Das zweiundfünfzigste Kapitel
das mit einem Omen anfängt
Man kann nie sicher sein, ob etwas ein Zeichen ist oder einfach ein Zufall, aber was mir passiert ist, muss etwas bedeuten, anders ist es gar nicht möglich, eine Drohung oder eine Warnung, es kann beides sein. Meine weiße Taube ist gestorben, ausgerechnet heute. Ich wollte ihr Körner bringen, da lag sie in ihrem Korb auf der Seite, wie jemand, der sich in sein Schicksal ergibt. Diese Taube war von Anfang an etwas Besonderes, ich habe sie eingefangen, weil sie eine Seele retten sollte, und dafür hätte ich sie heute auch freigelassen. Bei uns im Dorf ist es nämlich der Brauch – der Halbbart, der doch wirklich weit herumgekommen ist, sagt, er hat ihn so noch an keinem anderen Ort kennengelernt –, dass man an einem der zwölf Tage nach Weihnachten eine Taube einfängt und sie nach dem Ende der Prozession an Epiphanias wieder fliegen lässt, weil unser Herr Jesus doch heute am Dreikönigstag getauft wurde, und der Heilige Geist dabei in Gestalt einer Taube erschienen ist. Wenn man die Taube freilässt, gibt es zwei Möglichkeiten: Fliegt sie in einer geraden Linie davon, bis man sie aus den Augen verliert, dann bedeutet das, dass sie den Wunsch, den man ihr mitgegeben hat, dem Himmel überbringt, und dieser Wunsch für die Seele eines Verstorbenen wird dann auch erhört. Wenn sie dagegen auf dem nächsten Hausdach oder Baum gleich wieder absitzt, dann ist das ein schlechtes Zeichen, und man hat seinen Wunsch verfehlt. Die Tauben fliegen aber fast immer davon, das ist einfach ihre Art, vor allem, wenn man sie nicht zu nahe beim Dorf eingefangen hat. Ein paar Buben machen ein Geschäft daraus, sie fangen mehr als eine Taube und verkaufen die überzähligen an Leute, die nicht mehr gelenkig genug für eine eigene Jagd sind und trotzdem beim Herrgott einen Wunsch frei haben wollen. Ich finde das falsch, weil man sich schon selber anstrengen sollte, wenn man vom Himmel etwas haben will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den Herrgott beeindruckt, wenn einer einfach seinen Beutel aufmacht. Im Paradies interessiert sich niemand für Geld, dort bekommt man alles umsonst, hat der Herr Kaplan erzählt.
Ich wollte unbedingt auch so einen Wunsch losschicken, für die kleine Perpetua, die vielleicht im Limbus steckt und die ich dort herausholen möchte. Es heißt zwar, dass das gar nicht geht, einmal Limbus, immer Limbus, aber probieren kann man es, und wo es Taubennester gibt, wusste ich. Ich hatte ein Netz mitgenommen, aber das habe ich dann nicht gebraucht, weil ich etwas ganz Besonderes gesehen habe, eben diese weiße Taube. Solche Vögel sind selten, sie werden meist schon jung gefressen, weil sie für die Bussarde und die Habichte zu gut sichtbar sind. Die Taube saß ganz still auf einem Ast, und ich wusste sofort: Eine bessere Botschafterin für den Himmel kann es überhaupt nicht geben, sie hat dieselbe Farbe wie ein Engel und kommt deshalb bestimmt leicht ins Paradies hinein. Ein besonderes Tier muss man auch auf besondere Weise fangen, mit einem Netz prätsch über den Kopf macht man sich so eine Taube bestimmt nicht zum Freund, es wäre, als ob der Poli in einer seiner Fallen einen Engel einklemmen würde, das wäre zwar ein Fang, aber keiner, der ihm Glück bringen würde. Ich habe der Taube Futter hingestreut, immer wieder, jedes Mal hat sie mich ein bisschen näher an sich herangelassen, und am dritten Tag habe ich sie greifen können, ohne dass sie sich gewehrt hat. Der Halbbart meint, wahrscheinlich sei sie damals schon krank gewesen und nur deshalb nicht weggeflogen, aber ich glaube, sie hatte einfach Vertrauen zu mir. Zwischen meinen Händen habe ich ihren Herzschlag gespürt, er war schneller als der von einem Menschen; vielleicht kommt das daher, dass Tauben kein so langes Leben haben und deshalb alles ganz eilig machen müssen. Ich habe sie in einen Deckelkorb gesteckt, wie man ihn braucht, um ein Huhn auf den Markt zu bringen, und sie hat nie versucht wegzufliegen, auch nicht, wenn ich zum Füttern den Deckel aufgemacht habe. Das hatte aber nichts mit Schwäche zu tun, auch wenn der Halbbart das sagt, sondern mit Vertrauen.
