Das siebenundfünfzigste Kapitel
in dem der Sebi schlimme Dinge miterlebt
P ater noster, qui es in caelis.
Lieber Gott, mach, dass ich es vergessen kann.
Sanctif‌icetur nomen tuum.
Ein gutes Gedächtnis ist eine Strafe. Was einmal im Kopf ist, bringt man nicht wieder zum Verschwinden, so wie man in der Fastenzeit immer noch weiß, was auf den Altarbildern drauf ist, obwohl sie mit dem Hungertuch verhängt sind. Auch wenn ich ein uralter Mann werden sollte, noch älter als der alte Laurenz, werde ich immer vor mir sehen, wie der Tschumpel-Werni …
Adveniat regnum tuum.
Dass ich nicht mitgemacht habe, ist keine Entschuldigung. »Wer da weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.« Ich erinnere mich noch genau, wie der Herr Kaplan das vorgelesen hat; ich hatte das Gefühl, er schaut nur mich dabei an. Ich hätte dazwischengehen müssen, auch wenn das nichts genützt hätte; einen tollwütigen Hund kann man nicht mit blutten Händen aufhalten. Versuchen hätte ich es trotzdem müssen, meine Angst überwinden. Aber ich bin eben kein Heiliger und Märtyrer, sondern ein Ins-Hemd-Scheißer. Ein Stündelerzwerg. Ich habe die ganze Zeit gebetet, immer noch ein Paternoster und noch eines, aber das war, wie wenn man mit Flüstern das Gebrüll eines Löwen übertönen wollte.
Fiat voluntas tua.
Vielleicht hat das Bier die Leute verrückt gemacht, oder es hat ihnen einfach von alldem, was sie vorher schon angestellt hatten, das Blut gekocht. Vielleicht waren sie wütend, weil sie nicht alles bekommen hatten, was sie sich zum Stehlen vorgenommen hatten. Aber das Warum spielt keine Rolle; wenn eine Lawine ein Dorf verschüttet hat, macht es keinen Sinn, hinterher nach einem Grund zu fragen. Es war eben so.
Sicut in caelo et in terra.
Sie waren über das Kloster hergefallen wie die Heuschrecken über Ägypten, sie hatten jede Türe aufgebrochen und jede Truhe durchwühlt, nur die Kirche hatte bisher keiner betreten. Es gibt Dinge, die tut man nicht.
Bis man sie dann doch tut.
Ich weiß nicht, wer der Erste gewesen ist, vielleicht war es gar nicht der Frechste oder der Mutigste. Vielleicht hat er nur an der Türe gerüttelt, weil er sich an diesem Tag daran gewöhnt hatte, an jeder Türe zu rütteln, und dann ist ein anderer mit einer Axt gekommen und ein Dritter mit einem Rammbock. Vielleicht hat sich die Türe zu lang gewehrt und ist dadurch zu einem Feind geworden, vielleicht haben sie rotgesehen, so wie der Poli manchmal rotsieht. Vielleicht haben sie vergessen, dass es ein heiliger Ort ist, den sie da angreifen.
Oder sie haben es gewusst, und es war ihnen egal. Weil ihre Gier stärker war.
Panem nostrum cotidianum da nobis hodie.
Irgendwann ist das Holz zersplittert, und der Erste ist hineingegangen. Ich bin sicher, es war ihm gschmuuch dabei, oder er hat sogar gezittert. Aber es ist kein Blitz vom Himmel gekommen, und als er das goldene Kruzifix auf dem Altar angefasst hat, ist seine Hand nicht verbrannt. So könnte es angefangen haben, und dann ist es immer weitergegangen. Habgier ist ein großer Hunger, um ihn zu stillen, begeht man auch alle anderen Todsünden. Wer nichts hat, will etwas, wer viel hat, will mehr. Vor einem der Altäre habe ich eine Decke auf dem Boden liegen sehen, die habe ich gekannt. Sie gehört dem alten Bruder Kosmas, dem Inf‌irmarius, und wir haben ihn immer alle darum beneidet, weil sie so schön warm gibt. Jemand muss sie im Dormitorium gestohlen und den ganzen Tag mit sich herumgetragen haben, bis er dann hier auf wertvollere Beute gestoßen ist. Vielleicht bringt er ein besticktes Pluviale mit nach Hause, und wenn seine Frau ihn fragt, wo er es herhat, sagt er …
Ich kann mir nicht vorstellen, was er ihr sagt.
Et dimitte nobis debita nostra.
