Das zweite Kapitel
in dem der Sebi das Roden schwänzt
Heute Abend werde ich verprügelt, das ist normal, denke ich, wenn man zwei ältere Brüder hat. Ich muss nur aufpassen, dass es der Geni ist, der mich erwischt, und nicht der Poli. Der Geni ist der Älteste von uns dreien, auch der Vernünftigste, bei ihm kann man sicher sein, dass er einem nicht einen Zahn aus dem Maul haut oder noch Schlimmeres; manchmal blinzelt er mir sogar zu, während er mich schlägt. Er kommt in seiner Art nach dem Vater, sagt unsere Mutter, der habe auch immer bei allem zuerst nachgedacht und dann erst die Sachen angefangen. Einmal hat mir der Geni ein Wasserrad geschnitzt, da hat er vorher ganz lang überlegt, wie er es machen muss, aber dann hat es sich wirklich gedreht im Bach. Wenn dagegen der Poli das Prügeln anfängt, dann sieht er rot, er hat es selber einmal so beschrieben, und hört mit Zuschlagen nicht auf, bis der andere sich nicht mehr rührt, und auch dann nicht immer. Für die anderen Buben im Dorf ist er deshalb ein Held; sie wollen sein wie er und machen alles, was er sagt, die einen aus Angst und die anderen aus Bewunderung. Am allermeisten bewundert ihn der Gisiger Hänsel, obwohl der Poli doch schuld ist an dem seinem Schwämmliohr. Wenn es zu einer Schlägerei kommt, im Dorf oder gegen die aus Sattel oder Ägeri, dann ist der Poli immer der Vorderste. Unsere Mutter hat schon mehr als einmal gesagt: Wenn sie ihn eines Tages tot nach Hause bringen, dann hat er noch Glück gehabt, weil wenn sie ihm die Knochen so kaputtschlagen, dass er nicht einmal mehr den Pflugsterz festhalten kann, dann wäre es besser für ihn, er hätte gleich das Viaticum bekommen. Der Poli lacht dann nur und sagt, er denke nicht daran, sein Leben lang als Ackerknecht den Rücken krumm zu machen, er gehe einmal zu den Soldaten, da könne man ein lustiges Leben führen, und wenn er dann ins Dorf zurückkomme, bringe er einen Sack Geld mit, und zwar nicht Batzen, sondern Dukaten. Sein Vorbild ist der Onkel Alisi, der jüngere Bruder unserer Mutter, der auch Soldat geworden ist und schon in vielen Ländern gekämpft hat. Als ich noch ganz klein war, ist er einmal für ein paar Tage ins Dorf zurückgekommen; die Leute reden heute noch davon, wie groß und stark er gewesen sei und dass er seine Batzen verstreut habe wie der Sämann das Korn. Ich selber kann mich nur erinnern, dass er mich in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hat. Nach Schweiß hat er gerochen und nach Branntwein, und mir hat er Angst gemacht. Dann ist er in den nächsten Krieg gezogen, und wir wissen nicht, ob er noch lebt. Bei Soldaten kann man da nie sicher sein.
Dass ich heute Prügel bekomme, ist so sicher wie der Winter nach dem Herbst. Ich bin nicht zum Roden mitgegangen, obwohl bekanntgegeben wurde, dass das ganze Dorf hinmüsse, die Männer und die Buben, auch die jüngeren. Man sieht hier zwar selten einen von den Klosterleuten, »hinter den Bergen sind die Herren am schönsten«, sagt man; wir sind keine Eigenleute, aber der Wald gehört ihnen, auch wenn wir ihn nutzen dürfen, und wenn sie rufen, müssen wir kommen. Wenn ein Befehl zur Waldarbeit gegeben wird, kann man zwar herumschimpfen, aber machen muss man es trotzdem, dafür dürfen wir im Wald die Schweine weiden und die Klosterochsen, die eigentlich nur für die Waldarbeit da sind, zum Pflügen der eigenen Felder benutzen, das ist die Abmachung, nicht aufgeschrieben, aber gültig. Dass die Mönche ihren Wald roden lassen, sei etwas Neues, sagt unsere Mutter, früher habe es das nicht gegeben. Sie wollten dort wohl eine Weide für Kühe machen, denn die seien in den letzten Jahren so wertvoll geworden, als ob sie goldene Fladen scheißen würden, und wer mehr Kühe zum Verkaufen haben wolle, müsse eben auch mehr Weiden haben und also weniger Wald.
