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Es war ein Schuss zu hören, weit entfernt, aber laut genug, um Fabian zu wecken. Er versuchte, die zugeschwollenen Augen zu öffnen. Er begriff sofort, dass das Klackern von dem Würfel in der abgesägten Plastikflasche herrührte, die sich Milwokh ans linke Handgelenk gebunden hatte.
Sehen konnte er jedoch nichts. Abgesehen vom verschwommenen Changieren des Lichts. Schmerz pochte in seinem ganzen Körper, vor allem im Gesicht und in der Hüfte. Sein Körper schien die Verletzungen akzeptiert zu haben und nicht mehr panisch herumzuschreien, sondern zum Heilungsprozess überzugehen.
Er lag auf der Seite, so viel war ihm klar, und seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Schräg über ihm war es sehr viel heller, was darauf hindeutete, dass er sich noch immer in dem Saal mit dem kuppelförmigen Oberlicht befand. Ein Stück entfernt erahnte er die Silhouette von Milwokh, der mit dem Gewehr zielte, woraufhin noch ein Schuss ertönte.
»Warum?« Im Versuch, einen Teil des geronnenen Bluts loszuwerden, rieb er seine Augen an der Schulter. »Warum machen Sie weiter?« Der Schmerz schoss durch den Körper und machte ihm klar, wie schwer die Verletzung seines angeschwollenen Gesichts war, aber zumindest konnte er wieder etwas sehen.
»Das dürfen Sie mich nicht fragen.« Milwokh, der nun eine schwarze Kappe über der langhaarigen Perücke trug, drehte sich zu ihm um und schüttelte das linke Handgelenk.
»Der Würfel, ich weiß. Eine Eins, und es ist vorbei. Aber wenn nun keine Eins kommt.«
»Dann mache ich weiter. Was soll ich sonst tun?
«
»Aufhören. Haben Sie nicht schon genug Schaden angerichtet?«
»Offensichtlich nicht.« Milwokh kam zu Fabian herüber, hockte sich neben ihn und hielt ihm seinen Arm hin, damit auch er den Würfel in der Plastikhülle umherspringen sah. »Mal sehen, was er sagt. Vielleicht hat er ja genug.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist er aber auch hungriger als je zuvor.« Er hörte auf zu schütteln und hielt den Arm ganz still.
Eine Vier – Wechsle die Farbe des Opfers.
»Sieh mal einer an. Ist das nicht eine Vier?« Milwokh schüttelte sein Handgelenk erneut. »Schauen wir mal, ob Ihre Glückssträhne anhält.«
Er trug eine blaue Jeans, so viel wusste er. Die Unterhose war gelb-grün gestreift. Drei Farben, die den Ziffern Drei, Vier und Fünf entsprachen. Die Chancen standen also fifty-fifty. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Wieso möchten Sie weiterhin ein Sklave des Zufalls sein?«
Milwokh hielt Fabian den Gewehrlauf an die Stirn, ohne mit dem Schütteln aufzuhören. »Schon mal über Ihr eigenes Verhältnis zum Zufall nachgedacht? Von uns beiden sind Sie doch derjenige, der am meisten auf ihn hört. Oder etwa nicht?«
»Ich habe zumindest einen freien Willen. Das können Sie nicht gerade von sich behaupten.«
»Freier Wille?« Milwokh lachte verächtlich. »Ihr sogenannter freier Wille ist nur eine Illusion. Wie die meisten Menschen sind Sie doch nur ein Algorithmus mit einem Sprung, der einer Schellackplatte würdig wäre. Ich wette, Sie wären jetzt viel lieber zu Hause bei Ihrer Familie, als hier mit Ihrer kaputten Visage und dem Gewehr an der Stirn auf dem Boden zu liegen. Ihr Algorithmus ist allerdings so programmiert, dass Sie mich um jeden Preis dingfest machen wollen. Und daher befinden Sie sich hier,
wo Ihr Leben von einem Würfel abhängt, obwohl Ihr freier Wille viel lieber gemütlich auf dem Sofa sitzen und vom Terroranschlag im Tivoli aus der Zeitung erfahren würde.«
»Es stimmt, dass ich derjenige bin, der gefesselt hier liegt und mit dem Tod bedroht wird. Aber von uns beiden bin nicht ich das Opfer, sondern Sie. Merken Sie das nicht? Dass Sie krank sind? Sie haben gar nichts zu sagen. Sie können keine einzige Entscheidung fällen, ohne den Würfel um Erlaubnis zu bitten. Wie ein Kleinkind, das um Süßigkeiten bettelt.«
Wortlos hörte Milwokh auf zu schütteln und hielt Fabian den Arm hin.
