Das dreißigste Kapitel
in dem der Richter den Geni befragt
»Das ist mein Bruder«, habe ich dem Kätterli zugeflüstert, und sie hat gemeint, er sehe älter aus, als ich ihn beschrieben habe, fast so, als ob er mein Vater wäre. Für mich ist der Geni einfach der Geni, aber sie hat natürlich recht; seit seinem Unfall hat er sich verändert und ist noch erwachsener geworden, als er mir schon immer vorgekommen ist. Wahrscheinlich hören ihm die Leute, auch die wichtigen, deshalb zu, wenn er eine Meinung sagt.
Die Iten-Zwillinge und auch der Rogenmoser Kari, obwohl sie doch ganz nahe an ihm vorbeigehen mussten, hatten alle drei so getan, als ob der Halbbart unsichtbar wäre, es hat mich daran erinnert, wie die Leute in der Geschichte, die das Anneli mir erzählt hat, so getan haben, als ob sie den Teufel mitten im Dorf gar nicht bemerken würden. Der Geni hat genau das Gegenteil gemacht: Er ist auf seinen Krücken zum Halbbart hingehumpelt und hat ihn begrüßt. Den Leuten in der Halle hat das nicht gefallen, das hat man spüren können, für sie war der Halbbart jemand, der mit dem Teufel im Bund steht, und so einem gibt man nicht die Hand. Eine Menge von Menschen ist wie ein großes Tier, und jetzt hat man das Tier fauchen hören. Wenn der Fremde nicht wieder seinen Hammer in die
Hand genommen hätte, die Leute wären auf die beiden losgegangen.
Der Geni hat dann auch auf das Kruzifix schwören müssen, dass er die Wahrheit sagen will; er hat das mit lauter Stimme getan und sich nach dem Schwur bekreuzigt. Der Richter hat ihm einen Stuhl hinstellen lassen, was ich anständig von ihm fand, die anderen Zeugen hatten stehen müssen. Ob er die Anklage gehört habe, die hier verhandelt werde, hat er ihn gefragt.
Der Geni hat geantwortet, nein, selber gehört habe er sie nicht, weil man ihn geheißen habe, draußen zu warten, aber man habe ihm berichtet, um was es gehe, und wenn es erlaubt sei, würde er gern etwas dazu sagen. Er habe gerade auf das heilige Kruzifix geschworen, das hätten alle sehen können, und so ein christlicher Schwur gehe ja wohl nicht gut mit der Meinung zusammen, dass seine Seele dem Teufel verschrieben sein solle, entweder oder. Es sei allgemein bekannt, dass der Satan vor allen heiligen Dingen zurückschrecke, wenn ihm, dem Geni, also jemand aus der Kirche eine Schüssel Weihwasser bringen wolle, werde er gern seine Hand hineintauchen oder sich das Wasser sogar über den Kopf leeren, das würde dann wohl endgültig beweisen, dass er mit der Hölle nichts zu tun habe.
Man hatte den Eindruck, der Doctor iuris war froh, dass er es endlich mit einem vernünftigen Menschen zu tun hatte, mit dem er gern ein bisschen diskutieren wollte. Oder vielleicht war es auch nur, weil er jetzt satt war und deshalb weniger ungeduldig. Er hat dem Geni geantwortet, auch ein ganzes Fass voll Weihwasser würde für das Gericht kein endgültiger Beweis sein, man wisse, dass der
Teufel eine alte Schlange sei, ein meisterhafter Lügner, der sich verstellen könne, wie er wolle. Wie es der Geni denn anders als mit dem Teufel erklären wolle, dass er damals an seinem kaputten Bein nicht gestorben sei, sondern sogar ganz gesund aussehe, wo doch Leute, die von solchen Sachen etwas verstünden, nämlich die Iten-Zwillinge, ausgesagt hätten, dass das ohne übernatürliche Hilfe nicht möglich gewesen wäre.
Der Geni hat geantwortet, wie viel die Zwillinge von der Medizin verstünden, könne er nicht beurteilen, er habe das Fach nicht studiert, genauso wenig wie es seines Wissens die beiden getan hätten, die doch eher Kuhschmöcker seien als Physici. Aber in einem Punkt stimme er ihnen zu: Es sei gut möglich, ja, sogar wahrscheinlich, dass er in seiner Krankheit übernatürliche Hilfe erfahren habe, die sei dann aber nicht vom Teufel gekommen, sondern woanders her. Es seien damals so viele Paternoster für seine Heilung gesagt worden, dass die Engel jeden Tag einen ganzen Sack davon hätten vor den Heiland hinlegen können, und der gelehrte Herr sei doch sicher auch der Meinung, dass man einen Menschen gesundbeten könne, man habe das auf alle Fälle schon in vielen Predigten gehört. Außerdem sei so ein abgeschnittenes Bein letzten Endes auch nichts anderes als ein abgesägter großer Ast, wo man die offene Stelle manchmal auch mit Pech verschließe, damit der Stamm dort nicht anfange zu faulen.
