Das zwanzigste Kapitel
in dem der Sebi davonläuft
Ich bin weggelaufen. Dabei hatte ich gerade angefangen, mich an das Leben im Kloster zu gewöhnen.
Es ist jetzt gerade erst Mittag vorbei, es wird mich also noch niemand vermissen. Bei der Terz und der Sext sind die Regeln nicht so streng, da kann es schon einmal vorkommen, dass einer fehlt. Sie werden denken: Der Eusebius muss wieder Schweine hüten, oder man hat ihn sonst zu einer Arbeit eingeteilt. Erst bei der Vesper gelten dann keine Ausreden mehr. Bruder Fintan hat einmal gesagt: »Die Vesper verpassen, das ist, wie wenn man dem Heiland einen Nagel in die Hand schlägt.« Aber ich glaube ihm nicht. Kein Wort glaube ich ihm mehr. Sie sind alle Heuchler. Alle, alle.
Am liebsten würde ich mich zu Hause verkriechen, aber das geht nicht. Wenn der Prior Leute hinter mir herschickt, damit sie mich ins Kloster zurückbringen, dann ist unser Dorf der erste Ort, wo sie nachschauen, und sie haben mich schnell gefunden. Und vielleicht würde mich der Geni auch gar nicht mehr haben wollen, weil er doch mit dem Abt abgemacht hat, dass der sich in Zukunft um mich kümmert. Er hat eben nicht gewusst, dass im Kloster solche Sachen passieren.
Jedes Mal, wenn ich an den Geni denke und an den Poli,
kommt mir das Augenwasser. Ich werde sie wohl nie mehr wiedersehen oder erst im Jenseits. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie man dort jemanden finden soll. Bei all den Menschen, die seit Erschaffung der Welt gestorben sind, muss das Paradies riesig groß sein. Und wahrscheinlich komme ich gar nicht ins Paradies. Der Geni schon und der Poli vielleicht auch. Aber bestimmt nicht ein weggelaufenes Abtsmündel.
Aber was hätte ich denn sonst tun sollen? Bleiben konnte ich nicht, aber machen, was der Prior verlangt hat, das schon gar nicht.
Der Halbbart hat einmal erzählt, dass er auf dem Weg zu uns durch Länder gekommen ist, in denen kein Kloster etwas zu sagen hat und die Habsburger noch weniger. So eines muss ich finden und mir dort eine Arbeit suchen. Bis ich mich besser auskenne, von mir aus auch Sauhirt. Schweinehüten ist besser als Verhungern. Noch besser wäre es, wenn ich ein Kunststück könnte, auf den Händen laufen oder trommeln wie der Schwämmli, da würden einem die Leute vielleicht Geld dafür geben.
Es ist eine schlechte Jahreszeit zum Weglaufen. So kurz vor dem Winter findet sich nichts mehr Essbares an den Bäumen, und auf den Feldern auch nicht. Das Stehlen würde mich nicht stören, obwohl es eine Sünde ist.
Wenn ich dem Prior gefolgt hätte, wäre das eine noch viel größere Sünde gewesen. Jetzt wird er Angst haben, dass ich ausbringe, was er von mir gewollt hat. Leute, die Angst haben, sind gefährlich, hat der Halbbart einmal gesagt.
Ich bin deshalb nicht in die Richtung losgelaufen, die sie bei mir erwarten würden, nicht auf unser Dorf zu, sondern
davon weg, auf dem Schwabenweg, wo all die Pilger herkommen. Aber ich bin kein Pilger, ganz sicher nicht einer, der nach Einsiedeln will. An einer Wegbiegung kurz vor dem Etzelpass habe ich das Kloster zum letzten Mal gesehen, und ich will es nie wiedersehen. Ich kann den Poli verstehen, wenn er sagt, am liebsten würde er es überfallen und abbrennen.
Der Weg zum Etzel führt über eine Brücke, wo nur ein einziges kleines Haus steht. Man nennt sie die Teufelsbrücke, und das ist mir wie ein Zeichen vorgekommen. Das Anneli hat einmal eine Geschichte erzählt, von einem Mann, der aus der Hölle weggelaufen ist, und der Teufel wollte ihn zurückhaben. Er hat ihm seinen Hund hinterhergeschickt, der hat drei Köpfe und an jedem eine so gute Nase, dass er seine Beute eine Tagesreise weit riechen kann. Der Mann hat sich im Dreck gewälzt, hat jeden Tag Knoblauch gegessen und sich mit stinkendem Nieswurz eingerieben, und der Höllenhund hat seine Spur auch tatsächlich nicht gefunden. Aber dann hat sich der Mann in eine Frau verliebt, wollte für sie gut riechen, und hat deshalb mit dem Eindrecken aufgehört. Und genau in dem Moment, wo die beiden zur Hochzeit in die Kirche gehen wollten …
Ich sollte mir besser eine Geschichte über mich selber ausdenken. Wenn mich jemand fragt, wer ich bin und wohin unterwegs, muss ich eine Antwort parat haben. Aber es wird schon niemand fragen; im Habit ist man einer von vielen. Früher ist mir nie aufgefallen, wie viel Mönche überall unterwegs sind, echte und falsche; wenn ein Bettler die schwarze oder braune Kutte anhat, bekommt er von den Leuten eher etwas.
