Das zweiundsechzigste Kapitel
in dem der falsche Wein der richtige ist
Ich habe geholfen, dass der alte Eichenberger doch noch friedlich einschlafen konnte. Wahrscheinlich komme ich dafür in die Hölle, aber das ist mir egal, in den Himmel lassen sie mich sowieso nicht hinein.
Der alte Eichenberger war kein netter Mensch, wie er das Dorf mit seinen Pferden erpressen wollte, war gemein, und ich hatte wirklich keinen Grund, etwas für ihn zu tun. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, wie er gewimmert hat. Das ganze Dorf hat es nicht mehr ausgehalten. Wenn seine Kinder ihn einmal für einen Moment allein gelassen haben und aus dem Haus gekommen sind, haben sie Gesichter gemacht, als ob sie selber einen Priester brauchen würden, der für sie die Sterbegebete spricht. Das Mitleid mit ihnen war im Dorf so groß, dass der Kryenbühl Martin ihnen einen Krug Wein vorbeigebracht hat, ohne Geld dafür zu verlangen, das hat man bei ihm noch nie erlebt.
Ich habe mir den Betrug aus Mitleid ausgedacht, und ich schäme mich nicht dafür. Wenn der heilige Petrus mir einmal das Himmelstor nicht aufsperren und mich in die Hölle schicken will, werde ich zu ihm sagen: »Natürlich war es eine Sünde, eine schlimme sogar, aber eigentlich war es gar nicht meine, sondern die von diesem Bischof aus Konstanz,
Gerhard heißt er. Der war es, der den alten Eichenberger so grausam gequält hat, und einen Menschen nicht in Frieden sterben lassen ist genauso schlimm, wie wenn man ihn in den Tod treibt. Wenn ich in die Hölle muss, dann gehe ich halt«, werde ich sagen, »aber dieser Bischof gehört auch dorthin, und seine Hand, die das Interdikt unterschrieben hat, muss jeden Tag neu von Ratten abgenagt werden.« Das Dumme ist nur, dass der Bischof wahrscheinlich vor mir am Himmelstor ankommen wird, er ist schon alt, habe ich gehört, und wenn die Engel seine Mitra und den Krummstab sehen, reißen sie das Tor weit auf, und dann sitzt er für alle Zeit am Tisch der Bischöfe und Äbte, wo jeder Platz der oberste ist, und in der Schüssel, die vor einen hingestellt wird, liegen immer nur die fettesten Stücke. Unterdessen glaube ich, was der Hubertus sagt, dass in der Kirche für die Oberen andere Regeln gelten als für gewöhnliche Menschen.
Ja, es war eine Sünde, und dass ich auf diese Sünde stolz bin, ist gleich noch einmal eine. Aber darauf kommt es auch nicht mehr an. Wer nicht mehr mitspielen darf, muss sich auch nicht an die Regeln halten.
Der Hubertus ist wieder einigermaßen gesund, nur seine Nase sieht immer noch schlimm aus; der Halbbart meint, das wird auch nicht mehr besser. Ich frage mich, wie das einmal bei der Auferstehung wird, wenn so eine Nase im Grab nicht neben dem Rest des Körpers liegt. Muss der Auferstandene sie dann suchen gehen? Oder wenn er auf einem Kreuzzug gewesen ist, und im Heiligen Land hat ihm ein Sarazene einen Finger abgehackt, muss er dann die weite Reise noch einmal machen, um mit ganzem Körper
in die Ewigkeit zu gehen? Oder auf einem Schlachtfeld, wo ganze Haufen von abgehauenen Armen und Beinen durcheinanderliegen, da nimmt sich dann vielleicht einer das falsche Bein, oder er schnappt sich einen Arm, der mehr Kraft hat als sein eigener, und kaum ist die Auferstehung vorbei und alle Sünden vergeben, fangen sie schon wieder an zu streiten. Vielleicht sind aber die fehlenden Körperteile von selber wieder am rechten Ort, das könnte auch sein; wo die Auferstehung sowieso ein Wunder ist, wird es darauf auch nicht mehr ankommen. Mir kann es egal sein; wer in der Hölle sitzt, darf sowieso nicht auferstehen.
Egal.
Meine Idee war verrückt, das habe ich von Anfang an gewusst, aber Christenmenschen zu verbieten, dass sie die Messe hören oder die Beichte ablegen dürfen, das ist noch viel verrückter. Ich habe nicht gleich mit dem Hubertus darüber gesprochen, sondern zuerst den Geni gefragt, ob er es für möglich halte, dass eine Sünde gleichzeitig auch eine gute Tat sein könne. Er hat gemeint, in seiner Zeit beim Landammann habe er gelernt, dass es bei den meisten strittigen Sachen kein klares Richtig oder Falsch gebe, sondern nur verschiedene Meinungen. Den Halbbart habe ich auch gefragt; statt einer Antwort hat er mir die Haare verwuschelt und gesagt, dass ich vernünftig denken könne, habe er schon bei unserer ersten Begegnung festgestellt, aber jetzt merke er, dass ich außerdem auch noch schlau sei. Er hat mir erlaubt, dass ich in die Lederflasche, die er auf seiner Flucht ein Jahr lang bei sich getragen hat, ein bisschen Wein einfülle; das hat es für meinen Plan gebraucht.
