Das neunundsechzigste Kapitel
in dem der Sebi eine Lektion bekommt
Aus Bilsenkraut und Alraune macht man Tinkturen gegen Schmerzen, das weiß ich vom Halbbart. Das Anneli hat gesagt, sie brauche so ein Mittel, weil es ihr in der linken Schulter ganz fest weh tue, aber sie hat sich die eigene Ausrede nicht gut gemerkt, und ein paar Tage später sollte es plötzlich die rechte gewesen sein. Schmerzen sind aber nicht etwas, bei dem man sich irren kann; wenn jemand Zahnweh hat, meint er nicht, es sei ein Mückenstich am Bein. Ich habe also gewusst, dass sie mich angelogen hatte, ich konnte mir nur nicht erklären, warum. Für Schmerzen muss man sich ja nicht schämen.
Als sie mir schließlich verraten hat, wofür sie das Mittel wirklich braucht, war dieses Vertrauen für mich, als ob ich zum Ritter geschlagen würde oder vom Novizen zum Mönch gemacht. Sie habe mich zuerst besser kennenlernen wollen, hat sie gesagt, habe sicher sein müssen, dass man mir so ein Geheimnis anvertrauen könne, jetzt gebe es für sie in diesem Punkt keinen Zweifel mehr, ihr scheine, ich sei ein zuverlässiger junger Mann, vernünftiger, als man das in meinem Alter erwarten würde, und schließlich habe ich ja auch Lehrgeld bezahlt.
Zu dem Sud, den sie sich aus den Wurzeln kocht, gehört außer dem Bilsenkraut und der Alraune auch noch eine geheime Zutat, mit einer Wirkung, an die ich nie im Leben gedacht hätte, und dabei bin ich doch kein schlechter Geschichtenerfinder. Das Anneli bewahrt sie in einem Beutel unter ihrem Kleid auf, und einmal habe ich beobachtet, wie sie etwas davon in den Kessel geworfen hat. Sie hat mich damals nicht bemerkt, und ich habe auch nichts gesagt; man muss auch die Geheimnisse bewahren, die einem nicht anvertraut werden. Passiert ist es, ohne dass ich hatte spionieren wollen. Ich war losgegangen, um am Brunnen Wasser zu holen, hatte mir aber auf dem Weg einen Dorn in den Fuß getreten, so tief, dass ich ihn nicht selber herausziehen konnte. Deshalb bin ich früher zurückgekommen und habe ihr durch das Fenster zuschauen können. Was sie aus ihrem Beutel herausholte, hat ausgesehen wie Roggenähren, ich habe mich noch gewundert, dass sie so etwas Gewöhnliches vor mir versteckt; vielleicht hat es etwas mit einem Aberglauben zu tun, habe ich gedacht. Dann bin ich ein paar Schritte von der Hütte weggehumpelt und habe ihren Namen gerufen, damit sie denken sollte, ich sei gerade erst gekommen.
Es waren aber keine gewöhnlichen Roggenähren.
Ein paar Wochen später hat mich das Anneli dann eingeweiht. Bevor sie mir alles gezeigt hat, habe ich ihr hoch und heilig versprechen müssen, das Geheimnis niemandem zu verraten, sie wolle nicht auf ihre alten Tage noch als Zauberin angeklagt werden, obwohl es mit Zauberei überhaupt nichts zu tun habe, es sei einfach ein Rezept, das ihr einmal eine Kräuterfrau verraten habe. Aber es ist eben auch kein gewöhnliches Rezept.
Es geht so: Die Wurzeln vom Bilsenkraut und der Alraune werden gewaschen und kleingeschnitten. Welche Form die Alraunenwurzel hat, ist gleichgültig, sagt das Anneli, auch wenn manche Leute meinten, sie sehe aus wie ein Gnom, und je nachdem, wie der sich verrenke, habe sie jedes Mal andere Kräfte. Man gießt Wasser in einen Kessel, nicht mehr, als was einen Krug dreimal füllt, und gibt die Wurzelstücke und eine Handvoll Mohnsamen dazu. Den Kessel lässt man so lang über dem Feuer hängen, bis die Mischung anfängt, dickflüssig zu werden. Dann nimmt man ihn vom Feuer, und während der Sud abkühlt, gibt man die geheime Zutat dazu. Es sind tatsächlich Roggenähren, aber keine gewöhnlichen, wie ich gedacht hatte, sondern solche, wie sie unsere Mutter immer zwischen den anderen herausgesucht und ins Feuer geworfen hat, weil an ihnen etwas ist, das man den Hahnensporn nennt, und wenn man davon isst, wird man krank. Damit habe unsere Mutter recht gehabt, hat das Anneli bestätigt, man könne die verschiedensten Krankheiten davon bekommen, sogar das Antoniusfeuer, habe ihr damals die Kräuterfrau gesagt, aber wie immer in der Medizin komme es auf die Menge an. Das habe ich auch schon vom Halbbart gehört, eine Sache, die schädlich oder sogar tödlich ist, wenn man zu viel davon nimmt, kann in einer kleinen Menge heilsam und nützlich sein. Man darf höchstens drei dieser besonderen Ähren in die Mischung geben, auf keinen Fall mehr, sonst hat das böse Folgen. Auch so bekomme man eine Art Fieber, hat das Anneli gesagt, das halte aber nur einen Tag lang an oder manchmal auch zwei, dann gehe es von selber vorbei, und alles sei wieder wie vorher. Nur fürchterlichen Durst habe man, dafür überhaupt keinen Hunger mehr, man ekle sich sogar vor Dingen, die man immer gern gegessen habe. Solang das Fieber aber andauere, und das sei das große Geheimnis, habe es eine ganz besondere Wirkung, etwas, das niemand verstehen könne, der es nicht selber erlebt habe. Nicht mal sie selber, die doch im Erzählen geübt sei, könne es recht beschreiben.
