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Er war seit seiner Kindheit nicht in Kopenhagen gewesen. Damals hatte er noch bei seinen Eltern gewohnt. Trotzdem erkannte er alles wieder. Die farbenfrohen Fachwerkfassaden, das Kopfsteinpflaster und die vielen Fahrräder überall. Nichts schien sich während seiner Abwesenheit verändert zu haben. Jeder Pflasterstein schien noch an genau derselben Stelle wie bei seinem letzten Besuch zu liegen. Sogar die Gerüche stimmten mit seiner Erinnerung überein.
Allerdings hatte er die Stadt noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Von unten betrachtet, wirkte sie ungewöhnlich ruhig. Der ganze Stress war oben auf den Straßen. Dort raste die Zeit, und die Leute hetzten mit hängenden Zungen durch die Gegend. Hier unten war das Tempo gedrosselt wie in einer Parallelwelt, in der alles in Zeitlupe ablief.
Die Atemzüge wurden tiefer und die Pausen dazwischen länger. Als ob er sich auf einen meditativen Zustand zubewegte, in dem sich Körper und Geist in einem perfekten Gleichgewicht befanden. Und dabei war er auf dem Weg in eine pulsierende Großstadt.
Nun war er aber auch noch nie von der Seeseite gekommen, lautlos an der tatsächlich verblüffend
kleinen Meerjungfrau und den Touristenhorden am Kai vorübergeglitten und vorbei an der neuen Oper und Nyhavn in die Kanäle unter den Brücken hineingefahren.
Es herrschte die totale Harmonie, und vielleicht brauchte er jetzt genau das. Einen Augenblick Ruhe, bevor jeder Teil von ihm, jeder Teil seines Körpers, eine absolute Spitzenleistung erbringen musste.
Ihm kam ein Fahrgastschiff voller Asiaten entgegen, die ihm zuwinkten, als hätten sie noch nie jemanden gesehen, der die gleiche Hautfarbe hatte wie sie. Er winkte zurück, wendete aber das Gesicht ab, als sie ihn fotografierten. Währenddessen fuhr er weiter den Kanal entlang, der nach etwa zwanzig Metern links abbog und ins Dunkel unter einer Brücke führte, wo die Geräusche von der Wasseroberfläche und den feuchten Ziegeln über ihm widerhallten.
Zurück im Licht, sah er auf der rechten Seite einige Anlegeplätze. Mühelos zwängte er sich zwischen die anderen Boote und machte an dem abgesenkten Holzsteg fest.
Keinem der vielen Fußgänger und Fahrradfahrer, die nah an ihm vorbeikamen, fiel etwas auf. Nicht einmal der Parkwächter, der sich gerade das Kennzeichen eines Nissan Primera notierte, bemerkte, dass er mitten im Stadtkern ein Rettungsboot der MS Vinterland
vertäute.
Auf dem Weg nach Kopenhagen war er auf der dänischen Seite so nah wie möglich an der Küste geblieben, falls es zu einem Zwischenfall kommen sollte. Aber er hatte nicht ein einziges Mal jemanden gesehen, der nach ihm Ausschau zu halten schien. Das einzige wirkliche Hindernis war diese Polizistin namens Irene Lilja gewesen, die aus irgendeinem Grund in seine Wohnung eingedrungen war und es geschafft hatte, seinen verborgenen Raum zu finden. Dies war, es ließ sich
nicht anders sagen, ein herber Rückschlag gewesen. Er musste sich damit abfinden, dass ihm der Weg zurück für immer versperrt war.
Wie groß der entstandene Schaden war, würde sich zeigen. Der Würfel hatte es ihm leider versagt, sie umzubringen. Zum Glück hatte er wenigstens noch genügend Baumaterial übrig gehabt, um den Ausgang so solide abzuriegeln, dass sie selbst mit fremder Hilfe eine ganze Weile brauchen würde, um sich zu befreien. Bis dahin wäre er mit seinem Auftrag längst fertig.
Er checkte ein letztes Mal sein Gepäck. Er trug eine beigefarbene Shorts mit Taschen an den Oberschenkeln, Turnschuhe und eine etwas längere graue Jacke mit Kapuze. Er hatte sich eine Kappe und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Für einen hochsommerlichen Tag wie diesen war er zwar zu warm angezogen, und er würde kräftig schwitzen, aber anders ging es nicht.
Den Rucksack hatte er gegen sechs proppenvolle Bauchtaschen ausgetauscht, die er sich alle umgeschnallt hatte, um leicht ranzukommen. Zu seinem Erstaunen war er trotz des vielen Gepäcks ziemlich beweglich, und dank der Jacke, die alles verdeckte, wirkte er nur ein wenig breiter, als er in Wirklichkeit war.
Das Gewehr war am schwierigsten gewesen. Es war ein finnisches Jagdgewehr mit Zielfernrohr, Modell Tikka T
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, das er sich bereits vor einem Jahr angeschafft und im Dachbodenabteil seiner Nachbarin versteckt hatte. Mit nur fünf Kilo war es für ein voll ausgestattetes Gewehr erstaunlich leicht.
Nachdem er es jedoch in die eigens eingenähte wattierte Innentasche gesteckt hatte, war es ihm schwerer und klobiger als erwartet vorgekommen. Daher hatte er ein wenig umdisponiert und für den Transport des Gewehrs schließlich die Schwerthülle verwendet, die er auf dem Rücken tragen konnte.
Die Armbrust wog zwar auch ungefähr fünf Kilo, ließ sich aber zusammenklappen und passte,
eingewickelt in ein Stück Stoff, mit den Pfeilen, einem Teil der Wechselwäsche und einer Flasche Wasser in die Umhängetasche.
Sogar das Problem des Würfelns in Bewegung hatte er gelöst. Er hatte den Boden einer Ramlösa-Flasche abgesägt, die Kante mit Klebeband versehen, damit er sich nicht schnitt, zwei kleine Löcher in die Plastikflasche gebohrt und einen Kabelbinder hindurchgesteckt. Das alles hatte er mit seinem übrigen Gepäck auf das Rettungsboot geschafft.
Zuletzt hatte er die Konstruktion mit einem Aluminiumwürfel darin kopfüber an seinem linken Handgelenk befestigt und probeweise geschüttelt, um sicherzugehen, dass der Würfel nicht rausfallen konnte. Anschließend war er von Bord gegangen, die kleine Treppe zum Kai hinaufgestiegen, hatte dem Parkwächter ein freundliches Lächeln zugeworfen und war dann am Fredriksholms-Kanal entlanggegangen und nach links in die Stormgade abgebogen.
Um nicht zu viel Flüssigkeit zu verlieren, bevor er überhaupt angefangen hatte, hielt er sich im Schatten des Säulengangs. Kurz darauf überquerte er die Vester Voldgade und dann den H. C. Andersen Boulevard und war seinem Ziel nun so nah, dass er die Jubelschreie vom »Freien Fall« und dem »Dämon« im Tivoli hörte.