speicherkarte meines Handy ist nämlich voll,
und …«
»Kann Fredrik das nicht machen?«
Molander ließ den Griff los und sah ihn an. »Und seit wann bist du der Meinung, du hättest zu bestimmen, wie meine Mitarbeiter und ich die Arbeit untereinander aufteilen?«
»Wenn ich mich recht entsinne, hast du selbst betont, wie wichtig es ist, dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass Milwokh gefasst und auch verurteilt wird. Wieso wunderst du dich dann, wenn ich mir eure Funde lieber von dir als von deinem Assistenten zeigen lasse?«
Molander sagte nichts, sondern stand nur da, als hätte er Fabian durchschaut und wüsste genau, worum es in Wirklichkeit ging. »Natürlich.« Schließlich nickte er. »Du hast recht. Bringen wir es hinter uns.«
Fabian wollte Molander gerade ein Lächeln schenken, als in seiner Tasche das Handy klingelte.
»Willst du nicht rangehen?« Molander warf einen Blick auf seine Hose.
Zum Glück war es sein iPhone gewesen, weswegen er beschloss, den Anruf entgegenzunehmen. Als er Stubbs’ Namen auf dem Display sah, drückte er sich das Telefon so schnell wie möglich ans Ohr.
»Wenn du wissen willst, warum ich dich nicht unter der anderen Nummer angerufen habe, kann ich nur sagen, dass die total sinnlos ist, weil du da sowieso nie rangehst.«
»Entschuldigung, aber mit wem spreche ich?« Er spürte Molanders bohrenden Blick von der Seite und wusste sich nicht anders zu helfen, als diesen zu erwidern und ein ehrlich erstauntes Gesicht zu machen.
»Kannst du nicht reden?«
, fragte Stubbs. »Bist du deswegen …«
»Ach, du bist das. Hallo«, unterbrach Fabian
sie. »Könnte ich dich vielleicht etwas später zurückrufen? In einer Stunde oder so?«
»Ist es wegen Molander? Bist du gerade bei ihm?«
»Das kann man wohl sagen. Und daher würde ich das alles, wie gesagt, lieber besprechen, wenn ich hier fertig bin.«
»Nein. Die Sache kann nicht warten«
, sagte Stubbs. »Du hörst mir jetzt zu, und wehe, du legst auf. Hast du verstanden? Nicht. Auf. Legen.«
»Okay. Dann mach schnell.« Er sah Molander achselzuckend an, doch der starrte zurück, als könnte er in ihm lesen wie in einem offenen Buch.
»Ich habe das Beweismaterial gefunden. Hast du gehört, Fabian? Ich habe …«
»Entschuldige, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich …«
»Die Beweise gegen Milwokh! Es ist alles hier in einem alten Gefrierfach!«
»Okay, du meinst also …«
»Genau. Verhafte ihn einfach. Es gibt keinen Grund, noch länger zu warten.«
»Verstehe.« Fabian nickte und warf Molander ein Lächeln zu.
»Außerdem habe ich Gertrud gefunden.«
»Ach, sieh mal an. Und? Alles in Ordnung?«
»Leider nicht. Das Arschloch hat sie in einen Erdkeller gesperrt, und ich komme nicht an sie ran.«
»Wie bitte, ich verstehe nicht ganz …«
»Im Moment brauchst du nur zu verstehen, dass du ihn festnehmen musst. Nicht in ein paar Stunden und auch nicht in ein paar Minuten, sondern jetzt sofort.«
In Fabians Ohr machte es klick, und das Telefonat war beendet.
»Gut, so machen wir’s«, sagte er, ohne das Handy vom Ohr
zu nehmen. »Verstehe, klingt gut. Tschüss.« Ohne Molander aus den Augen zu lassen, steckte er das iPhone in die Hosentasche.
Gertrud hatte ihn also nicht verlassen. Molander hatte sie in einen Erdkeller geworfen, als sie zu unbequem geworden war. Der handschriftlich verfasste Abschiedsbrief war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, damit niemand Verdacht schöpfte.
Er konnte es fast nicht glauben. Nicht einmal Molander traute er zu, einfach die eigene Frau zu opfern.
Keiner von beiden sagte etwas. Trotzdem war es beiden völlig klar. Die Blicke und das Schweigen verstärkten nur den Hauch von Ewigkeit, der diesen unvergesslichen Moment umgab.