Der Richter hat genickt, was ich ein gutes Zeichen fand, aber richtig überzeugt war er noch nicht, sondern hat gemeint, die Argumente, die der Geni vorgetragen habe, seien nicht dumm, aber es liege noch eine andere Aussage auf
dem Tisch, von einem Zeugen, der den Teufel an jenem Tag mit eigenen Augen gesehen haben wolle. Er hat dem Schreiber befohlen, dem Geni Wort für Wort vorzulesen, was der Rogenmoser Kari ausgesagt hatte, und der Geni hat es sich mit ernstem Gesicht angehört, während der Halbbart schon wieder gelächelt hat. Zum Glück hat niemand auf ihn geachtet, die Leute hätten sonst bestimmt gedacht, es sei ein teuflisches Grinsen.
Was er zu diesem Zeugnis zu sagen habe, hat der Richter den Geni gefragt, und der hat gemeint, zu der Geschichte seien zwei Anmerkungen zu machen. Erstens, was den Boten anbelange, den der Halbbart geschickt habe, so sei das sein Bruder Eusebius gewesen, und von einem grünen Leuchten habe er an dem noch nie etwas bemerkt. Im Gegenteil, er könne aus eigener Erfahrung bestätigen, dass das kein Homunkulus sei, sondern ein ganz gewöhnlicher Bub, er habe ihm früher oft genug den Hintern abwischen müssen, und wenn es dann gestunken habe, dann sei das kein Schwefelgeruch gewesen, sondern etwas anderes, das jeder kenne, der kleine Kinder habe. Unter den Zuschauern hat es wieder rumort, aber diesmal ist es ein allgemeines Lachen gewesen, und das Kätterli hat zu mir gesagt, da habe der Geni aber einen Meineid geleistet, sein Bruder sei nämlich gar kein Bub, sondern ein Mädchen. Sie hat das so lustig gefunden, dass sie sich gegen das eigene Gelächter die Faust in den Mund stopfen musste.
Der Geni hat gewartet, bis es wieder still war, und dann hat er gesagt, den zweiten Punkt könne er noch leichter widerlegen. Jemanden im Rauch über dem Birkenpech schweben zu sehen, scheine ihm kein schweres Kunststück
zu sein. Wenn man ihm einen Krug mit Branntwein bringe und ihn den austrinken lasse, mache er sich erbötig, in jeder Ecke der Halle einen Teufel zu sehen oder auch einen Basilisken oder Phönix, was immer gewünscht werde.
Man konnte es von der Galerie aus nicht genau sehen, aber ich glaube, der Richter hat gelächelt, als er das gehört hat. Er verstehe, was der Geni habe andeuten wollen, hat er gesagt, aber trotzdem, ein Zeuge sei ein Zeuge, mit oder ohne Branntwein, und es sei sein Amt, alles in die Waagschale zu legen, was in der Verhandlung gesagt worden sei. Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, den Angeklagten zu vernehmen, aber es sei ein langer Tag gewesen und die Reise hierher anstrengend, deshalb schlage er vor, die Verhandlung auf morgen zu vertagen, er hoffe, der Herr Vogt werde damit einverstanden sein. Es war aber nicht wirklich eine Frage; alle haben gemerkt, dass der Vogt gar nicht anders konnte, als zu allem zu nicken, was der Abgesandte des Bischofs gewollt hat. Der hat auch gar nicht auf eine Antwort gewartet, sondern ist aufgestanden und zur Türe gegangen, so dass der Vogt nur noch hinter ihm her zotteln konnte, alle anderen haben sich angeschlossen wie in einer Prozession.
Als die Reisigen den Halbbart an seiner Kette hinausgeführt haben, hat man von den Zuschauern ein Geräusch gehört wie von einem Raubtier, dem man seine Beute wegnimmt. Die Leute waren nicht einverstanden mit der Verschiebung, es muss ihnen vorgekommen sein, als ob das Teufels-Anneli mitten in einer Geschichte aufgehört hätte zu erzählen, so dass man nicht mehr erfahren hat, ob der Held in die Hölle kommt oder im letzten Moment doch
noch gerettet wird. Viele, am meisten diejenigen, die sich ganz vorne hineingedrängt hatten, wollten überhaupt nicht hinausgehen, und die Vogtsleute mussten sie mit ihren Spießen antreiben.
Ich wollte zum Kätterli sagen, so anstrengend könne der Weg für den Richter nicht gewesen sein, höchstens für die Leute, die ihn getragen haben, aber sie hat mir Zeichen gemacht, dass wir uns beeilen müssen. Das war natürlich richtig, wir mussten unbedingt vor dem Stoffel zu Hause sein, er durfte ja nicht merken, dass wir den ganzen Tag weg gewesen waren.