Und jetzt ist sie tot.
Dass es ausgerechnet heute passiert ist, an Epiphanias, wo ich sie doch freilassen wollte, das muss ein Omen sein, so wie damals der Rabe, der dem Poli Unglück bringen wollte, ein Omen war. Nur: Einen Unglücksvogel unschädlich machen, indem man ihn totschlägt, das kann einem gerade noch gelingen, aber um einen gestorbenen Glücksvogel wieder zum Leben zu erwecken, dazu müsste man ein Heiliger sein. Dass meine Taube nicht mehr lebt, kann nur eines bedeuten, nämlich, dass ein Unglück passieren wird, das lasse ich mir von niemandem ausreden. Ich meine auch zu wissen, was für eine Sorte Unglück ins Haus steht. Darum bin ich jetzt unterwegs nach Ägeri, und wenn mich der Onkel Alisi sucht, wird er mich nicht finden. Man kann seinem Schicksal nicht davonlaufen, heißt es, aber probieren will ich es trotzdem, auch wenn hinterher wieder alle sagen, ich sei ein Finöggel und Ins-Hemd-Scheißer. Der Alisi wird mir Vorwürfe machen, ein rechter Soldat drücke sich vor keinem Kampf, aber darauf habe ich meine Antwort parat. Ich habe von nichts gewusst, werde ich sagen, und wo Epiphanias in diesem Jahr auf einen Sonntag falle, habe es mir eine gute Gelegenheit geschienen, den Stof‌fel-Schmied zu besuchen, ich habe sehen wollen, wie es ihm ohne das Kätterli geht. Der Alisi sei übrigens selber schuld, wenn er mich nicht gefunden habe, weil er aus seinen Plänen so ein Geheimnis gemacht hat und mir nichts verraten. Natürlich habe ich trotzdem alles mitbekommen, aber das kann mir niemand beweisen. Geheime Verschwörungen sind wie ein Gestank, den man auch nicht verstecken kann, man muss nicht extra herumspionieren, um Bescheid zu wissen. Und es ist ja nicht so, dass die Geschichte erst gestern angefangen hätte, sondern es geht im Dorf schon länger um nichts mehr anderes; sie flüstern nicht, wenn sie ihre Pläne besprechen.
Manchmal denke ich, dass bei uns lauter Wahrsager und Propheten wohnen, und jeder von ihnen kann Gedanken mindestens so gut lesen wie der heilige Basilius. Es sind nämlich alle überzeugt, sie wüssten genau, was die Delegation des Landammanns beim Abt von Einsiedeln erreicht oder nicht erreicht hat, und dabei ist der Geni seit diesen Verhandlungen noch gar nicht wieder im Dorf gewesen, nicht einmal am Heiligabend, sondern er ist von Einsiedeln direkt zurück nach Schwyz; es hat ihn also keiner fragen können. Und trotzdem erzählt der Bruchi dem Rickenbach und der Eichenberger dem Kryenbühl in allen Einzelheiten, wie die Gespräche abgelaufen seien und warum sie keinen Frieden gebracht hätten, sondern das Gegenteil. Man könnte meinen, sie hätten alle hinter der Türe gestanden oder sich unter dem Tisch versteckt, und jeder hätte Wort für Wort alles notiert, was gesprochen wurde, so wie der Schreiber damals bei der Gerichtsverhandlung. Der größte Prophet von allen ist der Onkel Alisi, der hat vor lauter Stolz auf die eigene Weisheit eine noch breitere Brust als sonst und prälagget überall herum, er habe dem Geni von Anfang an gesagt, mit Reden erreiche man nichts, aber auf ihn habe man ja nicht hören wollen. Und dann schimpft er wieder auf die Habsburger, letzten Endes seien die an allem schuld, was das Kloster mache, so wie eine Mutter daran schuld sei, wenn ihr Sohn am Galgen ende, weil sie ihm immer alles habe durchgehen lassen.
