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In der Tiefgarage der Kopenhagener Polizei verriegelte Kim Sleizner das Auto und rannte vor den vielen Martinshörnern davon. Vor den Staus, die ihn auf seinem Weg von Amager bis zum Hauptgebäude in der City über vierzig Minuten
gekostet hatten. Vor dem Chaos und der Verwirrung. Doch es gelang ihm nicht.
Sogar im Fahrstuhl, wo sonst die Stille eines Vakuums herrschte, hörte man das Heulen der Polizei- und Krankenwagen. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie einen so großen Fuhrpark hatten. Dabei war er der Erste gewesen, der sich über die unzureichende Ausstattung der Polizei beklagt hatte.
Was genau passiert war, wusste er nicht, weil er nicht gewagt hatte, das Handy einzuschalten. Die einzigen Informationen, die er besaß, hatte ihm das Autoradio auf der Fahrt von Dunjas kleinem Unterschlupf bis hierher vermittelt. Es war von einem Terrorangriff mit mehreren Toten und Verletzten im Tivoli die Rede gewesen.
Das war natürlich furchtbar. Noch schlimmer war jedoch, dass die Schweden wieder einmal recht behalten hatten. Wenn zudem herauskam, dass sie die dänische Polizei gewarnt, diese aber die Kooperation verweigert hatte, sah es nicht gut für sie aus. Er hatte schon einmal wegen Dunja unter Beschuss gestanden. Beim nächsten Mal würde es nicht so einfach sein, sich herauszuwinden.
Dass sich der Vorfall zu allem Überfluss in dem Moment ereignete, da sich sein Handy als gehackt erwies, war einfach zu viel für ihn. Wie viele Telefonate hatte die kleine Fotze abgehört? Wie viele SMS hatten sie und ihre beiden Missgeburten gelesen? Hatten sie auch seine Mails gelesen und ihn geortet, sobald er einen Fuß in den Klub gesetzt hatte? Oder hatten sie mithilfe des Mikrofons auch normale Gespräche belauscht? Und was war mit der Kameralinse? Nicht auszudenken, was sie damit hätte anstellen können.
Ihm flog auf allen Ebenen die Scheiße um die Ohren, als hätte der Teufel persönlich seine Finger im Spiel. Aus irgendeinem
Grund schien es plötzlich die ganze Welt auf ihn abgesehen zu haben.
Der einzige Lichtblick war Hesk. Mit ihm hatten die Schweden gesprochen. Er war unkooperativ gewesen. Er hatte Risk Steine in den Weg gelegt, anstatt die Bedrohung ernst zu nehmen und der allgemeinen Sicherheit den Vorrang zu geben. Offenbar hatte er vollkommen aus den Augen verloren, warum er irgendwann mal Polizist geworden war.
»Da bist du ja«, hörte er Morten Heinesens gereizte Stimme, noch bevor sich die Fahrstuhltüren vollständig geöffnet hatten. »Wir versuchen die ganze Zeit, dich zu erreichen …«
»Ich weiß«, fiel Sleizner ihm ins Wort. »Ich hatte aber keine andere Wahl, als es ausgeschaltet zu lassen. Es ist nämlich gehackt worden.«
»Was sagst du da? Gehackt?« Heinesen eilte hinter Sleizner her. »Glaubst du, es könnte was mit den Vorfällen im Tivoli zu tun haben?«
»Durchaus möglich«, log er und hastete ins Großraumbüro, wo mehrere Telefone klingelten und alle durcheinanderredeten. »Und deswegen brauche ich deins.« Sleizner streckte die Hand aus.
