Das fünfundfünfzigste Kapitel
in dem ein Engel aus dem Himmel kommt
Der Stoffel, da war ich aber nicht dabei, sondern habe erst später davon erfahren, ist in die Wohnung des Abtes gegangen und hat dort die Einrichtung zerschlagen. Er hat seinen Zorn also herausgelassen, aber das habe man ihm nicht angemerkt, hat man mir erzählt, im Gegenteil: Ganz ruhig sei er vorgegangen, habe die Zerstörung erledigt wie nach einem Plan, zuerst die Möbel, den Tisch, die Bänke, das Bett des Abtes, das Betpult, und dann weitergemacht, bis auch vom letzten Krug nur noch die Scherben und von den Vorhängen nur noch die Fetzen übrig waren. Ich hoffe für ihn, dass seine Wut damit aufgebraucht ist und er wieder sein kann wie früher.
Den Stoffel-Schmied kann ich verstehen, aber von denen, die dabei Zuschauer waren, und es müssen viele gewesen sein, müsste sich doch der eine oder andere gefragt haben, ob so ein Alles-kaputt-Machen im Marchenstreit wirklich weiterhilft. Sie scheinen ihm aber zugesehen zu haben, wie man bei einem Preislupf zusieht, bei dem ein berühmter Kämpfer antritt, da sucht man auch nicht nach einem Grund für den Kampf, sondern interessiert sich nur dafür, ob jeder Griff richtig gefasst und jedes Bein richtig gestellt ist. Die neue Waffe, haben sie hinterher gesagt, habe
sich dabei sehr bewährt, man könne sie wirklich für alles brauchen, und sie wollten sich lieber nicht vorstellen, was man damit in einem Kampf anrichten könne.
Für mich selber war es gut, dass der Stoffel sich von seinem Zorn hat regieren lassen, weil er dadurch nämlich ganz vergessen hat, dass er mich eigentlich als Späher brauchen wollte. Auch sonst hat sich niemand um mich gekümmert, sie waren alle zu sehr damit beschäftigt, nach Beute zu suchen. Die ersten haben schon miteinander gestritten und sich sogar geprügelt, weil sie sich nicht einig werden konnten, wer einen besonders begehrten Gegenstand als Erster entdeckt hatte. Der Onkel Alisi und der Poli waren nirgends zu sehen, ich habe erst später entdeckt, wo sie waren. Ich hätte also weglaufen können, den Weg zurück nach Hause hätte ich leicht gefunden, aber wenn ich nun schon an diesem Ort war, wo ich nie mehr hatte hingehen wollen, wenn man mich noch einmal in dieses verdammte Kloster verschleppt hatte, dann gab es für mich wenigstens etwas zu tun, das mir wichtig war. Vielleicht steht auch das in meinem Lebensplan.
Alle anderen, die das Kloster nicht kannten, sind aufs Geratewohl irgendwo hingelaufen, »immer der krummen Nase nach«, sagt man bei uns im Dorf, aber ich wusste, wo ich hinwollte, und habe den Weg auch im Dunkeln gefunden; meine Fackel hatte ich schon lang jemand anderem in die Hand gedrückt. Zuerst habe ich mich in die Küche geschlichen, wo bisher noch keiner von den Schwyzern gewesen war, vom Schmalzhafen bis zum Salzfass stand noch alles an seinem Platz, und von dort aus wusste ich, wie man die breiten Gänge vermeiden und durch die Lagerräume
zum hinteren Hof kommen kann. Wenn ich die Speisereste für die Schweine aus der Küche habe holen müssen, habe ich jedes Mal versucht, niemandem zu begegnen; es haben immer alle das Gesicht verzogen.
Draußen war es jetzt hell, auch wenn man wegen der Wolken die Sonne nicht gesehen hat. Ich bin denselben Weg gegangen wie damals nach meinem Gespräch mit dem Prior, zuerst am Schweinestall mit seinem Gestank vorbei und dann durch den Obstgarten. Wenn man die kahlen Bäume im Schnee stehen sieht, so ganz nackt, könnte man meinen, sie seien gestorben und würden nie mehr lebendig. Dabei weiß man genau: An dem hier werden wieder Birnen wachsen, an diesem Äpfel und an jenem Kirschen, aber es erscheint einem unmöglich. Es ist wie die Auferstehung der Toten, von der der Herr Kaplan sagt, dass man daran glauben muss, und ich will es ja auch glauben, ich kann es mir nur nicht vorstellen. Der alte Laurenz und seine Vorfahren haben so viele Leute begraben – wo sollen die alle wohnen, wenn sie wieder auferstehen? Und von was sollen sie satt werden, wo doch schon die Lebenden so oft Hunger haben? Zu Streitereien würde es auch kommen, weil bestimmt immer ein noch Älterer das Familienoberhaupt sein will, und das über all die Generationen zurück.