Molander wusste Bescheid. Er hatte eins und eins zusammengezählt. Vielleicht war ihm nicht hundertprozentig klar, wer in das Haus eingedrungen war und das Beweismaterial gefunden hatte. Aber dass es noch jemanden gab, hatte er begriffen, und nun ging er fieberhaft seine Möglichkeiten durch. Man sah es förmlich an dem Blick, mit dem er durch Fabian hindurchstarrte und nach einer Lösung Ausschau hielt. Einem Ausweg.
Fabian selbst brauchte nicht zu überlegen. Der Zeitpunkt, den er zwar gefürchtet, aber vor allem herbeigesehnt hatte, war endlich gekommen, und nun war es an ihm, den ersten Schritt zu tun. Er musste handeln und Molander festnehmen, seinen eigenen Kollegen. Mitten in einer laufenden Tatortuntersuchung würde er ihm vor den Augen seiner eigenen Assistenten Handschellen anlegen.
Es war nicht zu ändern. Beizeiten würden sie es verstehen. Sie und alle anderen. Dass er, egal, wie merkwürdig sein Verhalten gewirkt haben mochte, das Recht auf seiner Seite gehabt hatte.
Wenn es doch nur so einfach wäre. Er hatte
das Gefühl, sich mit verbundenen Augen einen Abhang hinunterzustürzen, von dem er nicht wusste, wie hoch er war.
Die Handschellen steckten in der rechten Jackentasche. Er musste sie nur noch hervorholen und Molander bitten, die Hände auszustrecken. Vielleicht würde es vollkommen undramatisch ablaufen und innerhalb von Sekunden vorbei sein. Bei genauerer Betrachtung konnte Molander eigentlich kein Interesse daran haben, ihm eine Szene zu machen. Vermutlich würde er nicht einmal die Handschellen brauchen, sondern ihm nur die Hand auf die Schulter legen und die Sache ruhig erklären müssen.
»Ingvar«, sagte er schließlich in die Stille hinein.
Als Erstes kam die Erkenntnis, dass er die Situation nicht falscher hätte einschätzen können. Wenige Augenblicke später breitete sich vom Solarplexus der Schmerz im ganzen Körper aus. Erst da, als er vornübergebeugt dastand und mit beiden Händen sein Zwerchfell umfasste, begriff er, dass Molander mit voller Kraft zugeschlagen hatte und nun dabei war, in seinen Kastenwagen einzusteigen und sich ans Steuer zu setzen.
In seinen Eingeweiden zuckte es vor Schmerz, während er gebückt zur Fahrertür hastete und sich selbst über die Klippenkante springen und in die Tiefe stürzen sah.
Ohne zu begreifen, wie genau es vor sich gegangen war, packte er Molander am Bein, klammerte sich daran wie an eine Rettungsleine und versuchte, den Kollegen vom Fahrersitz zu zerren, obwohl dessen Tritte nicht nur seine Hände, sondern auch sein Gesicht trafen. Gleichzeitig knallte immer wieder die Autotür gegen seinen Kopf, als hätte sie ein Eigenleben entwickelt und wäre auf Molanders Seite.
Er hätte aufgeben und loslassen sollen. Hätte an all die Dinge denken sollen, für die es sich zu leben lohnte. All das, was
ihm wirklich etwas bedeutete. Aber es ging nicht. Trotz der Fußtritte, die ihm immer größere Platzwunden in die Stirn rissen, trotz des Blutes, das ihm in die Augen lief und ihm zunehmend die Sicht nahm, konnte er nichts anderes tun, als sich festzuhalten.
Vielleicht, weil der Schmerz nicht stärker wurde, sondern in die Ferne rückte. Als hätte sich sein Körper von allen Ablenkungen und allem Hintergrundrauschen abgeschottet und sich in der Gewissheit verkapselt, dass er noch tiefer fallen und alles verlieren würde, wenn ihm Molanders Bein entglitt.
In einiger Entfernung schrien die beiden Assistenten. Ob er sie übertönen wollte oder ob es der Versuch war, an eine Art Urkraft heranzukommen, würde er nicht mehr nachvollziehen können. Auf einmal hörte er nur noch sein eigenes Gebrüll, und kurz darauf sah er Molander vor sich auf dem Asphalt liegen.