»Wie, du meinst mein Handy?«
»Richtig geraten. Mach schon.« Er winkte ungeduldig, bis Heinesen ihm schließlich sein Telefon aushändigte. »Und das Kennwort?«
»3287«, sagte Heinesen. »Für wie lange denn? Ich brauche es …«
»Nur ein Stündchen. Keine Sorge«, unterbrach ihn Sleizner. »Erzähl mir erst mal, was los ist.«
»Äh, ja, das Problem ist, wir wissen es nicht genau.« Heinesen folgte Sleizner durch einen Flur. »Es deutet einiges auf eine Art
Terrorangriff hin, aber dieser Anschlag hat keinerlei Ähnlichkeit mit allen bisherigen.«
»Wie meinst du das?«
»Der Täter scheint sich nicht wie ein Terrorist zu verhalten. Er ist nicht mit einem Maschinengewehr auf eine Menschenmenge losgestürmt und hat innerhalb von kürzester Zeit so viele Leute wie möglich getötet, wofür wir natürlich überaus dankbar sind. Stattdessen hat er verschiedene Methoden angewandt. Einige seiner Opfer hat er erstochen und andere mit einer Armbrust erschossen. Ein Mann soll sogar erwürgt worden sein.«
»Und die Opferzahl?«
»Neun Tote und fünf Verletzte.«
Wenigstens nicht zweistellig. »Hoffen wir, dass es so bleibt.«
»Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.« Heinesen bemühte sich, mit Sleizner Schritt zu halten. »Laut der jüngsten Angaben sieht es jedoch für zwei der Verletzten nicht gut aus. Außerdem haben sich vier Personen gemeldet, die angeblich von jemandem gestochen wurden.«
»Gestochen?« Sleizner blieb stehen und drehte sich zu Heinesen um. »Was soll das heißen?«
Heinesen zuckte mit den Schultern.
»Tja, unter solchen Umständen werden die Leute eben paranoid.« Sleizner ging weiter. »Wart’s ab, bald rufen sie an, weil sie befürchten, der Mörder wäre schuld an den Blasen an ihren Füßen. Sei’s drum. Was machen wir denn jetzt, um die Opferzahl zu minimieren und den Kerl so schnell wie möglich festzunehmen? Und wie geht es eigentlich mit der Evakuierung voran?«
»Schleppend. Die Besucherzahl lag heute bei über zwanzigtausend, und die müssen alle abgetastet und kontrolliert werden. Gleichzeitig besteht permanent die Gefahr, dass eine
Massenpanik ausbricht. Aber wir sorgen bereits mit voller Kraft für …«
»Chaos?«, unterbrach ihn Sleizner. »Das ist nämlich das Einzige, was ich hier sehe.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Bürotüren. »Die Kollegen sind doch alle völlig kopf- und führungslos.«
»Nein, also, ich glaube, die meisten wissen wirklich, was sie tun«, sagte Heinesen. »Wir stehen natürlich unter Druck, aber …«
»Sei so nett und unterbrich mich nicht noch einmal.« Vor der geschlossenen Tür der IT-Abteilung blieb Sleizner stehen. »Veranlasse lieber sofort eine Sperrung von H. C. Andersen Boulevard, Vesterbrogade, Bernstorffsgade und …«
»Tietgensgade«, vervollständigte Heinesen seinen Satz und fing sich einen bösen Blick ein. »Entschuldige, aber wir sind bereits dabei, die Straßen rund um den Tivoli abzusperren, um die Besucher schneller aus der Kernzone herauszubekommen und sie erst an Außenposten zu kontrollieren.«
»Ach ja? Und wer hat das angeordnet?«
»Hesk.«
»Ach, sieh mal einer an.« Das Arschloch hatte es sich also nicht verkneifen können, das Kommando zu übernehmen. »Gut. Wenigstens passiert was. Und die Spezialeinheiten?«
»Zwei sind schon auf dem Gelände, und weitere vier sind auf dem Weg dorthin, wobei zwei davon …«
Sleizner hob abwehrend die Hand und öffnete, ohne anzuklopfen, die Tür der IT-Abteilung. Er hatte keine Lust, sich noch länger anzuhören, was Hesk in die Wege geleitet hatte. Kaum war er mal ein paar Stunden weg, wurde diese schleimige Amöbe größenwahnsinnig.