Die Gerüchte besagen, im Vertrauen auf die Unterstützung durch die Habsburger hätten die Klosterleute nicht im kleinsten Punkt nachgegeben, sondern bei allem, was von der Delegation vorgebracht worden sei, ein Pergament auf den Tisch gelegt, in dem bestätigt wurde, dass die strittige Alp oder das Stück Wald, das ein Dorf für sich beanspruchte, schon immer Klosterbesitz gewesen sei und man den Schwyzern nur aus christlicher Nächstenliebe so lang erlaubt habe, dort Vieh zu weiden oder Holz zu schlagen. Diese Dokumente seien aber alle im Skriptorium des Klosters entstanden, sagen die Leute, und müssten nur schon aus diesem Grund nicht beachtet werden; wenn in einer Streitsache nur einer zu schreiben verstehe und der andere nicht, dann könne der mit dem Tintenfass behaupten, was er wolle, es könne ihm niemand das Gegenteil beweisen. Den Züger habe ich sogar ganz giftig sagen hören, der Fürstabt habe bestimmt auch noch ein Pergament, in dem ihm befohlen werde, sich nicht nur die ganze Erde, sondern vor allem das Tal Schwyz untertan zu machen, besiegelt vom Herrgott persönlich. Die Leute in der Delegation hätten argumentieren können, so viel sie wollten, sagen die Leute, sie hätten die althergebrachten Rechte und Gewohnheiten aufzählen können, bis ihnen der Schnauf ausgegangen sei, das habe die Klosterleute alles nicht interessiert, sondern sie hätten die Schwyzer behandelt wie Schnuderbuben, so dass die schließlich ohne den kleinsten Erfolg hätten abzotteln müssen, und die Mönche hätten ihnen noch hinterhergelacht.
Der Halbbart meint, letzten Endes sei es kein Unterschied, ob es wirklich so gewesen sei oder nur so ähnlich oder sogar ganz anders, ein Gerücht müsse nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es müsse nur geglaubt werden. Wenn man die Leute davon überzeugen könnte, Auf-den-Boden-Scheißen bewahre einen vor allen Gsüchti, der Tschumpel-Werni wäre schon längst zum Reichsphysikus ernannt, und die größten Gelehrten würden seinen Weisheiten lauschen. Wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten, dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert hätte. In diesem Fall gefalle den Leuten das Gerücht besonders gut, weil es ihnen erlaube, auf das Kloster zu schimpfen; Menschen hätten immer gern einen Feind, das sortiere einem die Welt angenehm, hier die unseren, dort die anderen.
Den endgültigen Beweis dafür, dass alle an diese Gerüchte glauben, habe ich in der Nacht vom heiligen Papst Silvester erlebt. Bei der Chlepfete, wo man mit Peitschenknallen die Winterdämonen vertreibt, haben die jungen Männer nicht wie sonst alle Jahre »Nachtalb!« oder »Toggel!« gerufen oder sonst den Namen eines bösen Geistes, der verschwinden sollte, sondern man hat ringsumher nur noch »Johannes von Schwanden!« gehört. Statt der Wintergeister ist es jetzt eben der Fürstabt, den sie aus dem Land jagen wollen, bei der Chlepfete noch mit dem Maul, aber morgen mit Streitkolben und Mistgabeln. Ausgerechnet in der Nacht von Epiphanias wollen sie nach Einsiedeln ziehen, aber nicht zum Beten und auch nicht nur die aus unserem Dorf, sondern ganz viele. Was dort genau passieren soll, weiß keiner, aber sie zählen alle schon das Klostergeld, das sie übermorgen im Sack haben wollen. Vom Poli seinem Fähnlein will jeder Einzelne mehr Mönche totschlagen, als im ganzen Kloster wohnen.
Der Onkel Alisi möchte natürlich bei all dem den Anführer machen, nur schon, um es dem von Homberg zu zeigen, den er einmal so bewundert hat und jetzt als Verräter verachtet. Die Dörf‌ler wollen sich beim Galgechappeli nicht weit von Einsiedeln treffen, auf dem Richtplatz, wo auch das Rad steht. Im Kloster haben die Mönche gemunkelt, dass dort in der Nacht die Geister der Gehenkten und Geräderten umgehen, aber das scheint niemanden zu stören.
Es trifft sich schlecht, dass der Geni in Schwyz ist und nicht zu Hause, er wäre der Einzige gewesen, der die Sache noch hätte verhindern können. Oder vielleicht auch nicht; der Halbbart meint, solche Dinge seien wie ein Felssturz, wenn da einmal der erste Stein ins Rollen gekommen sei, könne man nichts mehr aufhalten. Von einem Fremden wie ihm erwartet niemand, dass er bei dem Überfall mitmacht, und ich selber kann Gott danken, dass ich ihnen zu nüütig war, um in ihre Pläne eingeweiht zu werden, also muss ich auch nichts davon wissen. Der Onkel Alisi hat vor lauter Wichtigtun bisher nicht an mich gedacht, aber wenn sie losziehen, wird es ihm einfallen, da bin ich ganz sicher, und er wird mir befehlen wollen, mitzukommen. Er wird mich aber nicht finden, weil ich schon unterwegs zum Stof‌fel bin, und es hat mich niemand weggehen sehen. Bei so einer Sache will ich einfach nicht dabei sein.