Er hatte es geschafft, ihn aus dem Kastenwagen zu ziehen, und nun registrierte er einen Moment lang, dass der Kollege sich auf den Bauch drehte und offenbar aufstehen wollte, während von hinten die Assistenten nach ihm griffen. Aber sie kamen alle zu spät. Er hatte bereits zum Sprung angesetzt.
Als er landete, lag Molander unter ihm. Der Kampf war vorbei, und er drückte mit der einen Hand das Gesicht des Kollegen nach unten und griff mit der anderen nach den Handschellen.
»Hallo? Fabian?« Die Stimme des Assistenten gab zunächst nur undeutlich gemurmelte Worte von sich, wurde aber rasch deutlicher, so als wäre sein Gehör wieder eingeschaltet worden. »Bist du verrückt?« Kurz darauf spürte er zwei Hände, die an ihm zogen.
»Lass mich los!«, schrie er und setzte sich zur Wehr, während er vergeblich versuchte, Molander auf dem Rücken die Handschellen
anzulegen.
»Was soll denn der Scheiß?«, hörte er den anderen Assistenten, während es vier Hände wurden, die ihn schließlich von Molander wegrissen. Erst nachdem er seine Pistole hervorgeholt hatte, ließen sie ihn los.
»Jetzt hört mir mal zu.« Er rappelte sich auf, wischte sich mit dem Jackenärmel das Blut aus den Augen und vergewisserte sich mit einem Blick auf Molander, dass dieser noch auf dem Bauch lag. »So merkwürdig es auch klingen mag, euer Chef und mein Kollege Ingvar Molander steht unter dringendem Verdacht, mehrere Morde begangen zu haben. Ich bitte euch daher, einen Schritt zurückzutreten, damit ich ihn festnehmen kann. Okay?«
Die Assistenten blickten zwischen der Pistole in seiner Hand und Molander hin und her.
»Wie, Morde?«, fragte der eine schließlich. »Ingvar soll …«
»Ja, leider. Aber es hat jetzt keinen Zweck, weitere Fragen zu stellen. Mehr kann ich sowieso nicht sagen.« Das Blut aus den Platzwunden auf seiner Stirn rann ihm noch immer in die Augen. »Deshalb bitte ich euch noch einmal. Tretet zurück und lasst mich meine Arbeit machen.«
Die beiden Assistenten schienen weder ein noch aus zu wissen.
»Zurücktreten!«, schrie er schließlich und richtete die Pistole auf sie, woraufhin sie mit erhobenen Händen rückwärtsgingen, während er sich erneut das Blut aus den Augen wischte. »So. Wunderbar. Und jetzt …«
»Waffe fallen lassen!«, unterbrach ihn eine Stimme, die weder den Assistenten noch Molander gehörte. »Waffe fallen lassen, habe ich gesagt!«
Er kannte die Stimme, konnte sie aber erst zuordnen, als er sich umdrehte und Tuvesson mit einer Pistole in den ausgestreckten Händen auf
sich zukommen sah.
»Reg dich nicht auf, Astrid.« Er machte eine beschwichtigende Geste. »Ich kann dir alles erklären.«
»Lass die Waffe fallen. Sofort!« Tuvesson blieb einige Meter vor Fabian stehen und richtete die Pistole direkt auf ihn.
»Jetzt lass es mich dir doch erklären, verdammt noch mal!«
»Tu einfach, was ich sage, sonst schieße ich!«
Kopfschüttelnd legte Fabian seine Waffe auf die Erde. »Du machst einen Fehler, Astrid. Nur dass du es weißt. Den größten deines Lebens.«
»Ich? Ich bin diejenige, die einen Fehler macht?« Tuvesson nickte. »Interessant. Dann warst du also nicht derjenige, der in den vergangenen Wochen sein eigenes Ding gedreht und den größten Fall unseres Lebens vernachlässigt hat? Der die Männer von der Küstenwache mit einer Pistole bedroht hat und jetzt das Gleiche mit unseren eigenen Leuten macht?«
»Ich kann es dir erklären, Astrid«, sagte Fabian, während Molander aufstand. »Wenn du mich mal ausreden …«
»Wie oft habe ich schon gesagt, dass wir ein Team sind«, unterbrach ihn Tuvesson. »Dass wir ehrlich zueinander sind und uns gegenseitig an unseren Gedanken und Ideen teilhaben lassen. Und trotzdem lügst du mir immer wieder ins Gesicht. Musst dich angeblich um deine Familie kümmern und bist in Wirklichkeit ganz woanders. Oder versprichst, zur Besprechung zu kommen, und fährst stattdessen direkt hierher. Ja, du brauchst gar nicht so ein erstauntes Gesicht zu machen. In letzter Zeit habe ich dich mithilfe eines GPS-Senders unter deinem Wagen beobachtet, und das war, gelinde gesagt, interessant.«
»Bist du fertig?«, fragte Fabian, während er im Geiste die vergangenen Tage Revue passieren ließ und überlegte, welchen Unterschied es machte, wenn der GPS-Sender von Tuvesson und nicht von Molander war
.