Gleich hinter dem Obstgarten beginnt der Wald, wo ich bei der Eichelmast die Schweine habe hüten müssen. Manchmal haben sie beim Weiden Trüffelpilze gerochen und dann ganz wild in der Erde gewühlt, aber wenn man schnell genug war, konnte man sie ihnen wegschnappen; der Cellerarius gibt einem einen halben Batzen dafür und verkauft sie dann dem Prior für einen ganzen. Ich bin in
den Wald gegangen, weil ich das Grab von der kleinen Perpetua gesucht habe; ich wollte ein paar Paternoster für sie sagen, aber im Schnee konnte ich die richtige Stelle nicht finden. Dieselbe Gegend sieht im Winter ganz anders aus als im Sommer, man merkt es für gewöhnlich nur nicht, weil die Veränderungen nicht von einem Tag auf den anderen passieren, sondern allmählich, so wie unsere Mutter einmal gesagt hat, sie sei doch gerade noch jung gewesen, und jetzt sei sie alt, sie wisse gar nicht, wie das gekommen sei.
Ich wollte schon aufgeben, aber dann habe ich mir überlegt, dass der genaue Ort keine Rolle spielt; wenn ein Soldat im Krieg gefallen ist und man weiß nicht, wo er begraben ist, darf man für ihn auch beten, wo man will, und das Grab der kleinen Perpetua war ja auch kein richtiges Grab, so wie auch ihre Taufe keine richtige Taufe gewesen ist, nur eine flache Grube und nicht einmal in geweihter Erde. Außerdem: Wenn sie im Limbus feststeckt, wird sie nie wissen, ob ich es damals richtig gemacht habe oder falsch, und wenn sie doch ins Paradies gekommen sein sollte, dann ist es ihr egal. Ich bin also einfach irgendwo in den Schnee gekniet und habe mir vorgestellt, dass ich jetzt an ihrem Grab bin. Der Bruder Ambros hätte es bestimmt besser gemacht, der war schon an so vielen Gräbern, aber was man nicht haben kann, muss man sich auch nicht wünschen. Damit das Ganze doch etwas Priesterliches hatte, habe ich den Pergamentfetzen mit der segnenden Hand genommen und damit das Kreuz geschlagen. Dann wollte ich mit dem Paternoster anfangen, aber plötzlich ist mir eingefallen, dass das vielleicht gar nicht das richtige Gebet ist, und wenn man
das falsche sagt, kann es mehr schaden als nützen. Ich habe nicht gewusst: Ist die Perpetua eine arme Seele, für deren Erlösung man beten muss, oder ist es vielleicht genau umgekehrt, sie ist im Himmel oder sogar bei den Heiligen, und man muss nicht für sie beten, sondern zu ihr und sie bitten, dass sie einem hilft? Ich habe dann beschlossen, überhaupt kein Gebet zu sagen, sondern nur mit geschlossenen Augen an sie zu denken; es heißt ja immer, dass nicht die Worte wichtig sind, sondern die Gedanken, die man dabei hat.
Ich habe versucht mich zu erinnern, wie sie ausgesehen hat, als ich sie aus ihrem Tuch gewickelt habe, aber es wollte mir nicht gelingen, dabei ist es doch noch gar nicht so lang her. Ihre Augen hatte ich nie gesehen, weil sie ganz fest zugedrückt waren, ich nehme an, sie wären blau gewesen; soweit ich weiß, ist das bei allen Neugeborenen so. Von den Haaren wusste ich nur noch, dass sie so fein waren wie die von der Berenike, eine Farbe müssen sie natürlich auch gehabt haben, aber die war aus meinem Gedächtnis verschwunden. Nur bei den Lippen hatte ich keinen Zweifel: Blau sind sie gewesen, so wie Lippen nicht sein dürfen.
Während ich noch dabei war, mir im Kopf ihr Bild zu malen, ist plötzlich eine weiße Taube geflogen gekommen, ich wusste nicht, woher, und hat sich auf meine gefalteten Hände gesetzt. Es war aber gar keine Taube, sondern ein Engel, ein ganz kleiner, nicht größer als ein Lumpenbäbi, nur dass ich noch nie ein Lumpenbäbi mit Flügeln gesehen habe. Ich habe kein Gewicht gespürt, nur dort, wo seine nackten Füßchen standen, hat die Haut ein bisschen gekribbelt. Der Engel hat mich angelächelt, und von ganz weit weg hat man leisen Gesang gehört. Wahrscheinlich
hat er aus Versehen die Türe zum Paradies offen gelassen, habe ich überlegt, und was ich höre, sind die himmlischen Chöre. Das Seltsame dabei war, dass ich die Melodie hätte mitsummen können, es wollte mir nur nicht einfallen, woher ich sie kannte.