Eine Zwei – Orange.
»Sie sollten ins Casino gehen. Bei Ihrem Glück könnten Sie dort reich werden.« Milwokh stand auf, trat ans Fenster und scannte durch das Visier die Umgebung. Kurz darauf fiel ein von Schreien gefolgter Schuss.
»Sie und ich und alle anderen sind Opfer des Zufalls, ob wir wollen oder nicht«, fuhr Milwokh fort und schüttelte wieder das linke Handgelenk. »Er ist überall, die ganze Zeit. Wir könnten von einer Sekunde auf die andere vom Bus überfahren werden. Ein Flugzeug könnte auf dieses Gebäude stürzen, bevor ich meinen Satz beendet habe. Wenn man richtig Glück hat, bekommt man eine Kugel in die Brust, nur weil man zufällig eine orangefarbene Kappe trägt.«
»Das eine sind tragische Unglücksfälle. Das andere ist Mord.« Mühsam setzte sich Fabian trotz seiner hinter dem Rücken gefesselten Hände auf. »Sie können es auf den Zufall und Ihre verdammten Würfel schieben, solange Sie wollen, aber letztendlich ist das, was Sie tun, Mord und nichts anderes.«
Milwokh kam zurück und ging vor ihm in die Hocke. Der Würfel tanzte in seiner Hülle. »
Vor einer Weile haben Sie noch behauptet, ich wäre ein Sklave des Zufalls. Ich könnte keine eigenen Entscheidungen treffen, der Würfel würde mit mir spielen wie mit einer Marionette. In Wahrheit sind Sie ein Sklave des Zufalls. Genau wie alle anderen. Es weiß nur keiner. Alle glauben, sie hätten ihr Leben unter Kontrolle und hielten die Fäden in der Hand. Sie würden freiwillig morgens früh aufstehen, gerne in ihren Blechkisten hocken und in ihre beigefarbenen Großraumbüros fahren, wo sie Berichte verfassen, die sowieso kein Arsch liest. Die vorprogrammierten Algorithmen sorgen zuverlässig dafür, dass sich alle wie süße kleine Goldfische im Kreis drehen.«
Milwokh schüttelte das linke Handgelenk immer kräftiger, und der Würfel knallte jetzt so fest gegen die Plastikwände, dass die Flasche zu bersten drohte. »Doch eines schönen Tages stellt sich heraus, dass Ihr Chef – nehmen wir mal an, Sie arbeiten in einer Bank – sich intensiver mit den frisch operierten Brüsten seiner Geliebten als mit Ihren vielen Berichten über mutmaßliche Geldwäscherei beschäftigt hat. Das Ganze fliegt auf, es gibt einen Skandal, die Aktienkurse halbieren sich, der Bank laufen die Kunden davon, und Sie fliegen raus. Bedauerlicherweise sind Sie zufällig in einem Alter, in dem Sie entweder überqualifiziert oder zu alt sind. Ein paar Jahre später hat Ihre Frau genug von Ihnen, und nach der Scheidung und den abbezahlten Krediten können Sie sich nur noch eine kleine Zweizimmerwohnung in einem trostlosen Mietshaus am Stadtrand leisten. Und dann sitzen Sie da und fragen sich, wie es dazu kommen konnte. Obwohl Sie Ihr Leben doch unter Kontrolle hatten. Und ganz genau wussten, was Sie wollten.«
Er schüttelte sein Handgelenk, als würde er nicht mehr aufhören können. »Ich dagegen habe den Zufall unter Kontrolle. Im Gegensatz zu allen anderen ist es mir gelungen,
ihn zu zähmen und auf sechs verschiedene Seiten zu reduzieren. Sechs Möglichkeiten, die ich alle selbst erschaffen habe.«
Fabian musste ihm zustimmen. In gewisser Weise war es richtig. »Sie haben recht.« Er nickte. »Dann denken wir den Gedanken doch zu Ende und übernehmen die Kontrolle über das weitere Vorgehen. Sie und ich gemeinsam. Lassen Sie uns das tun. Wir überlegen uns verschiedene Möglichkeiten, und dann soll der Würfel entscheiden.«
Milwokh sagte nichts, aber sein Blick verriet ihn. Im Geist ging er seine Optionen durch.