Auf dem Rückweg haben wir den schnelleren Weg um den Hüsliturm herum nehmen können und sind auch ganz leicht über den großen Platz gekommen. Es waren weniger Leute unterwegs als am Morgen, oder sie waren an einem anderen Ort; in den inneren Gassen ist es immer noch laut zugegangen, und man hat viele Betrunkene angetroffen. Ich weiß aber nicht, ob sie auch alle den Teufel gesehen haben.
Zu Hause hätte ich fast vergessen, wieder die eigenen Kleider anzuziehen, so sehr hatte ich mich an den Mädchenrock gewöhnt. Es hat sich dann gezeigt, dass wir uns ruhig hätten Zeit lassen können, der Stoffel ist nämlich erst viel später nach Hause gekommen. Das Kätterli hat mir vorher noch geholfen, die Werkstatt sauberzumachen, und dabei haben wie uns ein Spiel daraus gemacht, alle Namen aufzuzählen, unter denen man den Teufel kennt, Leibhaftiger, Antichrist, Asmodäus, Luzifer, Satan, Beelzebub und sicher noch andere, die uns aber nicht eingefallen sind. Das Kätterli meint, die verschiedenen Namen kommen daher, dass der Teufel so viele Gestalten annehmen kann, aber ich
glaube, es hat einen anderen Grund. Bei Dingen, vor denen man Angst hat, redet man gern ein bisschen drum herum.
Als der Stoffel endlich gekommen ist, hat er mich gelobt, wie ordentlich die Werkstatt aufgeräumt sei, und das Kätterli hat mir hinter seinem Rücken ein Gesicht geschnitten. Obwohl wir alles selber miterlebt hatten, mussten wir ihn natürlich fragen, was bei der Verhandlung vorgefallen sei, wenn wir keine Neugier gezeigt hätten, wäre ihm das bestimmt seltsam vorgekommen. Was er berichtet hat, wussten wir alles schon, aber ihm sind andere Dinge aufgefallen. So war er sehr beeindruckt davon, wie schnell der Schreiber alles festhalten und später Wort für Wort wiedergeben konnte, das sei eine Kunst, meinte er, die der bestimmt lang habe üben müssen. Auch das Gerät, das der Richter zum Lesen gebraucht hat, hätte er gern einmal in der Hand gehabt und näher untersucht, für feine Arbeiten wäre so etwas bestimmt auch einem Schmied nützlich, hat er gemeint, vor allem, wenn man älter werde und immer längere Arme brauche, um die Sachen in den Abstand zu bringen, in dem man sie klar erkennen könne. »Man nennt es Beryll«, hat das Kätterli gesagt, aber der Stoffel hat gemeint, da müsse sie etwas Falsches aufgeschnappt haben, soviel er wisse, sei ein Beryll ein Stein, und durch Steine könne man nicht hindurchschauen.
Weil er in der Halle zuvorderst gestanden ist, hat er den Halbbart besser beobachten können als wir. Er kenne den Mann unterdessen doch ganz gut, hat er gesagt, seit der ihm damals seinen Daumen geheilt habe, hätten sie sich oft gesehen, aber schlau werde er nicht aus ihm. Da sei der angeklagt, wegen einer Sache, für die einem das
Henkersbeil drohe, und er stehe einfach da und höre sich alles an, mit einem Gesicht, als sei von jemand anderem die Rede. Den Geni hingegen hat er sehr gelobt, man merke, dass der einen richtigen Kopf auf den Schultern habe. »Schade, dass du nicht mit ihm verwandt bist«, hat er mich gezäukelt, »sonst hättest du vielleicht etwas von seiner Vernunft abbekommen. Aber du bist ja leider nur der Sohn von meinem Vetter aus dem Urserental.« Er war richtig gutgelaunt, viel besser, als man es bei der Gefahr, in der sein Freund schwebte, erwarten konnte.
Das Kätterli hat ihn mit unschuldigem Gesicht gefragt, ob denn die Verhandlung bis jetzt gedauert habe, und der Stoffel hat gesagt, nein, sie sei schon eine ganze Weile zu Ende, aber er habe auf dem Heimweg ein paar Freunde getroffen, wir könnten uns nicht vorstellen, wie viele Menschen heute in Ägeri unterwegs seien, und mit denen habe er noch einen Schoppen getrunken. »Oder auch zwei«, hat das Kätterli gesagt, aber so leise, dass ihr Vater es nicht hören konnte. Wer diese Freunde waren, wollte der Stoffel uns nicht verraten, nur dass er sich darauf freue, sie morgen, wenn die Verhandlung weitergehe, wieder anzutreffen, es sei ein Mann darunter, der interessante Sachen zu berichten wisse.