Das neununddreißigste Kapitel
in dem der Sebi wieder der Sebi wird
Nach seinem ersten Besuch haben wir vom Onkel Alisi eine Weile nichts gehört, nur über den Halbbart Nachricht von ihm bekommen. Dass er jetzt der Oberste in der Familie sein wolle, hatte er ernst gemeint; er hat sich bei uns im Haus zum Schlafen den besten Platz gesichert, direkt neben dem Feuer. Der Poli bewundert ihn über alles, sagt der Halbbart, und läuft ihm hinterher wie ein Gössel der Muttergans, es fehlt nur noch, dass er sich aus lauter Anbetung vom Alisi ein Ohr kaputthauen lässt, so wie er es selber mit dem Schwämmli gemacht hat. Dem Geni, meint der Halbbart, werde das neue Regiment nicht einmal unrecht sein, man habe ihn schon längere Zeit nicht mehr im Dorf gesehen, es heiße, der Stauffacher sei so begeistert von seiner vernünftigen Art, dass er ihn wieder nach Schwyz geholt habe und nicht mehr weglasse, sondern ihn als eine Art Secretarius oder Berater bei sich behalten wolle; er habe auch schon zwei Mal ein Honorarium ins Dorf geschickt, einmal einen Sack Mehl und einmal eine Speckseite. Es sei eine rechte Männerwirtschaft in unserem Haus, sagt der Halbbart, jetzt im Winter, wo es wenig zu tun gebe, sei das egal, aber wie das im Frühling mit der Feldarbeit werden solle, könne er sich nicht vorstellen. Der
Alisi habe viele Gäste, die oft ein paar Tage blieben, alles Soldaten, die nach dem Tod des Königs in keiner Truppe mehr untergekommen waren und deshalb auf dem Heimweg seien; die Welt sei zwar nicht friedlicher geworden, aber die Schwyzer scheinbar als Söldner aus der Mode gekommen. Geld schienen die meisten noch zu haben, nicht so wie der Alisi, und die Batzen seien in ihren Beuteln nicht festgeklebt; da sei immer ein großes Hallo bis in die Nächte hinein, nur schon von dem, was sie an Kerzen verbrauchten, könnte manche Witwe ihre Kinder durchfüttern, und der Kryenbühl Martin könne den Wein gar nicht so schnell heranschaffen, wie sie ihn tränken. Sie sängen auch gotteslästerliche Lieder, aber im Dorf traue sich niemand, etwas dagegen zu sagen, und das sei wohl auch gescheiter; mit drei oder vier altgedienten Soldaten auf einem Haufen lege man sich besser nicht an. Manchmal rauften dem Alisi seine Gäste auch untereinander, und wenn dann hinterher einer einen blutigen Schädel habe, lachten sie nur, wie über einen großen Spaß.
Er halte solche Leute für gefährlich, sagt der Halbbart, nicht weil sie bösartig seien, das seien sie eigentlich nicht, zumindest nicht von Grund auf, sondern weil sie keine Unterschiede mehr machten, ein kleiner Puff oder ein Schlag mit dem Morgenstern, das sei für sie alles dasselbe, und wenn sie einem andern den Hals umdrehten, würden sie nur die lustigen Grimassen sehen, die der beim Ersticken mache, und gar nicht bemerken, dass sie gerade jemanden umgebracht hätten. Der Mensch sei eben ein Tier, das sich an alles gewöhnen könne, meint er, und wenn einer in seinem Leben genügend schlimme Sachen erlebt habe, würden
sie ihm irgendwann selbstverständlich. Bisher sei im Dorf nichts Böses passiert, aber der Alisi komme ihm manchmal vor wie der Muni im Stall vom Eichenberger: Die meisten Tage könne ihn ein Kind am Nasenring herumführen, so friedlich sei er, aber dann, von einem Moment auf den anderen, müsse man sich vor ihm mehr in Acht nehmen als vor dem wildesten Raubtier.
Der Stoffel hat zwar gemeint, so gefährlich komme ihm der Alisi nicht vor, solche Leute vollbrächten ihre Heldentaten mit dem Maul und nicht mit den Händen, aber der Halbbart hat recht behalten, und zwar auf eine Art, die keiner von uns erwartet hat.
