Das vierunddreißigste Kapitel
in dem der Halbbart weitererzählt
»Zu meinem Haus haben sie mich geführt«, sagte der Halbbart, »wie man einen Hochzeiter zu seiner Braut führt, mit Jubeln und Johlen und Singen. Zu meinem Scheiterhaufen haben sie mich geführt. Drei Scheiterhaufen. Ich wusste nicht, für wen die anderen bestimmt waren. Wusste es nicht und wusste es doch. Wusste es. Wusste es. Wusste es.«
Er hat die Worte immer weiter wiederholt, aber die Stimme ist ihm weggeblieben, und er hat nur noch die Lippen bewegt wie in einem stummen Gebet. Der Stoffel hat dem Kätterli etwas ins Ohr geflüstert, und sie ist hinausgelaufen und mit einem Becher Wasser zurückgekommen. Der Halbbart hat ihn genommen, aber er hat nicht getrunken, sondern hat ihn nur angeschaut, als ob er noch nie einen Becher gesehen hätte oder noch nie Wasser. Dann hat er ihn ganz langsam umgedreht und das Wasser auf den Boden laufen lassen. »Damit löscht man kein Feuer«, hat er geflüstert. Er hat den Becher fallen lassen und seine Hand ausgestreckt, man hätte meinen können, da sei etwas vor ihm, das er anfassen wolle. Die Hand hat gezittert, und ein paar Mal ist sie zurückgezuckt. Sein Auge war weit aufgerissen, aber ich glaube nicht, dass er etwas gesehen hat. Nicht mit diesem Auge, eher mit dem, das er nicht mehr hat.
Ich kann nicht sagen, wie lang das so gegangen ist. Mir ist es ewig vorgekommen. Dinge, die einem Angst machen, kommen einem immer ewig vor, aber wahrscheinlich war es nicht einmal so lang wie ein Ave Maria. Dann hat der Geni es nicht mehr ausgehalten und hat gesagt: »Lass uns ein anderes Mal davon reden.« Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und sich in die Höhe stemmen wollen, aber der Halbbart hat einen Schrei getan und hat gerufen: »Nein! Jetzt muss es sein!« Der Geni hat sich wieder hingesetzt, und der Halbbart hat seinen Kopf hin und her bewegt, hin und her, hin und her, wie ich es einmal im Stall vom alten Eichenberger bei einer Kuh gesehen habe, die hätte kalberen sollen, und es ist nicht gegangen.
Als er dann weitergesprochen hat, war es mit einer fremden Stimme, als ob ein anderer für ihn reden würde oder er nicht von sich selber.
»Korneuburg«, sagte der Halbbart. »Die Stadt ist nicht anders als Ägeri. Alle Orte gleichen sich. Wichtige Leute, unwichtige Leute. Solche, die dazugehören, und solche, die nicht dazugehören. Korneuburg hat keinen Vogt, der für Ordnung sorgt, dafür gibt es, etwa eine Stunde entfernt, die Burg Kreuzenstein, wo der Herzog ein Fähnlein Soldaten unterhält. Der verdammte Habsburger mit seinem verlogenen Vogel im Wappen.«
Ich habe den andern angesehen, dass sie nicht verstanden haben, was das für ein Wappenvogel sein sollte, und habe mir vorgenommen, ihnen später zu erklären, was ein Papagei ist, dass er reden kann und sogar die Messe lesen, wenn man ihm die Worte beibringt.
»Vielleicht«, sagte der Halbbart, »wäre es anders
gekommen, wenn die Soldaten im Ort gewesen wären. So hat man sie erst holen müssen, und damit hatte es niemand eilig. Man hätte ja etwas verpassen können, so wie hier niemand meinen Prozess verpassen wollte. Wenn schon einmal etwas passiert, dann will man auch dabei sein. Bei dem Ereignis. Bei dem Wunder. Auch in diesem Punkt ist Korneuburg wie Ägeri. Die Menschen sind überall wie in Ägeri.
»Auch in Korneuburg wohnen die wichtigen Leute nahe bei der Kirche. Nicht weil sie frommer sind als die anderen, sondern weil sie reicher sind und sich die Nachbarschaft leisten können. Wer kein Geld hat, muss sich weit draußen etwas suchen, zwischen der Donau und dem Rohrbach, wo der Boden sumpfig ist und das Land billig. Wenn man jemandem dorthin eine Medizin für seinen Husten bringt, verdient man nichts damit. Aber die Armen werden krank wie die Reichen. Nein, das stimmt nicht. Es gibt Krankheiten, die kommen vom Hunger, und solche, die einen nur anfallen, wenn man zu lang keinen Hunger gehabt hat. Aber Zahnweh bekommen alle Menschen, die Knochen brechen bei allen gleich, und ein Feuer wirft auf jeder Haut dieselben Blasen.«
Er hat den Becher vom Boden aufgehoben und daraus getrunken, obwohl der doch leer war, hat getrunken und getrunken und gar nicht mehr aufhören wollen. Das Kätterli wollte neues Wasser holen, aber der Stoffel hat seine Hand auf ihre gelegt, und sie ist sitzen geblieben.