Mit dem Habit hat alles angefangen. Ich hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmt, weil der Bruder Fintan plötzlich so zuckersüß zu mir war. Wie wenn ein bissiger Hofhund mit dem Schwanz wedelt, statt zu knurren, und einem ein gebratenes Hühnerbein apportiert.
Ich darf nicht an Essen denken.
Als der Fintan mich geholt hat, war ich am Sandstreuen auf dem hinteren Hof, eine sinnlose Arbeit; man kann dort so viel Sand anschleppen, wie man will, der Boden bleibt trotzdem feucht. Dorthin kommt der Fintan sonst nie, weil man durch den Dreck laufen muss, aber diesmal ist er sogar gerannt. Ich musste sofort mitkommen, und er hat mir ein neues, nirgends geflicktes Habit herausgesucht, mit Tunika, Zingulum und allem. Er hat eine ganze Kiste voll davon, dabei sagt er immer, sie sind zu teuer und das Kloster hat nicht so viel Geld. Ich habe ihn gefragt, ob das schwarze Habit bedeutet, dass ich Postulant werden darf, aber er hat mir keine Antwort gegeben, sondern nur gesagt, ich soll mich beeilen und auch noch das Gesicht und die Hände waschen, weil mich nämlich der Bruder Adalbert zu sich bestellt hat, und wenn man zum Prior gerufen wird, muss man eine Gattung machen. Er hat anders mit mir geredet als sonst, fast ein bisschen ehrfürchtig, weil der Prior derjenige ist, der alle wichtigen Sachen für den Abt erledigt, während der Bruder Fintan nur Novizenmeister ist. Uns Jungen gegenüber benimmt er sich zwar wie der König Nebukadnezar, aber im Kloster gehört er nicht zu den Oberen und kommt auch nur aus ganz niedrigem Adel. Er hätte gern aus mir herausgelockt, was der Prior von mir will. Selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es ihm nicht gesagt.
Der Prior schläft nicht mit allen anderen im Dormitorium, sondern hat eine eigene Zelle, aber leider hat er mich nicht dorthin bestellt. Ich hätte sie gern gesehen; im Kloster erzählt man sich, es habe ein Bett mit einer Decke aus Gänsefedern. Ich wurde aber nicht in den Mönchstrakt geschickt, sondern in den großen Keller, dort wo die Weinfässer sind, die Schinken und die Würste. Der Bruder Cellerarius hat vor der Türe auf mich gewartet; eigentlich dürfen Mönche dort nicht hinein und Postulanten schon gar nicht, was man auch gut verstehen kann. Die wären schlimmer als ein Vogelschwarm in einem Kirschbaum und hätten die Fässer schneller leergetrunken und die Vorräte aufgefressen, als man für ein Paternoster braucht. Hinten im Vorratskeller, das wusste ich vorher nicht, ist noch einmal ein Raum, der Eingang hinter dem größten Fass versteckt. Der Bruder Cellerarius hat mit der Faust gegen eine dicke Türe schlagen müssen, um uns anzumelden. Drinnen habe ich nicht alles erkennen können, dafür war es zu dunkel, obwohl auf einem Tisch ein Leuchter mit Kerzen gebrannt hat, richtige Wachskerzen, das hat man riechen können. Ein paar Truhen standen da, ein Gestell mit aufgerollten Dokumenten, und hinter dem Tisch ist der Prior gesessen. Als ich hereingekommen bin, hat er nicht einmal genickt und erst etwas gesagt, als der Cellerarius die Türe wieder hinter sich geschlossen hatte. Er hat strenge Augen, aber vielleicht sah das im Kerzenlicht auch nur so aus.
