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Fabian lief so schnell, wie er konnte, ohne mit jemandem zusammenzustoßen. Teils rannte er, teils musste er einen großen Umweg um eine Gruppe machen, aber er blieb die ganze Zeit in Bewegung und versuchte, so viel wie möglich von seiner Umgebung in sich aufzunehmen.
Er durfte nicht an belanglosen Details hängen bleiben, sondern musste sich auf die Abweichungen vom Normalen konzentrieren. Was immer das hieß. Die meisten Dinge, die ihm auffielen, waren in einem Vergnügungspark völlig normal.
Überall wurde geschrien. Meistens vor Vergnügen, aber manchmal auch vor Angst oder aus reiner Panik. Kinder weinten, Erwachsene riefen nach ihnen. Die Bewegungsmuster der Leute waren auch kein Anhaltspunkt. Sie standen entweder herum oder drängten sich zu Menschentrauben zusammen, und einige schlenderten ziellos durch die Gegend. Andere rannten, als wären sie auf der Flucht. All das war normal, und nicht einmal eine Schlägerei war hier ein Stirnrunzeln wert.
Die Entscheidung, den unerlaubten Waffenbesitz nicht zu bestätigen und stattdessen aufzustehen und die Wachzentrale zu verlassen, war keine Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen gewesen. Er hatte nämlich keine. Und er konnte jetzt auch keine Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen nehmen, die die dänische Polizei mit diesem Sleizner an der Spitze irgendwann ziehen würde. Dieser Jan Hesk schien jedenfalls insgeheim auf seiner Seite zu sein, denn er hatte ihn wortlos gehen lassen.
Seitdem war er zweimal so gut wie das gesamte Gelände abgelaufen. Er bog jetzt zum dritten Mal von der Rasenfläche vor der großen Bühne in den Gang ab, der zwischen den beiden Restaurants Promenade und Frikadelle begann.
Bislang hatte nichts seine Aufmerksamkeit erregt. Der Mann, den er beinahe festgenommen hätte, war nirgendwo zu sehen. Er war fest überzeugt gewesen, dass es Milwokh war. Nun wurden seine Zweifel mit jedem Schritt größer. Was, wenn er es nicht gewesen war? Und wenn er gar nicht vorhatte, hier als Nächstes zuzuschlagen?
Tuvesson und er hatten Lilja ihre Schlussfolgerungen sofort abgekauft. Er hatte jedoch nur die Beschreibung des Auftrags gelesen, und der Tivoli wurde darin nur ein einziges Mal erwähnt.
Geh von der Position des ursprünglichen Auftrags aus , hatte da gestanden. Ein öffentlicher Ort in der Nähe, an dem sich möglichst viele Menschen auf begrenztem Raum aufhalten. Angesichts des Kreuzes auf dem Kartenquadrat von Kopenhagen lag der Tivoli natürlich nahe. Vor allem, wenn man sich die Kinderfotos von Milwokh vor Augen hielt, die Lilja gefunden hatte. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, dass er seinen Anschlag genauso gut im Zoo ausführen könnte. Oder warum nicht im Bahnhofsgebäude gleich um die Ecke?
In regelmäßigen Abständen hatte er Tuvesson kontaktiert und sie über den Stand der Dinge informiert. Was sein Problem mit der dänischen Polizei anging, stand sie hinter ihm und hatte versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Sleizner persönlich zu erreichen und dafür zu sorgen, dass von höherer Stelle eine offizielle Beschwerde formuliert wurde.
Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass er die Suche bis zum Ende der Öffnungszeit fortsetzen sollte. In der Nacht konnten sie dann die Anhaltspunkte durchgehen, die Lilja gefunden hatte, und würden es hoffentlich auch schaffen, die Dänen so weit in den Fall einzuweihen, dass sie mit ihrer Hilfe eine Überwachung des Zoos, des Tivolis und einiger anderer infrage kommender Orte zustande brachten.
Als er von der alten Achterbahn plötzlich Schreie hörte, drehte er sich um, aber eine Reihe von T-Shirt-Ständen versperrte ihm die Sicht. Die Schreie an sich hatten ihn nicht stutzig gemacht, sie waren nicht ungewöhnlich. Aber hier war nicht vor Aufregung geschrien worden, sondern aus nackter Angst.
Hastig drängte er sich durch die Menschenmenge zurück zur Achterbahn und stieg die Treppe zu der Plattform hoch, an der die Züge normalerweise hielten, um die Fahrgäste aussteigen zu lassen. Diesmal raste der Zug weiter und krachte direkt in denjenigen, in den gerade Besucher einstiegen.