Sie haben die Kirche so gründlich ausgeraubt, wie Geißen einen Busch kahlfressen, sie haben die Leuchter gestohlen und das Weihrauchfass, die Teppiche und die Messgewänder. Aber das war nicht das Schlimmste. Das war noch lang nicht das Schlimmste.
Die Ersten haben nur die bestickten Tücher weggerissen; die Reliquienkästchen haben sie sorgfältig wieder auf die nackten Altäre zurückgestellt. Vielleicht haben sie an das gedacht, was dieser Praedicatorenpater damals gepredigt hat, dass einem für so einen Diebstahl in der Hölle die Hand abgeschnitten wird, wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit. Die Ersten haben die Kästchen noch zurückgestellt, aber die Letzten dann nicht mehr. Sie haben das Gold gesehen und die Juwelen, und die Habgier war stärker als die Frömmigkeit. Einen habe ich beobachtet, der hat ein Reliquiar auf dem Altar ausgeleert, bevor er es unter seinem Kittel hat verschwinden lassen. Aus der Entfernung konnte ich nicht erkennen, was herausgefallen ist, es war etwas ganz Kleines, ein Fingernagel oder eine Haarlocke, ich weiß nicht, von welchem Heiligen. Vielleicht hat der Dieb gedacht, wenn er die Reliquie dalässt, wird ihm in der Hölle nicht die ganze Hand abgeschnitten, sondern nur ein Finger, oder die Strafe wird ihm sogar ganz erlassen. Aber mit der Hölle kann man keine Geschäfte machen, das weiß ich aus den Predigten und vom Teufels-Anneli.
Sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Ich kann ihnen nicht vergeben, weil es noch schlimmer geworden ist, immer noch schlimmer. Der Herr Kaplan hat einmal gepredigt, von einer kleinen Sünde zu einer großen geht der Weg immer nur bergab, und diesen Weg sind sie immer schneller hinuntergerannt, bis sie auch vor dem Hochaltar nicht mehr haltgemacht haben.
Ich habe zugesehen und nichts unternommen. Ich hätte den Stof‌fel holen müssen, ich wusste ja, wo er war, der hätte vielleicht etwas machen können. Aber ich bin im Schatten stehen geblieben und habe nicht einmal die Hände vor die Augen gehalten. In einer Anneli-Geschichte ist einmal ein Basilisk vorgekommen; ich weiß nicht, was das für ein Tier ist, aber wenn man ihn ansieht, kann man den Blick nie wieder abwenden. Und die Iten-Zwillinge können ein Huhn dazu bringen, dass es bewegungslos auf dem Boden liegt wie tot, obwohl es noch lebt. So ist es mir gegangen.
Der Onkel Alisi war natürlich der Vorderste. Den Poli habe ich nicht gesehen, und dafür war ich dankbar, weil ich gedacht habe, es ist gut, dass er bei so etwas nicht mitmacht. Er hat aber doch mitgemacht, nur auf andere Weise. Dabei ist der Poli kein schlechter Mensch, nicht im Herzen, aber er macht halt dem Alisi alles nach, so wie der Alisi, kommt es mir vor, dem Teufel alles nachmacht.
Et ne nos inducas in tentationem.
Sie haben die Türe vom Hochaltar aufgebrochen und das Gitter herausgestemmt. Haben sich um die Kostbarkeiten gebalgt wie die Geier um ein Aas.
Haben die Monstranz herausgeholt und die geweihte Hostie auf den Boden geworfen. Die Hostie auf den Boden. Sind mit ihren Schuhen darauf getreten. Dem Halbbart hat man dafür einen Scheiterhaufen gebaut.
Und das war immer noch nicht das Schlimmste. Ich möchte es vergessen können, aber ich kann es nicht vergessen.
Sed libera nos a malo.
Sie haben die Gebeine aus dem Hochaltar herausgerissen. Die heiligen Gebeine.
Ich weiß, Knochen sind nur Knochen, der alte Laurenz hat es mir tausendmal gesagt. Wenn ich ein Grab aushebe, und ich stoße mit dem Spaten auf ein Skelett, dann macht mir das nichts aus. Ich weiß, dass ich den Toten damit nicht beleidige und dass er sich nicht an mir rächen wird. Aber auf dem Gottesacker in unserem Dorf sind nur lauter gewöhnliche Leute begraben; bei Heiligen ist es bestimmt anders, sonst würde man ihre Überreste nicht in kostbaren Gefässen aufbewahren, und sie hätten keine eigenen Tage im Kalender. Man würde nicht vor ihren Altären niederknien und zu ihnen beten.