An einem Nachmittag ist der Onkel Alisi plötzlich vor der Schmiede auf der Gasse gestanden, noch breitbeiniger als sonst, und hat gerufen: »Eusebius! Eusebius!« – wo wir ihm doch nun wirklich erklärt hatten, warum mich in Ägeri niemand unter diesem Namen kennen darf. Der Stoffel hat ihn schnell in die Werkstatt hereingeholt und das Tor geschlossen; zuerst hat er gemeint, der Alisi sei nur betrunken, aber es war dann noch etwas anderes. Wenn jemand ganz fest stolz auf etwas ist, dann ist das auch eine Art von Besoffensein, und der Onkel Alisi war so begeistert von sich selber, als ob er gerade ganz allein eine Schlacht gewonnen hätte. »Schluss mit Gottfriedli!«, hat er gesagt, »der Gottfriedli ist tot und begraben, ein für alle Mal.« Und »Eusebius!«, hat er noch einmal gerufen, so laut, als ob ich fünf Dörfer weiter weg wäre, und dabei stand ich doch so nah vor ihm, dass ich den Branntwein in seinem Atem habe riechen können. Und wieder und wieder »Eusebius!«, wie ein Schlachtruf war das oder noch mehr wie ein Ruf nach
der Schlacht, wenn man den Kampf schon gewonnen hat und mit Jubilieren nicht mehr aufhören kann. So laut war er, dass das Kätterli die Treppe hinuntergekommen ist, weil sie Angst gehabt hat, es sei mir etwas passiert.
Es sei ihm gerade recht, wenn das schöne Fräulein auch dabei sei, hat der Onkel Alisi gesagt und seine verdrehte Verbeugung gemacht, was er zu berichten habe gehe die ganze Familie an. Es gebe Änderungen in den Familienverhältnissen, hier in Ägeri und bei uns im Dorf. Ab sofort sei ich nicht mehr der Sohn von diesem erfundenen Stoffelvetter aus dem Urserental, mit dieser Märchengeschichte sei Schluss und finito,
sondern ich sei jetzt wieder der Neffe vom Gemeinwebel Alisi, und wem das nicht passe, der könne sich bei ihm melden, er werde ihm die Nachricht gern mit der Faust in den Kopf hämmern. Einen Gottfriedli gebe es nicht mehr, das sei hiermit beschlossen und verkündet, nur noch einen Eusebius, und eben dieser Eusebius werde noch heute mit ihm ins Dorf zurückkehren, wo er hingehöre, Punktum, fertig, Streusand.
»Und der Prior?«, hat der Stoffel gefragt.
Der Onkel Alisi hat ausgesehen, als ob diese Frage ein Geschenk für ihn wäre, und zwar eines, auf das er sich lang gefreut hatte. Wie die Katze, wenn sie die Milch gefressen hat, hat unsere Mutter das genannt, obwohl: Bei ihr wäre nie eine Katze an die Milch herangekommen, dafür hat sie zu gut aufgepasst. Gegrinst hat der Alisi und sein gesundes Auge zugekniffen. »Welcher Prior?«, hat er gefragt.
»Der von Einsiedeln.«
»Einsiedeln hat keinen Prior«, hat der Alisi gesagt und konnte vor Begeisterung über sich selber nicht stillstehen.
»Es muss zuerst ein neuer bestimmt werden, und das kann dauern.«
Wir müssen alle so überraschte Gesichter gemacht haben, als sei ihm gerade ein Horn gewachsen oder eine zweite Nase, und er hat gelacht, oder besser gesagt, er hat »Ha ha ha!« gerufen, jede Silbe wie ein eigenes Wort, und hat gesagt: »Sie werden jetzt aber im Kloster anderes zu tun haben, als gleich einen neuen Prior zu wählen, weil sie zuerst die Beerdigung von dem alten vorbereiten müssen. Einen so wichtigen Menschen kann man nicht verlochen wie eine tote Katze.«
»Woher weißt du, dass er …?«
»Ich war zufällig dabei«, hat der Alisi geantwortet, aber er hat das »zufällig« mit einem so langen Ton ausgesprochen, »zuuuuufällig«, dass man gewusst hat: Es war kein Zufall gewesen. »Sein Maultier ist gestolpert, und er hat sich beim Hinfallen den Hals gebrochen. So ein schönes weißes Maultier. Schade, dass es weggelaufen ist, samt dem Sattel und der vornehmen Schabracke. Man hätte bestimmt eine Menge Geld dafür bekommen. Wirklich schaaaaade.« Auch dieses Wort hat er so in die Länge gezogen, dass alle verstanden haben: Das Maultier war nicht einfach weggelaufen.
Der Bruder Zenobius hat mir einmal erzählt, dass der Prior nie allein ausreitet, sondern sich immer von zwei Novizen begleiten lässt, einer führt das Maultier am Zaum, und der andere geht voraus, und wenn ihnen auf einem engen Weg jemand entgegenkommt, muss er »Platz dem Prior!« rufen und die anderen verscheuchen. »War der Herr Prior denn ganz allein unterwegs?«, habe ich deshalb gefragt.