Erst dann habe ich dem Hubertus erzählt, was ich mir
überlegt hatte, und es hat bei ihm besser gewirkt als die teuerste Medizin. Er ist sofort aufgestanden, zwar noch ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber gleichzeitig so giggerig auf meine Idee, dass er am liebsten gleich losgelaufen wäre, um sie auszuprobieren. Ich musste ihn festhalten, sonst hätte er im Übereifer alles kaputt gemacht und der alte Eichenberger hätte noch ewig nicht sterben können. Ohne ein bisschen Verkleidung wäre es nicht gegangen; einer, der schon als Abtsmündel zwei Skapuliere zum Wechseln hatte, hätte das eigentlich selber merken müssen. An seiner abgeschnittenen Nase konnte man nichts machen, aber die Kleidung ließ sich ändern. Mit den Lumpen, in denen er angekommen ist, sieht er aus wie ein Vagant, das hätte zu meinem Plan nicht gepasst. Ich habe ihm also das Habit gebracht, das mir damals der Bruder Fintan für meine Audienz beim Prior gegeben hat; mit der Kapuze über dem Kopf, das war meine Überlegung, würde man die kaputte Nase fast nicht bemerken. Ich selber brauche das Habit nicht mehr; bevor ich noch einmal ins Kloster gehe, müssen die Geißen zu reden anfangen und die Erdbeeren an den Bäumen wachsen.
Der Hubertus hat gesagt, ich dürfe nicht hinschauen, während er sich umzieht, und ich habe ihm den Gefallen getan, in dieser Beziehung ist er seltsam. Er hat das schon in Einsiedeln so gehabt, dass ihm sein blutter Körper peinlich war. Dabei sind wir doch alle gleich gemacht, und während er mit seinem Fieber gekämpft hat, habe ich ihn auch an den Stellen gewaschen, die er jetzt unbedingt verstecken wollte. Aber unsere Mutter hat immer gesagt, am meisten tut man für den Frieden, wenn man jeden auf seine Art verrückt
sein lässt, also habe ich mich weggedreht und ins Feuer geschaut. Es hat nicht lang gedauert, und der Hubertus hat mit einer ganz feierlichen Stimme gesagt: »Ego sum, nolite timere.«
Das habe ich zwar nicht verstanden, aber es hat sicher bedeutet, dass ich mich umdrehen durfte, und obwohl ich mir die Verkleidung doch selber ausgedacht hatte, habe ich gestaunt. Der Hubertus war ein ganz anderer Mensch geworden. Wie er so dagestanden ist, die Hände vor dem Bauch gefaltet, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, er könne etwas anderes sein als ein Mönch, und zwar einer von den ehrwürdigen. Dass er immer noch schwach war und sich deshalb nur langsam bewegen konnte, hat auch geholfen, er hat dadurch älter gewirkt, als er ist. »Und wenn mich doch jemand erkennt«, hat er gesagt, »wird mir schon eine Ausrede einfallen.« Daran habe ich nicht gezweifelt; in Ausreden ist der Hubertus schon immer gut gewesen.
Ich bin nicht mit ihm durchs Dorf gegangen, die Leute hätten nur dumme Fragen gestellt. Aber nachgeschlichen bin ich ihm und habe von weitem gesehen, wie er beim Haus vom Eichenberger die Kapuze tiefergezogen und an die Türe geklopft hat. Seine Worte, als die Cilly ihm aufgemacht hat, habe ich nicht verstehen können, dafür war ich zu weit weg, es muss so etwas gewesen sein wie: »Ich bin gekommen, um einem armen Sünder die Beichte abzunehmen.« Gleichzeitig hat man immer noch das Wimmern vom alten Eichenberger gehört, dann ist der Hubertus hineingegangen, und das Wimmern hat sehr bald aufgehört.
