Das neunundzwanzigste Kapitel
in dem der Prozess weitergeht
Sie haben ihn an einer Kette hereingeführt wie einen Tanzbären, aber der Halbbart hat sich nicht ziehen lassen, sondern ist selber gegangen, mit einem so festen Schritt, als ob er hier der Meister wäre. Als die Leute ihn gesehen haben, ist ein erschrecktes Einatmen durch den Saal gegangen, gekannt haben ihn ja nur die aus unserem Dorf, für alle anderen war sein verbranntes Gesicht eine Überraschung. Man hat gemerkt, dass ihnen sein Aussehen Angst gemacht hat, dass sie sich aber gleichzeitig auch darüber gefreut haben; sie haben in den Narben das Versprechen gesehen, dass man mit ihm etwas Besonderes würde erleben können. Als der Halbbart zum ersten Mal ins Dorf gekommen ist und sich seine Hütte gebaut hat, ist es ähnlich gewesen.
Er hat sich neben dem Tisch aufstellen müssen, der Mann, der die Kette gehalten hat, hinter ihm und drei andere Reisige um ihn herum, es hat mich an Hochwürden Linsi mit den Ministranten erinnert, die er mitbringt, wenn er zum Predigen nach Sattel kommt. Dann hat der Mann, von dem das Kätterli gemeint hat, er sei der Schreiber, längere Zeit etwas vorgelesen, aber so schnell und mit einer so leisen Stimme, dass man nichts verstanden hat. Während der
ganzen Zeit hat der Doctor scheinbar gar nicht zugehört, sondern an seinem Wams herumgerieben, da war ein Fleck oder sonst etwas, das ihn gestört hat. Erst als der Schreiber fertig war, hat er aufgesehen und zum Halbbart hin gefragt: »Bekennt sich der Malefikant schuldig?« Ich habe nicht gewusst, was ein Malefikant ist, aber man konnte deutlich sehen, dass der Halbbart keiner sein wollte; er hat den Kopf geschüttelt, wie er es macht, wenn ich beim Schachzabel einen falschen Angriff probiere, und hat geantwortet: »Es gibt keine Schuld, die zu bekennen wäre.« Der Doctor iuris hat die Schultern gezuckt wie der Stoffel, wenn er eigentlich schon Feierabend machen will, und dann kommt doch noch einer und will sein Pferd beschlagen haben, dann hat er befohlen: »Testimonium primum«,
das waren beides Worte, die mir der Hubertus beigebracht hat, und ich konnte sie für das Kätterli übersetzen. Er hat gewollt, dass der erste Zeuge gerufen wird.
Einer von den Vogtsleuten ist hinausgegangen, und weil er nicht gleich zurückgekommen ist, haben die Zuschauer angefangen, miteinander zu schwatzen. Der Richter hat aber mit seinem Hammer auf den Tisch geklopft, und alle haben verstanden, dass sie still sein sollten.
Als der Vogtsmann zurückgekommen ist, hat er nicht nur einen Zeugen mitgebracht, sondern zwei, und zu meiner Überraschung habe ich sie gekannt: die Iten-Zwillinge. Auch der Fremde schien überrascht zu sein, dass es zwei Zeugen aufs Mal waren. Der Vogt hat ihm dann etwas ins Ohr geflüstert, wahrscheinlich dasselbe, was ich auch dem Kätterli erklärt habe, dass die beiden immer zusammen sein müssen, sonst bringt man kein Wort aus ihnen
heraus. Der Leutpriester hat ihnen ein Kruzifix hingehalten, da haben die Zwillinge ihre Hand darauflegen müssen und schwören, dass sie die Wahrheit sagen wollen, bei Gott und seinen Heiligen. Dann hat der Richter sie gefragt: »Wessen beschuldigt ihr diesen Mann?«
Die Zwillinge haben Antwort gegeben, wie es ihre Art ist, der eine einen halben Satz und der andere den Rest. Wie die Zuschauer gehört haben, um was es ging, haben alle aufgeregt durcheinandergeredet, und der fremde Richter hat sie auch ein bisschen machen lassen, bevor er wieder auf den Tisch geklopft hat. Ich selber war genauso erschrocken und durcheinander, denn mit dem, was sie gesagt haben, hätte ich in tausend Jahren nicht gerechnet. »Wir klagen ihn an …«, hat der eine von den Iten-Zwillingen gesagt, und der andere: »… dass er mit dem Teufel im Bund steht.« Das ist das Schlimmste, das man einem Menschen vorwerfen kann, nicht nur in den Anneli-Geschichten, sondern überhaupt, und soweit ich weiß, steht die Todesstrafe darauf.