»Du hast kalte Hände«, hat der Engel gesagt. »Lass mich sie wärmen.«
Da habe ich erst gemerkt, dass ich die ganze Zeit gefroren hatte, aber ganz schnell ist mir wunderbar warm geworden, so wie wenn man im Frühling im Gras liegt und die Sonne scheint nicht zu heiß, sondern gerade richtig.
»Danke, dass du mich getauft hast«, hat der Engel gesagt und war auf einmal so groß wie ein Kind, das schon laufen kann. Er hat auch nicht mehr auf meinen Händen gestanden, sondern ist im Schnee herumgesprungen, und überall, wo er seine Füße hingesetzt hat, sind Blumen gewachsen, solche, die ich kannte, und andere, die ich noch nie gesehen hatte. Die kleine Perpetua war also doch ins Paradies gekommen.
Sie hat von den Blumen gepflückt, einen ganzen Strauß, den hat sie mir hingehalten, und ich wollte ihn auch nehmen. Aber ich konnte meine Arme nicht bewegen, überhaupt nichts konnte ich bewegen, und da hat Perpetua die Blumen in die Luft geworfen, sie sind zu Schmetterlingen geworden und davongeflogen. Ich habe ihnen nachgeschaut, und als sie weggeflogen waren, war auch der Engel verschwunden. Dafür stand jetzt unsere Mutter zwischen den Blumen.
Sie sah nicht so aus, wie sie am Schluss gewesen ist, als die Krankheit sie hässlich gemacht hatte, sondern ganz
jung und schön. Sie hat gelächelt und gewinkt, ich wollte auch zurückwinken, aber ich war wie gelähmt.
Dann ist zwischen den Bäumen ein Drache hervorgekommen, er hat genau so ausgesehen wie auf dem Bild in der Kirche in Ägeri, wo der heilige Georg ihm seine Lanze in den Leib bohrt. Der Drache ist an unsere Mutter herangeschlichen; sie ist auf dem Boden gekniet und hat bei der himmlischen Melodie mitgesungen. Auf einmal hat der Drache nicht mehr Tatzen gehabt wie auf dem Bild, sondern richtige Hände, in einer hat er ein Messer gehalten, das wollte er unserer Mutter in den Rücken stoßen. Ich wusste, dass ich sie hätte warnen müssen, aber auch meine Stimme hat mir nicht gehorcht, sondern ist aus meinem Mund herausgeflogen und in der Luft herumgeflattert, nicht wie ein Schmetterling, sondern wie eine von den Fledermäusen auf dem Rücken vom Onkel Alisi. Der Drache hat von unserer Mutter abgelassen und ist auf mich losgegangen, sein Maul ist immer nähergekommen, heiße Flammen sind daraus herausgeschossen, und mein Gesicht hat gebrannt wie Feuer.
Es war aber kein Feuer, sondern Kälte, weil ich nämlich mit dem Gesicht im Schnee gelegen bin. Wenn man die ganze Nacht wach gewesen ist, kann es einem schon passieren, dass man beim Beten einschläft und seltsame Dinge träumt. Aber an jedem Traum ist etwas Wahres, und dieser konnte zwei Dinge bedeuten: dass ich es damals mit der Taufe der kleinen Perpetua doch richtig gemacht habe und dass unsere Mutter immer noch auf mich aufpasst. Als ich das gedacht habe, ist mir ganz leicht geworden. Ich bin aufgestanden und habe mir die Backen gerieben, weil die halb erfroren waren. Ich war jetzt nicht mehr in meinem Traum,
sondern wieder im Klosterwald, aber den leisen Gesang habe ich immer noch gehört und diesmal auch erkannt. Er ist nicht aus dem Himmel gekommen, sondern vom Kloster her, es waren die gefangenen Mönche, die im Dormitorium gesungen haben, um sich Mut zu machen, und zwar einen Psalm, den ich aus der Vesper kannte: Ad te, Domine, clamabo
. Der Hubertus hat mir einmal übersetzt, was das heißt: »Zu dir, o Herr, flehe ich«, und das schien mir für Leute, denen man die Hände gefesselt hat, ein sehr passender Bibelvers zu sein. Sicher hat ihn der Bruder Zenobius ausgesucht.
Auch noch einen zweiten Gesang habe ich vom Kloster her gehört, den habe ich aber nicht erkannt, sondern nur gedacht: Wenn sie jetzt alle singen, ist das Schlimmste bestimmt vorbei. Aber das Schlimmste hat erst angefangen.