»Der Antal hatte sein kleines Haus auf dem schlechtesten Boden. Die Feuchtigkeit war nicht gut für seine Krankheit, aber ein Flüchtling muss nehmen, was man ihm zuteilt. Der Weg von dort führt dem Rohrbach entlang, und
auf diesem Weg haben sie mich in die Stadt geprügelt. Zu meinem Haus, das zur Stadt gehört und doch nicht dazugehört. Nicht dazugehört hat.
»Das Haus steht …« Er hat gezögert und neu angefangen. »Das Haus stand«, hat er gesagt, »an dem Platz, wo die Bauern an den Markttagen ihre Früchte und ihr Geflügel verkaufen und viermal im Jahr ihr Vieh. Dort haben sie mich hingebracht. Man hat mich schon erwartet. Das Geräusch der Menge hat man von weitem hören können. Es hat geklungen wie in Salzburg.«
Wieder haben die anderen verwirrte Gesichter gemacht, denn auch von dem, was ihm in Salzburg zugestoßen ist, hat der Halbbart nur mir etwas erzählt. Ich merke immer mehr, dass ich wirklich ein Freund für ihn bin.
»Die Leute sind dagestanden wie aufgereiht«, sagte der Halbbart, »einen Schritt vor allen anderen der Vikar Friedbert. Das ist nicht sein Vorname, den kenne ich nicht. Er heißt Friedbert, wie Hochwürden Linsi Linsi heißt. Der Herr Vikar Friedbert. Unterdessen ist er bestimmt schon Prälat. Oder Dechant. Er wird vorangekommen sein, und das hat er mir zu verdanken. So wie ich ihm mein verbranntes Gesicht zu verdanken habe. Man kann es weit bringen, wenn man bei einem Wunder rechtzeitig zur Stelle ist.«
Ich habe an den Hubertus denken müssen und mich gefragt, ob er unterdessen schon Novize ist.
»Er war nicht so angezogen, wie man ihn sonst auf der Gasse gesehen hat«, sagte der Halbbart. »Er trug sein Messgewand, Albe, Zingulum und Stola. Mit beiden Händen hielt er ein Ostensorium in die Höhe. Nicht mit Gold verziert oder mit Edelsteinen. Eine einfache Schale. Sankt Ägidius ist
keine reiche Pfarrei. War keine reiche Pfarrei. Unterdessen wird es anders sein. Ein Stall voller Pilger ist besser als ein Stall voller Kühe. Sie kommen freiwillig, um sich melken zu lassen, und man muss sie nicht einmal füttern. Außer mit Wundern, und Wunder kosten nichts. Nur ab und zu ein Leben.
»Der Vikar Friedbert, ja. Es war nichts Besonderes an ihm. Ein schmächtiger Mann, die Haare schon dünn. Zu alt, um noch keine eigene Pfarrei zu haben. Einer, der sein Leben lang Geselle bleibt und nie Meister wird. Ich habe ihn manchmal auf dem Markt gesehen, wenn er mit einem Händler um ein Huhn gefeilscht hat und die Bauern heimlich über ihn gelacht haben. Er hat keine schöne Stimme. Ich habe sie nie in einer Predigt gehört, aber ich bin sicher, dass sie die Kirche nicht gefüllt hat. An diesem Tag haben ihm die Leute zugehört. Haben sich um ihn herumgedrängt. Ein paar, vor allem Frauen, sind auf dem Boden gekniet, als ob er ein Bußprediger wäre oder ein Geißler und könne sie allein mit seinen Worten von ihren Sünden befreien. Unterdessen werden sie sich schon daran erinnern, dass sie ein Leuchten um ihn herum gesehen haben. Eine weiße Taube über seinem Kopf. Ein Engel mit einem Schwert. Aber da war nichts. Er war einfach nur der Vikar Friedbert. Hat eine Gelegenheit gesehen und sie ergriffen. Hat sich die Gelegenheit gemacht. Ich kann es nicht beweisen, aber ich weiß, dass er es war.«
Gerade noch hatte er sich jedes Wort abquälen müssen, und jetzt hat er immer schneller geredet. Nicht lauter; ich glaube, es war ihm egal, ob wir ihn gehört haben oder nicht. Vielleicht hat er gar nicht mehr gewusst, dass wir vor ihm saßen. Wie der Geni damals das große Fieber gehabt hat,
hat er auch so vor sich hin gemurmelt, aber bei ihm haben die Worte nichts bedeutet.