Die Leute haben alle zum Halbbart hingesehen, als würden sie erwarten, dass ihm gleich Hörner wachsen oder Feuer aus seinem Mund kommt, und er hat dieses besondere Lächeln auf seinem Gesicht gehabt, wie wenn er jemanden etwas Dummes sagen hört, aber keine Lust hat, ihm zu erklären, wie es richtig wäre. Weil ich viel mit ihm zusammen gewesen bin, habe ich gewusst, dass es ein Lächeln war, aber wenn man ihn nicht gekannt hat, konnte man bei seinem narbigen Gesicht auch denken, es sei eine Grimasse. Der Mann, der die Kette gehalten hat, muss das auch gedacht haben, denn er hat sie sich fester um den Arm gewickelt, als ob er Angst hätte, der Halbbart könnte sich losreißen.
Der Richter hat die Zwillinge erklären lassen, wie sie zu so einem schweren Vorwurf gekommen seien, und sie haben geantwortet, immer einen halben Satz und noch einen halben, dass der Halbbart Leute nur scheinbar heile, nicht mit Medizin, sondern indem er den Teufel beschwöre. Die Kranken würden zwar äußerlich gesund, aber ihre Seele sei dann der Hölle verfallen für alle Ewigkeit, und die Qualen, die sie dort erleiden müssten, seien schlimmer als jedes Gsüchti. Als Beispiel haben sie das Bein vom Geni angeführt, wie man dort den Verband abgemacht habe – »Zu früh«, hat der eine gesagt, und der andere: »Viel zu früh« –, da habe ihre eigene Salbe, die das Bein unfehlbar gerettet haben würde, auf geheimnisvolle Weise ihre Kraft verloren, und man habe stattdessen den Gestank der Hölle riechen können. Es war aber ein ganz anderer Gestank, das weiß ich, weil das Bein nämlich am Verfaulen war. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich eingemischt, aber das Kätterli hat mich zurückgehalten, und sie hat natürlich recht gehabt, niemand hätte mir etwas geglaubt, schon gar nicht, wo ich das Kleid von einem Mädchen anhatte. Vielleicht hätte man mich sogar selber an die Kette gelegt.
Der Mann neben dem Doctor iuris hat ihm ein Pergament hingeschoben, der hat es durch seinen Beryll studiert und dann gesagt, nach dem, was in den Protokollen stünde, sei der Angeklagte bei der fraglichen Operation gar nicht dabei gewesen, wie sie da der Meinung sein könnten, er habe sich trotzdem schuldig gemacht, mit oder ohne Teufel. Die Zwillinge haben gesagt, der Halbbart sei eben satanisch schlau und habe einen Vertreter geschickt, einen kleinen Buben, ebenfalls vom Teufel besessen. Warum dieser
Bub nicht vorgeladen sei, hat der Richter gefragt, und die Zwillinge haben gesagt, das sei ein weiterer Beweis für die teuflische Einmischung, dieser Bub sei nämlich aus einem Kloster verschwunden, niemand wisse, wie, wahrscheinlich sitze er jetzt schon in der Hölle und leide ewige Qualen. Dieser Bub war aber ich, und alles, was der Halbbart damals gemacht hat, war, dass er mir einen Rat gegeben hat, wie man das Leben vom Geni retten könne, und er hat es ja dann auch gerettet. Mit dem Teufel hatte das hinten und vorne nichts zu tun. Das war das Schlimmste für mich: nicht nur, dass man dem Halbbart so etwas vorgeworfen hat, sondern dass ich das Gegenteil hätte beweisen können, aber das Maul halten musste.
Die Leute, das hat man gemerkt, haben den Zwillingen glauben wollen, sie haben »Apage, Satanas«
gerufen und gegen den Halbbart die Faust gemacht, den Zeigfinger und den kleinen Finger ausgestreckt, dass es aussah wie Hörner. Unsere Mutter hat das Zeichen oft gebraucht, um böse Geister abzuwehren. Der Jurist des Bischofs hat lang auf den Tisch hämmern müssen, bis es wieder ruhig geworden ist.
Dann hat er zu den Iten-Zwillingen gesagt, er könne ihre Klage nicht weiterverfolgen. Die Leute in der Halle waren nicht zufrieden damit, das hat man hören können, aber er hat erklärt, er müsse sich an das Gesetz halten, so wie es in der Bibel stehe, und in diesem Fall sei das ganz eindeutig. Er hat etwas Lateinisches gesagt und dem Leutpriester ein Zeichen gemacht, dass er es für die Zwillinge übersetzt. Auf Deutsch hat der Satz so geheißen: »Es soll kein einzelner Zeuge wider jemand auftreten über irgendeine Missetat oder Sünde, sondern in dem Mund zweier oder dreier
Zeugen soll die Sache bestehen.« Der Richter hat weiter ausgeführt, weil die Iten-Zwillinge immer alles gemeinsam erzählen und auch die Fragen gemeinsam beantworten, müsse er sie als eine einzige Person betrachten und darum den Fall als unbewiesen abschließen. Er hat schon aufstehen wollen, und ich habe gedacht, damit ist die Sache erledigt, aber die Iten-Zwillinge haben keine Ruhe gegeben, sondern gesagt, sie hätten noch einen anderen Zeugen mitgebracht, der habe den Teufel mit eigenen Augen gesehen. Also hat der Richter sich wieder hinsetzen müssen, die Zwillinge hat er hinausführen lassen, hat aber noch nicht befohlen, dass dieser neue Zeuge geholt werden solle, sondern hat seinen Diener zuerst mit einem anderen Auftrag hinausgeschickt.