Mit der Reuthaue Wurzelstöcke ausgraben, das ist nichts für mich. Ich finde, wenn sie einem schon immer sagen, man sei ein Finöggel, dann darf man sich auch benehmen wie einer; den Spott haben und den Schaden dazu, das wäre nicht gerecht. Wenn ich wirklich einmal Mönch werde, will ich im Kloster nicht im Stall arbeiten müssen, sondern das Schreiben lernen. Ein noch besseres Leben, hat man mir erzählt, haben dort nur die Sänger, aber seitdem meine Stimme angefangen hat, sich zu verändern, muss ich an so etwas gar nicht denken. Der Geni sagt, ich sei gar kein Mensch mehr, sondern ein Rabe. Er lacht aber, wenn er so etwas sagt, und meint es nicht böse.
Überhaupt habe ich den Halbbart wieder einmal besuchen wollen. Es hat lang geregnet, und da kann er so viel Zweige oben draufgelegt haben, wie er will, es wird in seinem Unterstand trotzdem gewesen sein, als ob er mit der Kutte über dem Kopf unter einem Wasserfall hockt. Heute ist das Wetter zum ersten Mal wieder schön und warm. Meinen Brüdern habe ich gesagt, dass mir ganz fest gschmuuch im Bauch sei, ich wisse nicht woher, dass ich vor dem Roden noch einmal gründlich scheißen müsse, sie sollten schon einmal ohne mich vorausgehen, ich würde sie schon einholen. Und bin dann in die andere Richtung gelaufen. Wenn das ganze Dorf am selben Ort arbeitet, habe ich mir überlegt, kann einen keiner erwischen, wenn man woanders ist.
Auf dem Weg habe ich Walderdbeeren gesammelt, rote und weiße, in dem Körbchen, das der Geni einmal aus Schilfblättern geflochten hat. Der Geni kann alles.
Wie ich näher zu seiner Beinahe-Hütte gekommen bin, habe ich den Halbbart singen hören, ein Lied, wie es sonst keiner im Dorf singt, mit einer seltsamen Melodie, als ob jeder einzelne Ton falsch wäre und nur alle zusammen richtig. Die Worte habe ich nicht verstanden, und der Halbbart hat auch ganz schnell mit Singen aufgehört. Dabei hat er eine schöne Stimme, im Kloster könnten sie ihn sicher brauchen. Er ist in der Sonne auf dem Boden gesessen, hatte überkreuzte Striche in die Erde gemacht, und in die Felder hatte er Kieselsteine gelegt, viele gewöhnliche graue und ein paar von den farbigen, die man manchmal am Seeufer findet oder in einem Bach. Die Steine hatten eine Ordnung, das konnte man sehen, die grauen mehr in einer Reihe und die anderen verteilt, aber als ich mich genähert habe, hat er sie schnell auf einen Haufen zusammengewischt, als ob er Platz für mich machen wollte. Aber er hat es sorgfältig gemacht, so dass man gemerkt hat: Er braucht die Steine noch. Er hat gesehen, dass ich gwundrig wurde, und hat gesagt: »Das sind keine Kiesel, sondern Elefanten und Pferde und Soldaten und Könige. Ganz viele Soldaten, wie das überall ist auf der Welt, aber nur zwei Könige, und sie geben keine Ruhe, bis einer von ihnen tot ist.« Vielleicht haben die Leute recht, wenn sie sagen, dass er ein bisschen verrückt ist.
Was ein Elefant ist, weiß ich nicht genau. Ein Tier, glaube ich, das es bei uns aber nicht gibt.