»Man denkt immer, dass schlechte Menschen anders aussehen müssten als andere«, hat der Halbbart gesagt. »Dass ihnen die schwarze Seele ins Gesicht geschrieben sein müsse. Es ist aber nicht so, nicht von Natur aus, und darum brennt man einem Betrüger ein Zeichen auf die Stirn. Schneidet einem Dieb ein Ohr ab. Damit man sie erkennt. Damit man vor ihnen gewarnt ist. Vor dem Vikar Friedbert hat mich niemand gewarnt. Niemand und nichts. Hundertmal muss ich an ihm vorbeigegangen sein, und es ist mir nichts aufgefallen. Der Teufel stinkt nicht nach Schwefel. Ich habe ihn gegrüßt, wie man es macht, und er, wie es seine Art war, hat nicht zurückgegrüßt. Hat an einem vorbeigeschaut, unhöflich oder schüchtern, es hat mich nicht gekümmert. Er war nichts Besonderes. Ein Hund, der nicht zum Wachen taugt und nicht zum Jagen. Einer von vielen. Und jetzt stand er da vor seiner Meute, stand da wie ein Feldherr vor seinem siegreichen Heer und hatte sich ein neues Gesicht aufgesetzt. Hatte sich verändert, so wie sich die ganze Welt verändert hatte.«
Der Halbbart hat sich auf den Boden fallen lassen, aber nicht, weil er ohnmächtig geworden ist. Er hat es absichtlich gemacht, weil es zu seiner Geschichte gehört hat. Weil ihn seine Geschichte hineingezogen hat, wie man am Ägerisee in den Sumpf hineingezogen werden kann, wenn man einen Schritt neben den Weg hinaus macht.
»Sie haben mich zu ihm geführt«, hat er gesagt, »haben mir dabei die Arme ausgerenkt, und wie wir beim Vikar angekommen sind, hat mir einer, der mit dem stinkenden
Atem, einen Stoß gegeben, dass ich hingefallen bin. Ich habe aufstehen wollen, habe es versucht, aber einer ist mir auf den Rücken gestanden, und so bin ich halt im Dreck liegen geblieben. Der Vikar hat Schuhe mit Trippen angehabt, sie waren direkt vor meinen Augen, und ich weiß noch, dass ich gedacht habe: Wie hat er sich so teure Schuhe bezahlen können, wo er nicht einmal eine eigene Pfarrei hat? Er muss an allem anderen gespart haben. Sie werden ihm wichtig sein, habe ich gedacht, weil man mit Trippen unter den Schuhen etwas Besseres ist. Man steht über den anderen. In seiner Gewöhnlichkeit hat er vielleicht das ganze Leben davon geträumt, auserwählt zu sein, und die Trippen waren sein Zeichen dafür. An diesem Tag hat er sich zum Auserwählten gemacht.
»Die Leute haben durcheinandergerufen, und ihre Stimmen haben zusammen ein Rauschen ergeben, wie man es manchmal im Frühjahr von der Donau hört, wenn das Eis aufbricht und das Wasser sich wieder befreit. Der Vikar Friedbert muss eine Bewegung gemacht haben, ich konnte sie nicht sehen, weil ich auf dem Boden lag, das Gesicht auf dem Sand, und die Leute sind still geworden, wie ein Trupp Soldaten strammsteht, wenn ihnen ihr Hauptmann das Kommando gibt. Er war bestimmt stolz darauf, dass sie ihm alle gehorcht haben. An diesem Tag war er noch stolz. Am nächsten ist ihr Gehorsam dann schon selbstverständlich für ihn gewesen. Wenn ein unwichtiger Mensch wichtig wird, dann macht das mehr mit ihm als ein ganzes Fass Wein mit einem Säufer.
»Der Fuß auf meinem Rücken ist weggegangen, das wird der Vikar auch mit einer Bewegung befohlen haben, und dann ist der Lederschuh auf mich zugekommen und hat
mich umgedreht, wie man ein erschlagenes Tier umdreht, um zu sehen, ob es schon ganz tot ist oder ob man noch einmal den Knüppel brauchen muss. Ich bin dagelegen und habe zu ihm hinaufgeschaut. Über ihm war der Himmel ohne eine einzige Wolke, ich habe die Augen zudrücken müssen, nicht aus Angst, obwohl ich Angst gehabt habe, sondern weil mich die Sonne geblendet hat. Und dann hat er es gesagt.«
Der Halbbart ist aufgesprungen und hat sich auf seinen Hocker gestellt. Wie eine Heiligenstatue ist er dagestanden und hat auf uns heruntergeschaut. Wie er weitergesprochen hat, hat er wieder eine andere Stimme gehabt, eine ganz laute. Wahrscheinlich hat er den Vikar Friedbert nachgemacht.
»Du hast den Heiland geschändet«, hat er gesagt, »und dafür musst du sterben.«