»Zuerst nicht«, hat der Alisi gesagt, »da waren auch
noch zwei Mönchlein, aber die sind weggerannt, ich weiß auch nicht, warum. Irgendetwas muss sie erschreckt haben. Iiiiirgendetwas.« Er hat wieder gelacht und ein paar Tanzschritte gemacht, eine Art Tanz, die bei uns niemand kennt. »So wie iiiiirgendetwas das Maultier erschreckt haben muss«, hat er gesagt. »Vielleicht war es das Seil, das jemand über den Pfad gespannt hatte. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer sich so etwas Böses ausgedacht haben kann. Oder es könnte die Grube gewesen sein, die jemand hinter dem Seil ausgehoben hat. Unter Soldaten nennt man das einen englischen Graben.«
Der Stoffel hat das Kätterli angesehen, das Kätterli hat mich angesehen, und wir haben alle dasselbe gedacht. Der Onkel Alisi hat ein Stabeisen genommen und damit auf dem Amboss den Takt zu seinem Tanz geschlagen. »Alisi! Alisi!«, hat er dazu gesungen, »danke, Onkel Alisi!« Wenn er wütend ist, kann er einem Angst machen, aber wenn er fröhlich ist, noch mehr.
Später hat man sagen hören, der Prior sei von Räubern überfallen und erschlagen worden, sie hätten seine Begleiter in die Flucht geschlagen und das Maultier gestohlen, aber der Stoffel und das Kätterli und ich wissen, dass es keine Räuber gewesen sind, sondern der Onkel Alisi mit ein paar von seinen Soldatenfreunden. Das Maultier wird unterdessen verkauft sein, die weißen bringen besonders viel Geld, und aus der Schabracke hat sich vielleicht einer der Söldner einen Mantel machen lassen, für diese Leute kann es nicht bunt genug sein. Das Klosterwappen mit dem eingestickten Zeichen vom heiligen Meinrad wird er vorher herausgeschnitten haben, die beiden Raben würden
ihn sonst bestimmt auf den Galgenberg begleiten. Der Alisi scheint so etwas nicht zu fürchten, er hat überhaupt kein schlechtes Gewissen, sondern ist stolz auf das, was er getan hat, und kann nicht verstehen, warum wir ihn nicht loben. Am liebsten würde er den Schwämmli mit seiner Trommel anstellen, der müsste von Dorf zu Dorf gehen und überall die Heldentat ausrufen, so wie es in dem Lied heißt: »Zog alleine in die Schlacht, hat den Sieg nach Haus gebracht.« Die eigene Familie zu verteidigen, sagt der Alisi, sei die höchste Pflicht eines Mannes, und als Soldat lerne man, dass es im Krieg darauf ankomme, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit zuzuschlagen.
Gedanken sind manchmal wie eine Suppe, die schon seit ein paar Wochen über dem Feuer ist, und alle paar Tage wird hineingeworfen, was gerade zur Hand ist, Rüben oder Zwiebeln oder ein paar Knochen, und deshalb schmeckt jeder Löffel, als ob er aus einem anderen Kessel käme. So geht es mir mit dieser Geschichte. In einem Moment bin ich froh darüber, dass der Prior nicht mehr lebt, er war kein guter Mensch, und was er von mir verlangt hat, war eine Sünde, und im nächsten Augenblick denke ich, dass eigentlich ich schuld an seinem Tod bin und bestimmt dafür bestraft werde, auch wenn ich von dem Überfall nichts gewusst habe und auch nicht dabei gewesen bin. Der Herr Kaplan hat mehr als einmal gepredigt, dass der Herrgott seine Rechnungen nach seinen eigenen Regeln aufmacht, und die Ausreden der Menschen hört er nicht einmal. Ich habe auch Angst um den Poli, ich befürchte, dass er bei dem Überfall dabei gewesen ist, aus Bewunderung für den Onkel Alisi und weil ihm solche Sachen ohnehin gefallen.
Damals, bei der Geschichte in Finstersee ist es gut für ihn ausgegangen, aber man kann nicht erwarten, dass er jedes Mal so viel Glück hat. Und im nächsten Moment ist die Angst schon wieder verschwunden, und ich bin nur noch froh, dass ich nach Hause zurückgehen und wieder der Sebi sein darf oder von mir aus auch der Stündelerzwerg, es ist mir gleich, wie sie mich nennen, wenn es nur nicht mehr Gottfriedli ist. Aber dann denke ich daran, wie das Kätterli diesen Namen zu mir sagt mit ihrer lieben Stimme, und dann bin ich wieder traurig, weil ich sie jetzt nicht mehr jeden Tag sehen werde. Der Stoffel sagt, ich kann sie jederzeit besuchen, aber so ein Besuch ist nicht dasselbe wie am Abend mit ihr Schachzabel spielen oder ihr die Haare kämmen.
Nur eben: Zu wollen habe ich nichts, sondern muss machen, was man mich heißt, es war schon immer so, weil ich halt der Jüngste bin, und die anderen können über mich bestimmen. Zuerst musste ich ins Kloster, dann mich in der Schmiede verstecken, und jetzt muss ich mit dem Onkel Alisi zurück ins Dorf. Ich werde dort einen Haufen lustiger Leute kennenlernen, sagt er, aber ich freue mich nicht auf die neue Gesellschaft. Wenn sie dann nur vom Krieg reden, hocke ich wieder so dumm daneben wie im Kloster, wenn sie lateinisch gesprochen haben.