»Ich sehe, dass Sie den Gedanken verlockend finden«, fuhr Fabian fort. »Aber vielleicht trauen Sie sich nicht. Vielleicht haben Sie einfach zu viel Angst.«
»Wovor denn Angst?«
»Vor dem Ergebnis. Vor dem, was der Würfel sagt. Wobei mich das wundern würde. Wäre das nicht ein bisschen würdelos? Nach allem, was passiert ist, nach allem, was Sie getan haben, wagen Sie es nicht, dem Würfel diese winzige Entscheidung zu überlassen?«
»Glauben Sie, ich merke nicht, was Sie bezwecken?« Milwokh schüttelte das Handgelenk nun noch kräftiger. Als könnte er sich auf diese Weise gegen Fabians Attacken zur Wehr setzen. »Denken Sie, ich kapiere das nicht? Aber Sie haben hier nicht das Sagen! Sie haben hier gar nichts zu entscheiden.«
»Nein, und Sie auch nicht. Sondern der Würfel. Sollten wir ihn daher nicht wenigstens nach seiner Meinung fragen?« Fabian zwang sich zu einem Lächeln. »Haben Sie nicht vor einer Weile genau das Gleiche gesagt? Wie war es noch mal? Eine Eins, Zwei oder Drei, mehr brauche ich nicht.«
Milwokh verzog keine Miene, hörte aber abrupt auf zu schütteln
.
Eine Drei.
»Sieh an, er hat Ja gesagt. Der Würfel findet die Idee gut«, fuhr Fabian fort. »Eine Eins, und Sie haben gewonnen.« Der Vorschlag war nicht durchdacht, und erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sein Leben soeben von einer Zahl abhängig gemacht hatte. Einfach so. Warum er ausgerechnet die Eins genannt hatte, wusste er nicht. Aber es spielte auch keine Rolle. Es war ohnehin zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
»Und Zwei bis Sechs?«, fragte Milwokh. »Was passiert dann?«
»Sie geben freiwillig auf, lassen sich von mir verhaften und büßen Ihre Strafe ab.«
Milwokh lachte laut auf und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht derjenige mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Ich bin nicht in einer verzweifelten Lage und muss um mein Leben kämpfen. Ich kann einfach aufstehen und gehen.«
»Erst wenn der Würfel Ihnen die Erlaubnis gegeben und befohlen hat, die Position zu wechseln. Bis dahin bleiben Sie hier und hören sich an, was er uns beiden zu sagen hat.«
»Bei einer Sechs gebe ich auf und lasse mich festnehmen.« Milwokh sah Fabian in die Augen. »Eine Eins, Zwei, Drei, Vier oder Fünf, und bei Ihnen fällt der Vorhang.«
»Ihr Vorschlag gegen meinen«, sagte Fabian. »Dann gibt es wohl nur eine Lösung: Wir lassen den Würfel entscheiden. Eins, Zwei oder Drei, und mein Vorschlag hat gewonnen.«
Milwokh überlegte nicht lange. Das Geräusch, mit dem der Würfel gegen das Plastik stieß, war die ganze Zeit laut gewesen, aber jetzt wurde es penetrant. Als wäre jedes einzelne Klacken ein Schritt auf dem Weg in Richtung Ende. Als er zur Ruhe kam, wagte Fabian kaum hinzuschauen
.
Eine Fünf.
»Sorry.« Milwokh deutete ein Lächeln an. »Dachten Sie wirklich, er wäre auf Ihrer Seite?«
Fabian wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Jeder Muskel seines Körpers war kurz davor, den Dienst zu versagen, und er sackte in sich zusammen, als wollte sich sein Körper bereits auf das vorbereiten, was ihn erwartete. Er hatte alles versucht. Buchstäblich alles. Trotzdem sollte es offenbar so enden. Mit einem Würfel, der auf jeder Zahl außer der Sechs landen konnte, um sein Ende zu besiegeln.
Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Gehirnmasse an die Wand hinter ihm klatschen würde, während der Mörder noch immer frei herumlief, war fünfmal so hoch. Ein Mörder, der irgendwo anders mit seinem Würfelspiel weitermachen würde, während vollkommen andere Polizisten vergeblich nach einem Motiv suchten.
Er hörte Milwokh erneut den Würfel schütteln, mochte aber nicht mehr hinschauen und hielt die Augen deshalb geschlossen. Wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er sich auch die Ohren zugehalten, um das aggressive Klackern nicht mit anhören zu müssen, das immer tiefer in sein Inneres drang.
Insgeheim war ihm der Gedanke, im Dienst zu sterben, sogar vertraut, auch wenn er sich in schlaflosen Nächten nie den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie genau es passieren könnte. Ganz bestimmt wäre er nicht auf die Idee gekommen, dass er eines Tages gefesselt und grün und blau geschlagen daliegen und darauf warten würde, dass ein Würfel über sein Schicksal entschied.
Doch eigentlich war es typisch. Alles, wofür er gekämpft, und alles, was er durchgemacht hatte, würde mit einer Enttäuschung enden. Doch wofür hatte er schon gekämpft? Im Nachhinein, auf dem Sterbebett, konnte er es nicht einmal genau sagen.
Vielleicht war es wirklich so, wie Milwokh sagte. Vielleicht war er nur ein Algorithmus, der sich selbst wiederholte, bis das Ganze vorbei war. Bis der Akku leer war.
Ein neuer Mordfall, mehr war nicht nötig, damit er alles stehen und liegen ließ und wie ein sabbernder Hund bei einem Hunderennen dem weißen Stück Stoff hinterherhechelte. Familie, Freunde, falls er überhaupt welche hatte, und alles andere, was ihm wirklich etwas bedeutete, waren nie gegen die Aussicht angekommen, einen weiteren Fall zu lösen.
Und deshalb war es vielleicht gut, dass jetzt Schluss war. Wenn zudem diese Greta, mit der Matilda in Verbindung stand, recht hatte, dann war es das Beste, wenn er und niemand anders aus der Familie ging. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, nach all dem Schmerz, den sie durchlittenn und all den Schwierigkeiten, die sie durchlebt hatten, ließ sich unterm Strich nicht von der Hand weisen, dass er das Problem und die Wurzel allen Übels war.
Wenn er nicht gewesen wäre, hätte alles anders ausgesehen. Er hatte die anderen im Stich gelassen. Wenn Sonja, Theodor und Matilda jemanden gehabt hätten, der anwesend gewesen wäre, und zwar nicht nur in Gedanken, sondern auch körperlich, dann wäre alles sehr viel besser für sie gelaufen.
Das Problem war nur, dass er noch nicht bereit war, Schluss zu machen. Noch nicht. In einem Winkel seines Innern war er überzeugt, dass er noch mehr zu geben hatte. Er war nicht einmal dazu gekommen, sich zu verabschieden. Von Matilda. Von Theodor, der darauf zählte, dass er für ihn da war, wenn der Prozess wieder aufgenommen wurde. Von Sonja, die ihn heute Abend auf ihrer Vernissage erwartete. Es war ihr wichtig, dass er kam, hatte sie geschrieben, und sein Tod wäre nur eine weitere
Enttäuschung.
Wenn er noch eine Chance bekam, würde er alles tun, wirklich alles. Vielleicht sollte er umsatteln. Den Polizeidienst an den Nagel hängen und etwas ganz anderes machen. Was auch immer es für einen Sinn hatte, in diesem Moment darüber nachzudenken. Was hatte überhaupt noch einen Sinn, wenn …
Plötzlich merkte er, dass es still geworden war. Das Klackern hatte aufgehört. Wie lange schon, wusste er nicht. Er wusste nur, dass der Würfel jetzt dalag und sein Ergebnis präsentierte. Sein Urteil.
»Wollen Sie nicht nachschauen, was herausgekommen ist?«, fragte Milwokh in einer Tonlage, die keine Rückschlüsse zuließ.
»Tun Sie einfach, was Sie tun müssen, damit wir es hinter uns haben.« Dann öffnete er die Augen.