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Sonja hatte gehofft, Fabian würde als einer der Ersten durch die geöffneten Türen in die Ausstellungshalle kommen. Er würde diskret in einer Ecke warten und sie ihre Arbeit tun lassen, gleichzeitig aber jederzeit bereit sein, einzugreifen, falls etwas schiefgehen und jemand eine Grenze überschreiten würde.
Sie hatte sich so sehr gewünscht, er hätte diesmal wirklich zugehört und ihre Worte ernst genommen. Sie hatte doch ausdrücklich gesagt, wie sehr sie ihn brauchte. Wie wichtig es war, dass er diesmal dabei war.
Unter den ersten Gästen war er nicht gewesen. Er stand in keiner Ecke, um zu warten, dass sie anfing. Er war nicht einmal da.
Es gab mit Sicherheit einen Grund. Den gab es immer. Aber heute Abend war ihr der Grund egal. So nachvollziehbar und glaubwürdig er auch sein mochte, heute Abend hätte sie ihren Mann gebraucht.
Die Embryonalstellung, in der sie auf dem Boden lag, verstärkte ihre Verletzlichkeit noch. Sie musste es den Besuchern
selbst überlassen, sich im Raum zu positionieren. Ein Handbuch gab es nicht. Keine Anleitungen. Die Leute wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Genau wie sie.
Es waren mehr gekommen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Viel mehr. Wie viele Leute es genau waren, ließ sich schwer einschätzen, aber es waren bestimmt an die hundert, wenn nicht mehr. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongerannt. Geflüchtet. Wohin, wusste sie nicht, einfach so weit weg wie möglich.
Gerade deshalb war es so wichtig, dass sie liegen blieb. Dass sie nicht aufgab, sondern durch das Fegefeuer hindurchging. Wenn sie es nicht schaffte, würde sie niemals auf die andere Seite gelangen. Dann würde sie für immer in dem Gefühl gefangen sein, das sie seit Monaten mit sich herumschleppte. Das Gefühl, untätig dazustehen und auf das Ende zu warten, aber nicht zu wissen, ob es vielleicht schon gekommen war.
Sie hatte es in der vergangenen Woche gespürt, und sie spürte es jetzt, und zwar stärker als je zuvor. Das hier machte sie nicht für die Zuschauer, sondern für sich selbst. Es war ihr Weg zurück zur Kunst.
Vielleicht befanden sie sich in einem Kulturhaus, und vielleicht stand in der Ankündigung, es handle sich um eine Performance und eine Ausstellung, aber das stimmte nicht. Diese Aktion hier stand nur für sich selbst und diente ihrem Überleben. Es war der Versuch, das Gefühl wiederzufinden, dass noch etwas kommen würde. Dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Die Zuschauer waren Statisten, die sich durch ihre Blicke beteiligten und zu Zeugen wurden.
Ohne sie wäre es nichts wert. Ohne sie würde das, was passieren sollte, niemals passieren.
Dann schlossen sich die Türen. Das entfernte Gemurmel draußen verstummte, und die Geräusche wurden
intimer. Nach einer Minute war die Spannung buchstäblich mit Händen zu greifen. Der Raum vibrierte. Oder zitterte sie nur?
Obwohl es jetzt vollkommen still war, zwang sie sich, noch länger zu warten. Sie konnte das, was sie vorhatte, nicht einfach erzwingen, um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Bleib im Schmerz, wiederholte sie im Innern. Halt ihn aus.
Dann richtete sie sich langsam auf, erst in eine sitzende Position, dann kniete sie sich genauso langsam hin. Schließlich stand sie auf und ließ sie Arme seitlich am kerzengeraden Körper herabhängen. Die Stille war nun so dicht, als würde jedes Molekül die Luft anhalten.
Sie erwiderte den Blick eines Mannes, bis er wegsah. Es ging schnell. Zu schnell. Diesmal suchte sie sich eine Frau aus. Sie war besser darin, ihrem Blick standzuhalten, aber zum Schluss gab auch sie sich geschlagen und wich ihr aus.
Die nächste Person wählte sie mit mehr Bedacht. Minutenlang ging sie herum und studierte die Zuschauer. Jeder hatte einen anderen Stil, eine andere Körperform und eine andere Persönlichkeit. Jemand verströmte einen intensiven Geruch, eine andere Person saß im Rollstuhl, und eine Frau lächelte seltsam.