»Keine Ahnung. Das frage ich dich. Bin ich es? Ich selbst habe nämlich, um ehrlich zu sein, keinen Schimmer, worum es hier überhaupt geht.«
»Um Molander. Nicht mehr und nicht weniger«, sagte Fabian. »Er ist nicht der, für den du ihn hältst. In Wahrheit hat er nicht nur Elvin umgebracht, sondern auch seinen …«
»Elvin?«, fiel Tuvesson ihm ins Wort. »Umgebracht? Was redest du da für einen Scheiß? Elvin hat Selbstmord begangen.«
»Nein.« Fabian schüttelte den Kopf. »Es sollte nur so aussehen, und Elvin ist leider nicht Molanders einziges Opfer.«
»Moment mal. Willst du Molander, einem aus unserem Team, ernsthaft vorwerfen …«
»Astrid, wenn du den Eindruck hattest, ich wäre mit meinen Gedanken woanders und würde mein eigenes Ding drehen, dann lagst du vollkommen richtig. Seit Elvins Beerdigung ermittle ich gegen Molander. Und setze damit die Ermittlungen fort, mit denen Elvin schon vor Jahren angefangen hat.«
Tuvesson schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht fassen, was er da sagte.
»Ich schwöre dir, ich hätte nichts lieber getan, als dich zu informieren. Aber es ging nicht. Nicht, bevor ich nicht genügend Beweise in der Hand hatte, und das habe ich erst jetzt. Du bist genau in dem Moment gekommen, als ich ihn verhaften wollte. Ruf Hillevi Stubbs an, wenn du mir nicht glaubst. Sie hat mir geholfen und kann jedes Wort bezeugen.«
Tuvesson war kreidebleich geworden und hielt ihre Pistole umklammert, als würde nur sie ihr noch Halt geben. »Stimmt das, Ingvar?« Sie sah Molander an. »Stimmt das, was er sagt? Ingvar, antworte mir. Stimmt das?«
»Ja und nein. Es ist richtig, dass Elvin heimlich ermittelt hat. Aber nicht gegen mich, sondern gegen Fabian. Er hatte
nämlich den Verdacht, Fabian hätte seine ehemalige Klassenkameradin Ingela Ploghed betäubt und ihr die Gebärmutter herausoperiert, woraufhin sie später Selbstmord beging. Er sprach mich mehrfach darauf an, aber ich habe seinen Verdacht leider nicht ernst genommen. Und dann war er tot.« Molander schluckte. »Frag mich nicht, wie, aber Fabian muss die Ermittlungsunterlagen gefunden haben.« Er schüttelte den Kopf und schien jeden Moment in Tränen auszubrechen. »Es ist so furchtbar. Elvin war einer meiner allerbesten Freunde.«
»Astrid, ich bitte dich«, sagte Fabian. »Du glaubst doch wohl nicht …«
»Du bist ruhig! Und zwar sofort!«, schrie Tuvesson Fabian ins Gesicht.
»Jetzt reicht’s mir aber! Er denkt sich das alles doch nur aus! Siehst du denn nicht …«
»Schnauze, habe ich gesagt. Ich will kein Wort mehr hören!«
»Ausdenken?« Molander zog die Augenbrauen hoch. »Wieso sollte ich es mir ausdenken, wenn ich sowohl im Fall von Elvin als auch für den Fall Ploghed Beweise habe?«
Tuvesson blickte zwischen Molander und Fabian hin und her, ohne die Pistole sinken zu lassen.
