Das sechsundzwanzigste Kapitel
in dem der Sebi schlecht schläft
Es wäre wichtig, dass ich morgen ausgeschlafen bin, der Stoffel hat das auch gesagt, aber ich liege wach und habe die schlimmsten Gedanken. Alles, was mir einfällt, ist grau und schwarz, und dabei sollte ich gute Sachen denken, weil sonst die schlechten passieren, und dann ist man selber daran schuld. Aber wenn man Sorgen hat, kann man sich das lang vornehmen.
Der Halbbart ist verschwunden. Von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr da. So wie in einer Anneli-Geschichte, wenn sich der Boden öffnet und jemanden verschluckt.
Am Samstagabend ist er mit dem Stoffel verabredet gewesen und zur abgemachten Zeit nicht gekommen. Zuerst hat sich niemand Sorgen gemacht; ihm kommt oft im letzten Moment etwas dazwischen, meistens weil jemand wegen Zahnweh nach ihm geschickt hat. Wenn die Zähne weh tun, werden die Leute ungeduldig, und es hat sich herumgesprochen, dass er einem einen kranken Zahn so geschickt aus dem Mund zu pflücken versteht wie eine schlaue Maus den Köder aus der Falle. Dem Stoffel ist das Warten verleidet, und er ist noch einmal in die Werkstatt gegangen, um sich über der Glut ein Stück Käse zu braten; dem Kätterli
und mir hat er eine Talgkerze bewilligt, und wir haben in aller Ruhe unseren Schachzabel-Krieg weitergeführt, sie hätte sogar beinahe gewonnen. Sie kann das Spiel schon fast so gut wie ich, dabei habe ich es ihr doch gerade erst beigebracht.
Auch am Sonntag hat man vom Halbbart nichts gehört, und das war schon ungewöhnlicher. Wenn er nämlich sonst eine Verabredung nicht hat einhalten können, ist er immer am nächsten Tag vorbeigekommen und hat erklärt, was ihn abgehalten hat. Nach der Messe hat der Stoffel gesagt, ihm sei schlecht von den vielen Kerzen und vom Weihrauch, er wolle ein bisschen in der Landschaft herumlaufen. Es brauche ihn niemand begleiten, das Kätterli solle lieber dafür sorgen, dass nachher eine gute Suppe auf den Tisch käme. Ich habe aber gemerkt, dass er in Wirklichkeit nach dem Halbbart hat sehen wollen, ob der vielleicht krank geworden sei. Für den Weg in unser Dorf wird er nicht lang gebraucht haben mit seinen kräftigen Beinen.
Er hat an die Türe vom Halbbart seinem Haus geklopft, aber es hat niemand geantwortet, und da ist dem Stoffel ein erstes Mal ein bisschen gschmuuch geworden, sagt er. Er hat dann im Dorf herumgefragt, auch beim Geni und beim Poli, die haben beide nichts gewusst, und auch sonst niemand. Nur der immer besoffene Rogenmoser Kari hat sich wichtigmachen müssen und hat behauptet, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Teufel den Halbbart geholt habe, am späten Abend sei es gewesen, und der Satan habe vier Unterteufel mit langen Spießen dabeigehabt, die hätten ihn abgeführt. Sonst wollte niemand eine Ahnung haben, und dabei wissen doch in einem kleinen Dorf immer alle
alles voneinander, unsere Mutter hat manchmal gesagt: »Es ist nur gut, dass Neugier nicht weh tut.«
Seit ich beim Stoffel-Schmied und beim Kätterli wohne, kann ich an unsere Mutter denken, ohne dass mir gleich die Augen nass werden. Nur heute Nacht müsste sie bei mir sein und mich beschützen. Und mir versprechen, dass morgen nichts Schreckliches passieren wird.
Die Türe vom Halbbart seinem Haus ist nie abgeschlossen, und der Stoffel ist hineingegangen, um zu sehen, ob sich irgendwo eine Erklärung für sein Verschwinden findet. Es war aber nichts Besonderes zu sehen, nichts, aus dem man hätte schließen können, er habe vorgehabt wegzugehen. Das Feuer war noch nicht lang heruntergebrannt, und im Kessel war die Suppe noch warm. »Es hatte Fleischknochen darin«, hat der Stoffel berichtet, und für ihn war das ein Beweis, dass der Halbbart nicht für längere Zeit habe weg sein wollen, sonst hätte er sie doch als Proviant mitgenommen. Der Stoffel kann sich nicht vorstellen, dass jemand Essen verschwendet; bei seiner Arbeit braucht er so viel Kraft, dass er den ganzen Tag zulangen könnte.