Der Mann, für den sie sich schließlich entschied, war in ihrem Alter, vielleicht etwas jünger, sah durchtrainiert aus und hatte feine, klare Gesichtszüge. Sie ahnte, dass er mutig war und sich nicht in sein Schneckenhaus zurückziehen würde. Daher ließ sie eine ganz Weile vergehen, während sie sich gegenseitig musterten, und als sie von seiner Ebenbürtigkeit überzeugt war, knöpfte sie sich Stück für Stück die Bluse auf.
Sie war sich sicher gewesen, dass ihre Hände zittern würden, aber das taten sie nicht. Erst als die Bluse offen war, wendete er den Blick ab, und sie konnte rückwärts wieder in die Mitte gehen und die Bluse dort fallen lassen
.
Sie blickte hinunter auf ihre Brüste und den roten Spitzen-BH, den Fabian ihr vor einigen Jahren zusammen mit einem passenden Slip zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie war wütend geworden, weil sie das Geschenk sexistisch und chauvinistisch fand.
Als sie die Affäre hatte, zog sie die Dessous zum ersten Mal an. Und jetzt. Eigentlich hatte sie sie verbrennen wollen, als hätte es sie nie gegeben. Doch nun trug sie BH und Slip, und die rote Farbe leuchtete.
Sie entschied sich für die Frau eines etwas älteren kleinen Mannes, der sie mit seinen Blicken verschlang, ging zu ihr und wendete ihr den Rücken zu. Wieder wartete sie eine ganze Weile und hatte schon das Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit vergangen war, als die Frau sich endlich ein Herz fasste und ihr den BH aufhakte, woraufhin sie zurück in die Mitte gehen und ihn dort fallen lassen konnte.
So sah sie aus. Sie, die sich nicht einmal Fabian zeigte. Nun stand sie vor gut hundert Fremden und spürte, wie ihre Brustwarzen steif wurden. Ob es an der Atmosphäre oder am Deckenventilator lag, wusste sie nicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, aber sie fühlte sich stärker so.
Dann öffnete sie auch die weite Hose und ließ sie zu Boden fallen. Nur noch der Slip war übrig.
Schließlich zog sie auch ihn aus und blieb nackt und verletzlich stehen.
Was die Zuschauer dachten, konnte sie nur erahnen. Früher hatten nur sie gezählt. Die Meinungen hinter all diesen Blicken. Nun war es, als würden sie sich gegenseitig aufheben.
Bis auf einen.
Sie hatte ihn gesehen und schnell weggeschaut. Den Mann im Rollstuhl. Genauso feige wie alle anderen hatte sie ihren Blick schnell dem Nächsten zugewandt und war vor dem schmerzhaften
Anblick geflohen. Vor all den Wunden und Schwellungen. Erst jetzt wagte sie es, sich ihm auszusetzen. Jetzt, wo sie selbst nackt war und, genau wie er, nichts mehr zu verlieren hatte.
Was passiert war, wusste sie nicht. Sie hatte keine Ahnung, was er durchgestanden hatte, aber es musste furchtbar gewesen sein. Sie wusste nur, dass er wirklich zugehört hatte. Trotz allem, was auf ihm gelastet hatte, musste er sich jedes ihrer Worte zu Herzen genommen haben.
Denn da saß er, ihr Mann, und auf einmal wurde sie innerlich ganz ruhig.
Sie drehte sich zu der Holzkiste um und ging langsam darauf zu. Als sie direkt davorstand, wandte sie sich noch einmal den Zuschauern zu und wartete eine gute Minute ab, bevor sie in die Kiste stieg, sich darin ausstreckte und die Augen zumachte.
Als der Deckel auf die Kiste gelegt wurde, wachte sie auf. Sie hörte, wie die Leute nach den herumliegenden Schraubenziehern und Schrauben griffen und den Deckel festschraubten. Hin und wieder ließ jemand einen Schraubenzieher auf den Boden fallen, die Leute wechselten sich also offenbar ab.
Nachdem der Deckel fest verschraubt war, wurde es wieder still. Als ob den Leuten in diesem Moment bewusst geworden wäre, dass sie sich eben an ihrem Begräbnis beteiligt hatten. Dann schlief sie wieder ein. So kam es ihr zumindest vor. Sicher war sie sich nicht. Die Zeit schien zu kreisen.
Schließlich musste eine Person den Entschluss gefasst und mindestens eine andere überzeugt haben, vielleicht auch mehr. Ganz deutlich hörte sie, wie die vier Stahlseile, die von der Decke hingen, in die vier Haken an den Ecken der Kiste eingehängt wurden.
Anschließend wurde sie immer höher und immer weiter
weg von dem Grab gehievt, in das sie noch vor wenigen Wochen gesenkt worden war.