Weil mir schien, dass er heute gesprächiger war als sonst, habe ich ihn etwas gefragt, das mich schon lang wundernimmt, was mir aber noch niemand hat erklären können: warum es bei den Walderdbeeren zwei verschiedene Farben gibt, Rot und Weiß, obwohl es doch dieselbe Pflanze ist, man kann keinen Unterschied sehen. Der Schwämmli, der mein Freund ist, hat einmal behauptet, dass die roten die Männer von den Beeren sind und die weißen die Frauen, aber das glaube ich nicht, Beeren sind ja keine Tiere. Der Halbbart hat zurückgefragt, welche davon mir besser schmecken. Da habe ich nicht nachdenken müssen. »Die weißen«, habe ich gesagt, und er hat gelacht, aber so, dass es kein Auslachen war. Ich solle die Augen zumachen, hat er gesagt, hat mir eine Beere nach der anderen in den Mund gesteckt, und ich musste raten, welche Farbe sie hat. Ich habe aber keinen Unterschied gemerkt. »Du meinst nur, dass die weißen besser schmecken«, hat er mir erklärt, »weil sie anders zu sein scheinen als die anderen. Den Fehler machen die Menschen, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Sobald einer ein bisschen anders aussieht, eine andere Haarfarbe oder eine größere Nase, denken sie gleich, dass er etwas Besonderes sein muss, besser oder schlechter, und dabei sind alle gleich.« Ich habe ihm widersprechen wollen, weil zum Beispiel der Geni und der Poli sind nun wirklich nicht gleich, aber man widerspricht dem Halbbart nicht, schon gar nicht, wenn man so viel jünger ist als er. Bei seinem verbrannten Grind kann man zwar nicht richtig sehen, wie viele Runzeln er hat, aber älter als unsere Mutter ist er bestimmt, und die ist schon fast vierzig.
Er hat keine von den Erdbeeren gegessen, obwohl ich sie doch extra für ihn gepflückt hatte, und ich habe ihn gefragt, ob er sie nicht gernhat. Doch, hat er gesagt, eigentlich schon, aber er habe einmal jemanden gekannt, der sie noch lieber gehabt habe, und jetzt schmeckten sie ihm nicht mehr, sondern machten ihn traurig, weil er diesen Jemand nämlich verloren habe. Ich fand es seltsam, wie er das gesagt hat, einen Menschen kann man ja nicht verlieren wie einen Zahn oder einen Schuh, wenn man damit in den Sumpf trampt und ihn nicht mehr herausbekommt.
Ich habe die Erdbeeren dann selber gegessen.
Eine ganze Weile sind wir gesessen, ohne etwas zu sagen. Dann hat er mich gefragt, ob ich ihm eine Schaufel besorgen kann oder ein starkes Grabscheit, er brauche sie nur für ein paar Stunden. Er habe es ohne probiert, aber in dem Boden hier oben habe es zu viele Steine, und er müsse eine Grube ausheben. Ich habe zuerst gedacht, er will sich ein Abortloch graben, aber er hat gesagt, so etwas brauche er nicht, der Wald sei groß genug. Es war eine dumme Frage von mir, ich habe schon mehr als einmal beobachtet, dass er sich zum Seichen nie einfach an ein Gebüsch stellt, sondern so tief in den Wald hineingeht, dass man ihn nicht mehr sehen kann. Wie groß die Grube werden solle, habe ich ihn gefragt, und er hat gesagt: »Wie ein Grab für mehrere Leute.«
Mit Gräbern, und wie man sie macht, kenne ich mich aus. Der alte Laurenz, der mit dem Privilegium, hat einen krummen Rücken und auch sonst keine Kraft mehr, und darum hat er mich angestellt, damit ich die Gräber für ihn aushebe. Das Zuschaufeln macht er dann wieder selber, weil da ja Leute dabei sind, und dass er nicht mehr kann, darf keiner wissen, obwohl es jeder weiß. Bis jetzt hat uns niemand verrätscht. Der Laurenz bekommt vier Batzen für jedes Grab, und wenn man die Arbeit für ihn macht, gibt er einem die Hälfte davon ab. Bei Kindergräbern ist es nur ein Batzen für jeden, aber weil Kinder so oft sterben, lohnt es sich doch. Am einträglichsten sind die, die direkt nach der Geburt ins Grab kommen, da ist das Loch gemacht wie nichts und das Geld leicht verdient. Eine schöne Arbeit ist es nicht, aber besser als Frondienst schon. Es neidet mir auch niemand den Lohn, obwohl es genügend junge Leute gäbe, die es besser könnten als ich und auch schneller. Der Laurenz hat sie vor mir gefragt, aber es wollte keiner, weil sie Angst hatten, auch die sonst Tapferen. Es wird nämlich erzählt, wenn man mit der Schaufel aus Versehen alte Knochen trifft, dann wacht der Tote auf und verfolgt den Störer von da an jede Nacht im Traum, und am siebten Neumond danach ist der dann auch tot. Ich habe aber nachgedacht, und wenn das stimmen würde, wäre der Laurenz bestimmt nicht so alt geworden. Außerdem waren auch schon sein Vater und sein Großvater Totengräber, das Privilegium wird in seiner Familie vererbt, und keiner von denen ist jung gestorben, ich habe mich erkundigt. Von den verdienten Batzen habe ich noch keinen ausgegeben, und den Beutel mit dem Ersparten habe ich im Grab von der Hunger-Kathi versteckt, weil es von der immer geheißen hat, sie sei eine Zauberin. Ich denke: Aberglaube ist sicherer als ein Wachhund.