Als Erstes hat er mich gefragt, ob ich die Benediktinerregel kenne, und ich habe gedacht, es geht um eine Prüfung, um als Postulant aufgenommen zu werden. Mein Gedächtnis ist schon immer gut gewesen, und der Novizenmeister
hat uns die Regel so oft vorgelesen, dass ich sie auswendig kann. Ich habe also angefangen, sie von Anfang an aufzusagen, »Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters«, aber der Prior hat ungeduldig abgewunken. »Was steht dort über einen Befehl des Abtes?«, hat er gefragt. Ich habe auch diese Stelle gewusst und aufgesagt: »Ein Befehl des Abtes oder der von ihm eingesetzten Oberen habe immer den Vorrang.«
»Der von ihm eingesetzten Oberen«, hat Bruder Adalbert wiederholt. »Also auch ein Befehl deines Priors?«
Ich habe gedacht, das sei ein Teil der Prüfung, und wollte aufsagen: »Der Prior führe in Ehrfurcht aus, was ihm sein Abt aufträgt.« Aber ich habe es nicht zu Ende sagen können, der Bruder Adalbert ist wütend geworden und hat auf den Tisch gehauen, dass der Kerzenleuchter getanzt hat. »Von wem ich meine Aufträge habe, geht dich nichts an«, hat er geschrien, und seine große Stimme hat das Zimmer ausgefüllt. Dann hat er ganz lieb weitergesprochen – die guten Kanzelredner können das, einmal so einen Ton machen und dann gleich wieder einen anderen: »Möchtest du gern Novize werden?« Nicht »Postulant« hat er gesagt, sondern »Novize«.
Jetzt, hinterher, weiß ich, dass er es nicht ernst gemeint haben konnte, weil Einsiedeln doch ein Adelskloster ist, aber im Moment war ich nur überwältigt und habe gesagt: »Sehr gern will ich das.« Den Hubertus mit allem, was der kann, zu überholen, das hätte mich schon gereizt.
»Gut«, hat der Prior gesagt, »dann bekommst du jetzt einen Auftrag von mir. Wenn du ihn zu meiner Zufriedenheit ausführst, werde ich den hochwürdigen Herrn Fürstabt
bitten, dass er dir die kleine Tonsur schneiden lässt, wenn der Barbier das nächste Mal ins Kloster kommt.«
Er würde den Abt darum bitten, hat er gesagt, aber ich habe Mönche tuscheln hören, dass Abt Johannes gar nicht wirklich alles selber bestimmt, sondern dass es eigentlich der Prior ist, der im Kloster regiert. Für mich konnte es nur gut sein, wenn es so war, dann würde er sich nicht einmal anstrengen müssen, um sein Wort zu halten.
»Ich werde mir Mühe geben«, habe ich gesagt.
»Gut.« Er ist aufgestanden und zu einer schweren, mit Eisen beschlagenen Truhe gegangen. Von seinem Zingulum hat er einen Schlüssel abgemacht, aber er hat den Deckel von der Truhe noch nicht aufgesperrt, sondern mich zuerst noch einmal etwas gefragt. Etwas, das mich gewundert hat, weil sich ein wichtiger Mönch wie der Prior eigentlich nicht um solche Sachen kümmert.
»Man sagt mir, dass du den Sauhirt vertreten hast«, hat er gesagt. »Stimmt das?«
»Ja, hochwürdiger Herr Prior. Ich habe es bei uns im Dorf gelernt.«
»Gut. Dann sag mir: Was fressen Schweine?«
»Am liebsten Eicheln«, habe ich gesagt, »aber eigentlich alles. Sie sind da nicht anders als die Wildschweine, von denen man sagt: ›Was eine Herde Säue übriglässt, passt unter einen Fingernagel.‹«
»Sehr gut.« Der Prior hat die Truhe aufgeschlossen und ein Bündel herausgenommen, in ein Stück Stoff eingeschlagen wie etwas Kostbares. Er hat das Bündel auf den Tisch gelegt, direkt vor den Kerzenleuchter; es war etwa so groß wie damals das abgeschnittene Bein vom Geni. Ich konnte
sehen, dass das Tuch aus einem ganz feinen Material war, und darum hat mich überrascht, was er als Nächstes gesagt hat: »Leg das in den Schweinetrog, und sag mir Bescheid, wenn es verschwunden ist.«
»Verschwunden«, hat er gesagt, nicht »aufgefressen«.
»Und das Tuch? Wem soll ich es zurückbringen?«
Er ist wieder laut geworden, man hat gemerkt: Ihm fällt das leicht. »In den Trog!«, hat er geschrien. »Alles in den Trog! Und nie darüber sprechen, nie und mit niemandem!«
»Oboedio!«,
habe ich gesagt. Das hat mir der Hubertus beigebracht, und es heißt: »Ich gehorche.«
Der Prior hat mir das Bündel hingehalten. Als ich es ihm abgenommen habe, hat er seine Hände noch einen Augenblick mit den Handflächen nach oben stehen lassen, es hat ausgesehen wie der Herr Kaplan beim In manus tuas
. Dann hat er mit seiner lauten Stimme gerufen: »Cellerarius!«, und der ist gekommen und hat mich hinausgeführt.
Es war aber kein Schweinefutter in dem Bündel. Ich habe lang genug für den alten Laurenz gearbeitet und habe sofort gemerkt, was es war.