Pater noster, qui es in caelis, sanctif‌icetur nomen tuum.
Der heilige Meinrad, der heilige Benno, der selige Eberhard und all die anderen – einfach auf die schmutzigen Steinplatten. Sie können uns beschützen, wenn wir in Gefahr sind, oder uns heilen, wenn wir krank sind. Sie helfen uns, wenn wir Hilfe brauchen. Da sind ihre Knochen doch nicht einfach Knochen. Da darf man doch nicht darauf herumtrampeln.
Adveniat regnum tuum.
Ich kenne die Heiligen aus dem Hochaltar gut, der Bruder Fintan hat uns immer wieder ihre Geschichten erzählt. Den Meinrad haben zwei Räuber aus Habgier erschlagen, dabei gab es bei ihm gar nichts zu stehlen, weil er immer alles den Armen geschenkt hat. Und jetzt sind neue Altarräuber gekommen und haben seine Gebeine geschändet. Der Benno hat die Abtei gegründet, was besonders gottgefällig von ihm war, weil ihn seine Feinde geblendet hatten. Eine Blendung, habe ich immer gedacht, ist das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann, aber was sie heute mit seinen Knochen gemacht haben, ist fast noch schlimmer, auch wenn es ihm natürlich nicht mehr weh tut. Und der selige Eberhard …
»Ancora una volta!«, hat der Alisi gesungen.
Wenn die Knochen der Heiligen derart durcheinanderkommen, wie soll das bei der Auferstehung werden? Wenn eine Hand am falschen Arm ist, oder eine Rippe da, wo sie nicht hingehört?
Fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra.
Drei Männer habe ich gesehen, alles alte Soldaten, die haben mit einem Schädel gespielt wie mit einem Ball, haben ihn einander zugeworfen und gelacht. Es war ein kleiner Schädel, der eines Kindes, und ich glaube, ich weiß, wem er gehört hat. Es muss der Kopf des Märtyrerknaben Justus gewesen sein, der Kopf, den der römische Statthalter ihm hat abschlagen lassen und den er dann vom Boden aufgehoben und weggetragen hat. Damit haben sie gespielt, und der Himmel hat nicht Feuer und Schwefel über sie geschickt wie damals in Sodom. Der Praedicatorenpater aus Zof‌ingen damals hat erklärt, wenn ein Mensch eine Todsünde begeht und scheinbar bekommt er keine Strafe dafür, dann ist er nicht etwa geschloffen, sondern es wird ihm etwas viel Grausameres passieren, nämlich in der Hölle. Dem Onkel Alisi wird dort vielleicht sein Auge noch einmal ausgestochen, wieder und wieder und wieder. »Bis in alle Ewigkeit werden Schmerzen sein täglich Brot sein«, hat der Pater gesagt.
Panem nostrum cotidianum da nobis hodie.
Und es ist noch schlimmer gekommen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich es vergessen könnte.
Der Poli hat den Tschumpel-Werni an der Hand in die Kirche geführt. Zum Alisi hat er ihn geführt und sich dann zweimal mit der Faust auf die Brust geklopft; »Befehl ausgeführt«, sollte das heißen, er hat das dem Soldaten abgeschaut, den der von Homberg ins Dorf vorausgeschickt hat. Der Werni hat ängstlich ausgesehen, aber der Alisi hat seinen Arm um ihn gelegt, ganz väterlich, und dann hat er ihm etwas ins Ohr geflüstert.
Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Der Tschumpel-Werni hat über das ganze Gesicht gestrahlt, als hätte der Alisi ihm ein großes Geschenk gemacht und er könne nicht glauben, dass es wirklich für ihn bestimmt sei. Der Alisi hat ihm zugenickt und der Poli und alle anderen auch.
Et ne nos inducas in tentationem.
Der Werni hat seinen Kittel hochgehoben und ist über dem Knochenhaufen in die Hocke gegangen. Und dann …
Ich möchte es vergessen, aber ich werde es nie vergessen können.
Als der Haufen gemacht war, hat der Tschumpel-Werni in die Hände geklatscht, und alle haben es ihm nachgemacht. Geklatscht haben sie und gelacht und sich gefreut.
Erst dann ist mir das Gemälde über dem Hochaltar aufgefallen. Der Heilige Geist ist dort als weiße Taube gemalt.
Sed libera nos a malo.
Amen.