Dann ist auch noch eine Bauersfrau aus Steinen gekommen, die hatte der Halbbart wegen einer Medizin für ihren Mann zu sich bestellt. Von Steinen läuft man gute drei Stunden, und er hätte sie bestimmt nicht den ganzen Weg machen lassen, wenn er vorgehabt hätte, dann nicht da zu sein. Der Stoffel hat noch im Haus gesucht, ob die Medizin irgendwo bereitsteht, aber er hat nichts gefunden und hat das Fraueli mit leeren Händen auf den langen Heimweg schicken müssen.
Das Kätterli kann gut kochen, sie kann überhaupt alles,
aber wir haben die Sonntagssuppe nicht richtig genießen können; die Frage, was mit dem Halbbart wohl sein könnte, hat ihr allen Geschmack genommen. Gesagt hat keiner etwas, es ist bei Stoffels nicht üblich, dass man beim Essen redet; wenn gearbeitet wird, wird gearbeitet, und wenn gegessen wird, wird gegessen. Dem Kätterli haben die besorgten Gesichter nicht gefallen, und sie hat uns zum Lachen bringen wollen und gemeint, der Halbbart sei bestimmt auf dem Weg nach Ägeri von einem Flug Fledermäuse entführt worden, die hätten ihren vorlauten Kindern mit dem schwarzen Mann gedroht, und jetzt hätten sie eben den Halbbart mit seinem verbrannten Gesicht geholt, damit er ihnen Manieren beibringe. Es hat aber niemand gelacht, sondern jeder hat weiter herumstudiert.
Zuerst habe ich gedacht, der Halbbart sei durch irgendetwas an seine Vergangenheit erinnert worden, vielleicht nur durch ein Gesicht, das er halb gesehen hat und halb wieder nicht, und er habe deshalb gemeint, er sei doch nicht weit genug davongelaufen. Mir hat er einmal gesagt, ein Flüchtling sei wie ein Reh, bei dem ja auch ein Knacken im Unterholz genügt, und schon ist es davon. Aber dann habe ich wieder überlegt, dass das nicht sein kann, er wäre bestimmt nicht weggegangen, ohne sich von mir zu verabschieden, und das Fleisch aus der Suppe hätte er auch mitgenommen. Hunger hat er in seinem Leben genug gehabt.
Der Stoffel, das hat er uns aber erst verraten, als der Halbbart am Abend wieder nicht gekommen ist, hat an Räuber gedacht. Der Weg von unserem Dorf nach Ägeri führt ein Stück den Wald entlang, und ein Gewürzhändler, der über die großen Pässe gekommen war, hat berichtet,
eine Räuberbande habe ihn dort überfallen und ihm ein ganzes Vermögen an Safran abgenommen. Aber es kann auch sein, dass der Mann die Geschichte erfunden hat, weil er seine Schulden nicht bezahlen konnte und eine Ausrede brauchte. Wenn ihn eine Bande überfallen hätte, wäre es ohne ein paar blaue Flecken bestimmt nicht abgegangen, er war aber überhaupt nicht verletzt. Vielleicht gebe es die Räuber aber wirklich, meint der Stoffel, dann wäre es verständlich, dass sie gerade auf den Halbbart losgegangen seien; ein Mann, in der Nacht allein unterwegs, ist ein leichtes Opfer, und gegen eine ganze Bande hätte ihm auch der schwere Stock nichts genützt, den er immer bei sich hat. Der Halbbart habe aber nie etwas Stehlenswertes bei sich, hat er weiter überlegt, und da sei es möglich, dass man ihn verschleppt habe, um Lösegeld zu erpressen. So wie es der Poli damals mit dem Holzach vorgehabt hat, habe ich gedacht, aber natürlich nichts gesagt. Es wäre auch denkbar, dass der Halbbart sich gewehrt hat, vielleicht war es zu einem Kampf gekommen, und sie hatten ihm etwas angetan. Diese letzte Überlegung hat der Stoffel nicht mehr ausgesprochen, aber er hat sie so laut gedacht, dass man sie richtiggehend hat hören können. Gesagt hat er nur, er wolle morgen früh die Schmiede nicht aufmachen, sondern wir beide sollten miteinander nach dem Halbbart suchen, vielleicht liege der irgendwo im Wald, gefesselt oder verletzt. Er will einfach so losgehen, ohne Waffen; er besitzt gar keine, nicht einmal ein Schwert, obwohl er sich ja selber eines schmieden könnte. Wenn man sein Leben lang immer der Größte und Stärkste gewesen ist, kommt man gar nicht auf den Gedanken. Nur zwei Stabeisen hat er für uns
bereitgelegt, mit denen könne man sich auch wehren, hat er gemeint.