Im selben Moment verwandelte sich der Ort, an dem er sich befand, in ein infernalisches Durcheinander aus schreienden und laut heulenden Menschen. Einige hinkten, andere griffen sich ans Genick, und manche bluteten. Schwer verletzt schien jedoch niemand außer einem Mann zu sein, der allem Anschein nach leblos zwischen den zwei Waggons des mit viel zu hoher Geschwindigkeit angerasten Zuges lag.
Hinter ihm brüllte ein Wächter, alle sollten unverzüglich die Plattform verlassen, aber Fabian pfiff auf die Anweisung und drängelte sich zu dem leblosen Mann in der rot-grünen Arbeitskleidung des Tivolis durch. Seine Aufgabe war es, die alten Züge von Hand zu bremsen, aber aus irgendeinem Grund hatte er das Bewusstsein verloren.
Während er nach dem Puls des Mannes tastete, hörte er mehrere Stimmen berichten, der Zug sei über eine Minute in einem dunklen Tunnel stehen geblieben und dann in hohem Tempo weitergerast. Er fühlte weder Pulsschlag noch Atmung. Eine weitere Stimme erzählte, der Mann, der den Zug gefahren habe, hätte nach dem Tunnel zusammengesunken auf seinem Stuhl gesessen und sei bei der nächsten Steilfahrt heruntergekippt. Der Mann war ohne Zweifel tot. Aber wieso? Es war keine Schuss- oder Schnittwunde zu sehen. Konnte er an einer Hirnblutung oder einem Herzinfarkt gestorben sein?
Erst als er das Kinn des Mannes anhob und die dunklen Würgemale des Seils sah, wurde ihm alles klar.
Milwokh war hier.
Er musste eine Drei gewürfelt haben.
Fabian stand auf und beobachtete den Tumult, der ausgebrochen war. Die Gefahr, dass Milwokh sich zwischen den geschockten Fahrgästen und den Tivoli-Mitarbeitern befand, die sich bemühten, die Lage unter Kontrolle zu bekommen, war groß. Vielleicht hatte er sich unter die Menschenmenge gemischt und ließ sich mit den anderen vom Unglücksort wegführen. Sehen konnte er ihn allerdings nicht. Weder hier oben auf der Plattform noch unten im Gedränge, dem sich immer mehr Schaulustige anschlossen.
Ohne den Blick von einem Mann um die fünfzig abzuwenden, der scheinbar desinteressiert an dem Unfall und der ganzen Aufregung vorüberspazierte, zog er das Handy aus der Tasche und rief Tuvesson an.
»Hallo, Fabian, wie läuft’s bei dir?« , hörte er Tuvesson am anderen Ende sagen, als der Mann mitten in der Bewegung zu Boden fiel. Er sah aus, als ob er nach einem Bier zu viel gestolpert wäre. Das Problem war nur, dass er nicht den Versuch unternahm, wieder auf die Beine zu kommen.
»Er ist hier, Astrid, und es ist bereits in vollem Gange.« Fabian klickte das Gespräch weg, während er auf den Mann zuging, auf den sich nun auch die neugierigen Blicke der Allgemeinheit richteten.
»I think he’s dead «, sagte eine Frau, nachdem sie vergeblich versucht hatte, den Puls des Mannes zu fühlen.
Fabian nickte und hob sicherheitshalber das Kinn des Mannes, um sich dessen Hals anzusehen. Aber Würgemale entdeckte er diesmal nicht.
Dann fiel ihm ein kleines Loch in dem dunkelroten Pullover des Mannes auf. Als er es näher untersuchte, merkte er, dass der Pulli klitschnass war. Er drehte seine Handfläche um, sie war blutrot.
»Oh, my God, he’s been shot« , rief die Frau aus, nachdem sie dem Mann den Pullover hochgeschoben und das ausgefranste Austrittsloch in seiner Brust angestarrt hatte, aus dem immer noch Blut strömte.
»Yes, so everyone, please move away!« , rief er, während er den Mann auf den Bauch rollte und die sehr viel kleinere Eintrittsstelle des Geschosses unterhalb des rechten Schulterblatts betrachtete. »The best you can do is leave the park as quick as possible.«
Der Schuss war also von schräg oben abgegeben worden.
Fabian drehte sich zu der alten Achterbahn um. Auf der Spitze der Alpenattrappe hockte eine dunkle Gestalt.