»Denk mal nach«, fuhr Molander fort. »Er ist jetzt seit zwei Jahren hier. Keiner von uns kannte ihn vorher. Und genau vor zwei Jahren haben all unsere Probleme angefangen. Stimmt’s? Ich weiß ja nicht, wie gut du über seine Stockholmer Vorgeschichte informiert bist, aber dort sind zwei seiner Kollegen unter merkwürdigen Umständen ums Leben gekommen. Wenige Monate später kommt er hierher. Schau dir nur mal seinen Sohn an, der jetzt in Untersuchungshaft sitzt, weil er verdächtigt wird, bei der Smiley-Liga mitgemacht zu haben.«
»Ich verstehe das nicht, Ingvar. Warum hast du nichts
gesagt?«, fragte Tuvesson. »Warum hast du nichts gesagt, wenn du all das wusstest?«
Molander drehte sich zu Fabian um, schluckte und wandte sich dann wieder Tuvesson zu. »Gertrud«, sagte er schließlich mit zitternder Unterlippe. »Ich habe gesagt, sie hätte mich verlassen, aber das ist nicht wahr. Es war Fabian … Er hat sie mir genommen.« Er nahm die Brille ab und tupfte sich die Augen. »Was hätte ich denn machen sollen? Du weißt doch, wie sehr ich sie liebe.«
Tuvesson dachte kurz nach, dann nickte sie. »Hast du mich deswegen gestern und am Sonntag mitten in der Nacht angerufen?«
»Was? Wieso angerufen?«, fragte Molander, bevor ihm aufging, dass Tuvesson mit Fabian sprach. Der wiederum nickte.
»Astrid, wie lange arbeiten wir beide schon zusammen?«, fuhr Molander fort. »Es müssen mindestens vierzehn oder fünfzehn Jahre sein. Nicht wahr?«
»Im August sind es sechzehn.« Tuvesson drehte sich wieder zu ihm um.
»Dann sind wir also seit sechzehn Jahren Kollegen und Freunde.«
»Ja, das stimmt.« Tuvesson nickte und sah ihn dabei durchdringend an. »Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, mich nicht hundertprozentig auf dich verlassen zu können.«
»Was? Du konntest dich immer auf mich verlassen!« Molander breitete die Arme aus.
»Ja, sollte man meinen. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich dir nie vertraut.«
»Astrid …«
»Leg dich wieder hin, und zwar auf den Bauch, und streck Arme und Beine aus.
«
»Im Ernst? Willst du …«
»Ja, ich meine es ernst, Ingvar«, fiel Tuvesson ihm ins Wort. Sie schien sich zusammenreißen zu müssen, um nicht zusammenzubrechen. »Mach es nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.«
Molander überlegte einen Augenblick, dann biss er die Zähne zusammen und legte sich wieder hin, woraufhin Tuvesson Fabian zunickte, damit der Molander die Handschellen anlegte.
Nach allem, was Fabian erlebt hatte, lief die Sache erstaunlich glatt. Schließlich halfen Tuvesson und er Molander gemeinsam auf, und dann gingen sie schweigend zu den Autos.
Keiner von ihnen sagte etwas. Nicht einmal Molanders Assistenten. Plötzlich schienen die Worte zu fehlen, die der Situation gerecht geworden wären, und an ihrer Stelle breitete sich ein vakuumartiges Schweigen aus. Die Touristen stellten das Geplauder ein, kein Auto fuhr mehr vorüber. Die Hunde hörten auf zu bellen, und selbst der Sand unter ihren Schuhen knirschte nicht mehr. Alles schien den Atem anzuhalten.
Das Geräusch, das die Stille schließlich durchbrach, kam aus drei Taschen gleichzeitig.
Alle drei blieben stehen, Fabian und Tuvesson sahen sich an und holten ihre Handys hervor.
Lilja hatte die Nachricht an das gesamte Team, einschließlich Molander, geschickt. Sie schien eine ganze Menge Informationen zu enthalten, aber Fabian brauchte nur die Wörter Milwokh
und Tivoli
in der Betreffzeile zu lesen, um zu wissen, dass Tuvesson Molander allein zum Untersuchungsgefängnis bringen musste.