Ich habe ihn gefragt, ob er nicht lieber den Poli mitnehmen wolle, wenn mit jemandem gekämpft werden müsse, sei der ein besserer Helfer als ich, aber der Stoffel hat mich streng angesehen und gesagt, einen Freundschaftsdienst dürfe man nicht auf jemand anderen verschieben. Und überhaupt, wenn ich sein Verwandter sein wolle, sein Vetterssohn aus dem Urserental, dann dürfe ich vor nichts Schiss haben, Angsthasen habe es in seiner Familie noch nie gegeben.
Gleich nach dem Habermus wollen wir losziehen, und ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: dass wir den Halbbart nicht finden oder dass wir ihn finden und es ist ihm etwas passiert. Ich liege wach und mache mir die schlimmsten Gedanken, dabei müsste ich doch schlafen. Der Stoffel hat sogar ein Sprichwort dafür, »ein Sack voll Schlaf macht stark und brav«, und ich höre ihn auch schnarchen wie jede Nacht, als ob überhaupt nichts Besonderes wäre, aber in meinem Kopf drehen sich die Gedanken so schnell, dass ich einfach nicht schläfrig werde, sondern nur trümmlig. Ich habe es mit Beten versuchen wollen, aber mir ist kein Schutzpatron für verschwundene Freunde eingefallen, und von den vierzehn Nothelfern, die man für alles brauchen kann, bringe ich die Namen nicht zusammen. Die Frauen schon, das sind Barbara, Margareta und Katharina, aber bei den Männern komme ich durcheinander, und ich befürchte, wenn man einen vergisst, dann ist er beleidigt und sorgt dafür, dass die anderen auch nicht mitmachen. Die kleine Perpetua würde bestimmt etwas für mich tun, weil ich ihr doch auch geholfen habe, mit Taufen und Begraben, aber
ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich heilig geworden ist oder einfach nur tot.
Das Feuer in der Esse habe ich mit Asche abgedeckt, wie ich es jeden Tag vor dem Schlafengehen tun muss, damit man es am nächsten Morgen leicht wieder anfachen kann, aber es glimmt doch immer wieder auf, und es kommt mir vor, als ob die Funken Signale wären, ich weiß nur nicht, was sie bedeuten, ob sie mir Hoffnung geben sollen oder mir sagen, dass mich eine Enttäuschung erwartet oder sogar ein Unglück. Ich habe versucht, von einem Funken bis zum nächsten den Atem anzuhalten, wenn mir das gelingt, habe ich mir versprochen, ist es ein gutes Zeichen, aber da sind die Funken plötzlich seltener geworden, und ich habe es nicht geschafft. Und dann, als ich wieder geatmet habe, kamen drei ganz helle gleich hintereinander.
Draußen auf der Gasse streiten schon die längste Zeit zwei Katzen miteinander, sie heulen und fauchen, als ob es um Leben und Tod ginge, und vielleicht geht es ja darum, und auch das ist ein Omen. Unsere Mutter hat immer gesagt, dass Katzen Unglückstiere sind, weil sie nämlich nicht in der Bibel vorkommen, die Hunde aber schon. Der Geni hat sie jedes Mal ausgelacht und gemeint, Eichhörnchen gebe es seines Wissens in der Bibel auch nicht und er habe noch nie jemanden behaupten hören, dass die Unglück brächten, und dann hat sie ihm eine gefitzt, aber mehr aus Spaß, und hat gesagt, sie glaube sowieso nicht an solche Sachen, das machten nur Abergläubische. Wenn sie nicht krank geworden wäre und gestorben, könnte ich jetzt meinen Kopf in ihren Schoß legen, das würde mir mehr Mut machen als alles andere.
Der Poli hat schon recht, wenn er sagt, dass ich einer bin, der sich immer gleich ins Hemd scheißt, aber vielleicht ist es ja so, dass jede Familie vom Himmel nur eine bestimmte Portion Mut zugeteilt bekommt, und er hat alles für sich genommen.
Und morgen gehe ich doch mit dem Stoffel auf die Suche, und ich kämpfe auch mit Räubern, obwohl ich nicht glaube, dass das nötig sein wird. Wenn nämlich die Räuber den Stoffel sehen mit seinen breiten Schultern und den starken Händen, dann verkriechen sie sich bestimmt ins Unterholz und lassen uns in Frieden. Vielleicht hat das Verschwinden vom Halbbart auch gar nichts mit einem Überfall zu tun, sondern er ist nur in den Wald hineingegangen, um hinter einem Baum zu seichen, und ist gestolpert und hat sich den Fuß verdreht, und wenn wir nach ihm rufen, hört er uns und ruft zurück. Ich werde die Flöte mitnehmen, die mir der Soldat geschenkt hat, ich kann sie zwar noch nicht richtig spielen, aber einen lauten Ton aus ihr herausblasen, das kann ich schon, und der Halbbart kennt diesen Ton und wird wissen, dass ich es bin.
Wenn ihm nur nichts Schlimmes passiert ist, lieber Gott.