Die Leute haben wieder zu schwatzen begonnen, diesmal schien es den Fremden nicht zu stören, und er hat seinen Hammer liegen lassen. So laut ist es geworden, dass ich nicht einmal flüstern musste, um dem Kätterli zu sagen, ich wisse genau, warum sich die Zwillinge so eine Geschichte ausgedacht und den Halbbart verklagt hätten: Sie sind eifersüchtig, weil immer mehr Leute mit ihren Gsüchti zu ihm gehen und nicht mehr zu ihnen, das ist für sie, wie wenn er ihnen Geld aus dem Beutel nehmen würde.
Der Diener ist zurückgekommen und hat eine große Platte mitgebracht, ich glaube, sie war aus Silber. Auf der Platte waren Brot und Käse und Würste, auch ein Becher mit Wein war dabei, und der Richter hat sein Messer aus dem Gürtel gezogen und sich in aller Ruhe erst einmal gestärkt. Die anderen am Tisch hätten bestimmt auch gern etwas abbekommen, aber sie mussten so tun, als ob sie gar keinen Hunger hätten. Schließlich hat sich der Fremde
den Mund abgewischt, nicht mit dem Ärmel, sondern mit einem Tuch, das der Diener auch mitgebracht hatte, dann wurde die Platte hinausgetragen, und er hat mit dem Hammer auf den Tisch geklopft, damit die Leute mit Schwatzen aufhörten und die Verhandlung weitergehen konnte. Als alle wieder still waren, hat er zuerst einen Görpser getan, wahrscheinlich hatte er den Wein zu hastig getrunken, und dann hat er befohlen: »Testimonium secundum!«
Der zweite Zeuge war der Rogenmoser Kari.
Ein paar Leute in der Halle haben gelacht, das waren solche, die den Rogenmoser gekannt und gewusst haben, was für Geschichten er erzählt, wenn er getrunken hat, und das hat er eigentlich immer. Aber bis nach Montpellier war das natürlich nicht bekannt, und der Richter hat ihn schwören lassen wie vorher die Zwillinge und ihn dann gefragt, was er von dem Tag, wo man dem Geni das Bein abgeschnitten hat, zu berichten wisse. Der Rogenmoser hat sich nicht bitten lassen; er kennt nichts Schöneres, als wenn er erzählen kann und alle hören ihm zu. Zuerst hat er von dem Unfall beim Roden berichtet, und zwar alles so, wie ich es vom Poli gehört habe, obwohl ich ja nicht glaube, dass der Rogenmoser es wirklich mit eigenen Augen gesehen hat. Wo es vorher doch Bier gegeben hat, ist er wahrscheinlich betrunken unter einem Gebüsch gelegen. Dann hat er angefangen vom Tag der Operation zu erzählen, und da hat nichts mehr gestimmt. Als ich die Anweisungen vom Halbbart weitergegeben habe, hat er behauptet, sei um meinen ganzen Körper herum ein grünes Leuchten gewesen, das sei die Farbe des Satans, er habe es ganz deutlich gesehen. Er halte es sogar für möglich, aber das wolle er nicht beschwören, dass es gar
kein Bub gewesen sei, der dort geredet habe, sondern ein Homunkulus. Und dann später, während der Operation, habe er den Halbbart selber im Rauch von dem kochenden Birkenpech schweben sehen, mit überkreuzten Beinen, in der Hand habe er einen dreizackigen Spieß gehabt, an dem habe schon die Seele vom Geni gesteckt, die er gleich in der Hölle abliefern wollte, das sei der Preis gewesen, den er für sein Überleben habe zahlen müssen. Das war natürlich alles Unsinn; wenn er besoffen ist, sieht der Rogenmoser den Teufel überall, aber er war nun mal der zweite Zeuge, und die Verhandlung hat weitergehen müssen.
Man hat gemerkt, dass die Leute beeindruckt waren, zumindest alle, die den Rogenmoser nicht kannten, er hat den Zuschauern auch ganz stolz zugewinkt, wie einer, der gerade ein Wettrennen gewonnen hat oder einen Lupf, und am liebsten wäre er gar nicht mehr weggegangen, aber die Reisigen haben ihn hinausgeführt. Der fremde Richter hat den Halbbart gefragt, was er dazu zu sagen habe, aber der hat den Kopf geschüttelt und nicht geantwortet.
Der Schreiber hat dem Richter das nächste Pergament hingelegt, der hat es gelesen und dann befohlen: »Testimonium defensionis!«,
was geheißen hat, dass jetzt ein Zeuge kommen sollte, der etwas Gutes für den Halbbart zu sagen hatte. Der Zeuge ist dann ganz langsam hereingekommen und hat sich dabei auf zwei Krücken gestützt. Es war der Geni.