Von Gräbern verstehe ich etwas, und mehr als einen Menschen in ein und dasselbe Grab packen, das ist eine Sünde und nur bei schlimmen Seuchen erlaubt, das weiß ich vom Laurenz, weil sonst nämlich bei der Auferstehung die Körper durcheinanderkommen. Ich habe das dem Halbbart auch gesagt, und er hat mir erklärt, dass er kein Grab machen will, sondern nur eine Grube, und wenn einer hineinfällt und ist tot, dann ist das dem seine Sache. Ich habe ihn gewarnt, dass es ihm gehen könnte wie dem Nussbaumer Kaspar, der hinter seinem Haus einen Brunnen hat graben wollen, aber er hat das Loch nicht richtig abgesperrt, und sein Nachbar, der Bruchi, ist hineingefallen und hat sich beide Beine gebrochen. Daraufhin hat er den Nussbaumer beim Landammann verklagt, und der Beschluss war, dass der Nussbaumer ihm alle Arbeiten auf seinem Hof machen muss, bis die Beine wieder ganz sind. Sie waren aber so gebrochen, dass der Bruchi nie wieder richtig hat laufen können, und der Nussbaumer hätte für den Rest seines Lebens sein Leibknecht bleiben müssen. Darum ist er dann eines Tages mit seiner ganzen Familie aus dem Dorf verschwunden, man hat nie wieder etwas von ihnen gehört, und sein Haus ist am Zerfallen. Der Halbbart könne nicht wollen, dass ihm so etwas auch passiere, habe ich gesagt.
Er hat gemeint, ich sei ein gescheiter junger Mann und solle mir das Nachdenken nur nie abgewöhnen. Aber die Schaufel will er trotzdem haben. Ich müsse es auch nicht um Gotteslohn tun, sagt er, sondern wenn ich sie ihm bringe, würde er mir dafür ein Geheimnis verraten, nämlich warum Steine Pferde und Elefanten sein können und wie man mit ihnen ein Spiel spielen kann. Ich habe mir schon immer gern Geschichten ausgedacht; ein Spiel, bei dem man sich vorstellen muss, dass ein Stein eigentlich ein Tier ist, interessiert mich, und darum habe ich ja gesagt.
Ich werde dem Halbbart die Schaufel vom alten Laurenz bringen, die hat ein starkes Eisenblatt, mit dem man auch in den härtesten Boden hineinkommt. Das heißt: Eigentlich gehört die Schaufel gar nicht dem Laurenz, sondern ist ein Teil von seinem Privilegium. Aber solang es an dem Tag keinen frischen Toten gibt, wird sie niemand vermissen, und selbst wenn der Laurenz etwas merkt, wird er mich nicht verraten, denn eigentlich ist es nicht erlaubt, dass jemand anderes seine Arbeit macht, sonst verfällt das Privilegium. Der alte Laurenz hat keinen Sohn, dem er es vererben könnte, seine Frau, das ist aber schon ewig her, ist im Kindbett gestorben, und er hat beide, Mutter und Kind, selber begraben müssen.
Ich werde dem Halbbart die Schaufel vielleicht schon morgen bringen, aber zuerst muss ich mich verprügeln lassen.