An einem Schreibtisch am anderen Ende des
Raums saß Michael Rønning und telefonierte. »Du, ich ruf dich später zurück.« Er sah Sleizner an.
»Private Gespräche während der Arbeitszeit.« Sleizner ging in den Raum hinein. »Gar nicht gut.« Er begann, sorgfältig seine Nägel zu reinigen. »Gar nicht gut. Vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass wir soeben Opfer eines Terrorangriffs geworden sind. Oder was meinst du, Morten?« Er drehte sich zu Heinesen um, der nicht zu wissen schien, was er sagen sollte.
»Das war gar kein privates Gespräch.« Rønning stand auf. »Ich habe mit …«
»Ganz ruhig.« Sleizner lachte laut. »Schon mal was von Humor gehört? Sie wissen schon, ha, ha, ha.« Er blickte zwischen Rønning und Heinesen hin und her, erntete aber noch nicht mal ein Lächeln. »Okay, vergessen Sie’s. In erster Linie bin ich hier, um mich zu entschuldigen, weil ich mich so hartnäckig geweigert habe, mein Handy abzugeben.« Er grinste breit. »Als reuiger Sünder stehe ich vor Ihnen. Es wäre toll, wenn Sie dieses Sicherheitsupdate so schnell wie möglich installieren könnten.«
»Sie werden sich vielleicht noch erinnern, dass ich mir dafür gestern den ganzen Nachmittag freigehalten hatte, und jetzt habe ich auch aufgrund der Vorfälle im Tivoli alle Hände voll zu tun.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie ein wenig umdisponieren. Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Ich werde schauen, was ich machen kann. Legen Sie mir das Handy und das Kennwort auf den Tisch.«
»Ich gebe Ihnen zwei Stunden. Dann komme ich wieder und erwarte, dass Sie fertig sind.«
»Rechnen Sie mit einer Enttäuschung. Vor heute Abend werde ich nicht damit anfangen können, und deswegen
hat es gar keinen Sinn, hier vor dem ersten Kaffee morgen früh anmarschiert zu kommen.«
Schnaubend legte Sleizner das Handy auf den Tisch und ging zur Tür.
»Das Kennwort fehlt noch.« Rønning griff wieder zum Hörer.
Mit zusammengebissenen Zähnen machte Sleizner auf dem Absatz kehrt und kritzelte den Code auf einen Zettel, bevor er mit Heinesen im Schlepptau hinausrauschte.
»Du, Kim«, sagte Heinesen. »Ich glaube nicht, dass ich auf mein Handy verzichten kann, bis …«
»Eins noch, bevor ich es vergesse.« Sleizner blieb stehen und sah Heinesen in die Augen. »Dieser Schwede. Rusk, oder wie er hieß …«
»Du meinst Fabian Risk?«
»Ja, genau. Hat der seine hässliche Visage schon präsentiert?«
»Das besprichst du am besten mit Hesk. Er ist ja vor Ort und …«
»Ich spreche aber gerade mit dir.« Sleizner grinste. »Hesk hat im Moment andere Sorgen. Und deswegen bitte ich dich, Rask im Auge zu behalten. Wenn ich den Mann richtig einschätze, wird er nämlich alles tun, um den Täter persönlich festzunehmen und sich ins Rampenlicht zu stellen. Das darf aber unter keinen Umständen passieren, kapiert? Hier in Dänemark halten wir uns an die Regeln. Nur damit das klar ist.« Er klopfte Heinesen auf die Schulter. »Festnahmen machen wir hier selbst.«
»Und was heißt das?« Heinesen schluckte. »Ich meine, falls sich herausstellen sollte, dass er tatsächlich dort gewesen ist und …«
»Ich glaube, du hast schon verstanden, was ich meine.«