Er weiß alle Gebete auswendig, aber wahrscheinlich hätte es auch gelangt, wenn er sich nur hingesetzt hätte und
die Hand vom Eichenberger gehalten. Er hätte irgendetwas vor sich hinmurmeln können, egal was, und wenn es nur ein Abzählvers gewesen wäre, aber wie ich den Hubertus kenne, hat er alles genau so gesagt, wie es an einem Sterbebett der Brauch ist; er war schon immer stolz darauf, dass er solche Sachen nachmachen kann. Auch die Beichte hat er dem alten Eichenberger abgenommen, er habe zwar kein Wort verstanden, sagt er, aber bei der Beichte komme es aufs Zuhören an und nicht aufs Verstehen, und nach dem Ego te absolvo
habe der Kranke ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht gehabt. Dann hat ihm der Hubertus ein paar Tropfen aus der Lederflasche als Viaticum auf die Lippen geträufelt, und das Sterben sei dann nur noch ein langes Ausatmen gewesen. Natürlich war es kein geweihter Wein, sondern einfach einer vom Kryenbühl, im Himmel haben sie das bestimmt gemerkt, aber für den Eichenberger hat es keinen Unterschied gemacht. Weil es der falsche Wein war, hat er ihm wahrscheinlich den Weg ins Jenseits nicht wirklich leichter machen können, den aus dem Leben hinaus aber schon. Der Hubertus war als Priester so falsch wie das Viaticum, aber eine gute Tat hat er auf jeden Fall getan, auch wenn er vom Himmel dafür bestraft wird.
Hinterher, als sich alle bei ihm bedankt haben, hat der kleine Eichenberger ihn erkannt und gefragt, ob er nicht der Landstreicher sei, den sie für einen Brunnenvergifter gehalten und fast totgeschlagen hätten. Doch, hat der Hubertus gesagt und hat das Kreuz geschlagen, aber der Eichenberger müsse sich dafür nicht entschuldigen, er habe ihm vergeben und sei ihm sogar dankbar. Er sei damals in Lumpen herumgelaufen, hat er weiter fabuliert, um Buße
zu tun, nicht für eigene Taten, sondern für solche, die er nicht habe verhindern können, und die Prügel hätten diese Buße bestimmt noch wirksamer gemacht. In Wirklichkeit sei er ein Benediktinermönch, nicht aus Einsiedeln, sondern aus Engelberg, das sei ein ganz anderes Kloster und habe mit den Schwyzern nie im Streit gelegen. In Einsiedeln sei er nur zu Besuch gewesen, mit einer Botschaft seines Abts, und als dann der Überfall passiert sei, habe er getan, was jeder Christenmensch habe tun müssen, nämlich versucht, das Allerheiligste zu beschützen. Ganz allein und mit blutten Händen habe er sich den Kirchenschändern entgegengestellt, da sei einer auf ihn losgegangen und habe ihm die Verletzung im Gesicht zugefügt. Wer dieser Angreifer gewesen sei, könne er nicht sagen, er wisse nur, dass der eine große Narbe im Gesicht gehabt habe und über einem Auge eine Klappe. Die Leute haben natürlich alle an den Onkel Alisi gedacht, den der Hubertus überhaupt nicht gekannt hat, sondern ich hatte ihm nur von ihm erzählt, und weil sie den Alisi nie gemocht haben und mit dem, was der in der Klosterkirche angestellt hat, nicht einverstanden gewesen waren, hat die Geschichte für sie gut zusammengepasst, und sie haben sie geglaubt.
Der Hubertus hat dem alten Eichenberger zu einem friedlichen Tod verholfen, aber mit seiner erfundenen Geschichte hat er fast noch etwas Schwierigeres erreicht, nämlich, dass er im Dorf jetzt ein Held ist und ihn seine abgeschnittene Nase nicht mehr zum Verbrecher macht, sondern fast schon zum Märtyrer. Als er dann auch noch angeboten hat, trotz des Interdikts eine Totenmesse für den alten Eichenberger zu lesen, und zwar, weil die Kirchen ja
verschlossen sind, direkt am Grab, da hat nicht viel gefehlt, und sie hätten ihm aus Dankbarkeit die Füße geküsst. Er selber weiß zwar sehr genau, dass er kein echter Priester ist und auch keine Wunder tun kann, aber das stört ihn überhaupt nicht, vorher war er ein Biber, und jetzt ist er eben ein Fisch, für ihn macht das keinen Unterschied. Wenn er schon nicht Bischof oder Kardinal werden kann, so gefällt ihm seine neue Rolle ebenso gut, er wird allgemein bewundert und kann sich jeden Tag neu aussuchen, von wem er sich einladen oder beschenken lassen will. Er will jetzt von Dorf zu Dorf ziehen, immer hinter den Berichten über seine Heldentaten her, will hier ein Kind taufen und dort eine Beichte hören, er stellt sich schon vor, wie ihm die Leute Boten entgegenschicken, damit er auch zu ihnen kommt, so wie sie es beim Teufels-Anneli machen.
So groß ist der Unterschied zwischen den beiden nicht. Sie halten sich an dieselbe Regel: Eine gute Geschichte ist besser als eine schlechte Wirklichkeit.