Das Anneli mischt den Sud mit Branntwein, das gehört aber nicht zum Rezept, sondern sie macht es, weil er dann weniger ekelhaft schmeckt. Sie trinkt einen Becher davon, nicht mehr, und dann schläft sie ein. »Es ist aber kein richtiger Schlaf«, sagt sie, »es sieht nur von außen so aus. In mir drin bin ich hellwach und erlebe ganz viele Dinge, nicht so verschwommen wie in einem Traum, sondern ich kann alles genau sehen und hören, riechen und schmecken und manchmal sogar auf Arten wahrnehmen, für die es keine Worte gibt, farbige Gerüche und Töne, die einen anfassen. Ich sehe Dinge, die es gar nicht geben kann, oder doch nicht so, wie sie mir erscheinen. Du musst dir das vorstellen«, hat das Anneli gesagt, »als ob es neben der gewöhnlichen noch eine andere Welt gäbe, in der nichts so ist, wie du es gewöhnt bist, eine Welt mit einer eigenen Sonne und einem eigenen Mond und eigenen Sternen. Diese Welt ist durch eine feste Mauer von der unseren getrennt, es gibt keinen Weg, die Absperrung zu überklettern, aber wenn man von diesem Trunk genommen hat, kann man hineinschauen wie durch ein Schlüsselloch. Manchmal denkt man zuerst, hier ist ja gar nichts Besonderes, aber dann sind die vertrautesten Dinge plötzlich fremd, eine Blume sieht zuerst aus wie eine gewöhnliche Blüte, aber plötzlich fängt sie an zu reden oder zu singen. Oder der Himmel wechselt seine Farben, als ob er aus lauter Regenbogen bestünde. Einmal habe ich einen Vogel gesehen, der hatte vier Flügel, zwei am Rücken und zwei am Bauch; wenn er durch die Luft geflogen ist, hat er sich gedreht wie ein Wirtel, einen bunten Faden hat er hinter sich hergezogen, der ist immer länger geworden, und wenn er einen Baum gestreift hat, sind dort Früchte gewachsen. Auch den Teufel sehe ich manchmal«, hat das Anneli erzählt, »aber trotzdem glaube ich nicht, dass diese Bilder aus der Hölle kommen, ich sehe nämlich auch Engel, und manchmal tanzen die beiden miteinander.«
Beim Reden hat sie ins Leere geschaut, wie sie es auch macht, wenn sie ihre Geschichten erzählt, als ob dort, wo sie hinschaut, ein Buch wäre, und nur sie verstünde es zu lesen. »Natürlich«, hat sie gesagt, »sind das alles nur Bilder, aber farbigere, als man sie je in einer Kirche gesehen hat. Und genau solche Bilder brauche ich für mein Handwerk, so wie ein Schindelmacher Holz braucht oder ein Zaumzeugmacher Leder.«
»Das verstehe ich nicht«, habe ich gesagt, und ich habe es auch wirklich nicht verstanden.
»Darum bist du Lehrbub und nicht Meister«, hat das Anneli gesagt. »Am Anfang meint jeder, Geschichten seien einfach da, oder man könne sie aus dem Nichts heraus erfinden, so wie du ohne Anstrengung ein paar Geschichten über deinen Geldbeutel erfunden hast. Aber sie kommen nicht aus dem Nichts, sondern immer aus etwas, das im Kopf schon vorhanden ist. Mit einem Faden, der keinen Anfang hat, kann man nicht nähen. Du hast in deinem Leben noch nicht so viele Geschichten erzählen müssen, und darum denkst du, so ein Anfang findet sich immer. Aber auch der größte Baum ist einmal leergepflückt, und dann braucht man den Schlüssel zu einem Obstgarten, in dem noch etwas wächst. Weil die Leute nämlich immer wieder neue Geschichten von uns hören wollen. Wer seine Zuhörer nicht mehr zu überraschen vermag, ist wie ein Pferd, das seinen Wagen nicht mehr ziehen kann. An ein solches Tier will kein Bauer auch nur ein einziges Büschel Heu verschwenden.«
»Darf ich den Trunk probieren?«, habe ich gefragt, aber das wollte das Anneli auf keinen Fall. Sie hat sogar an ihre Brust gefasst, dort wo unter dem Kleid der Beutel mit den Hahnenspornähren hängt, als hätte ich ihr die wegnehmen wollen und sie müsse sie beschützen. »Jetzt brauchst du ihn noch nicht«, hat sie gesagt, »und dafür solltest du dankbar sein. Ich hoffe für dich, dass es noch sehr lang dauern wird, bis du ihn nötig hast. Aber wenn ich schon lang im Grab liege und du selber viele Jahre von Dorf zu Dorf gezogen bist – dann wird der Moment kommen, wo du verzweifelt nach einer neuen Geschichte suchst, und es will dir ums Verrecken keine einfallen. Dann wirst du an das alte Teufels-Anneli denken und ein Dankgebet dafür sprechen, dass sie dir dieses Geheimnis verraten hat.«
»Und wie macht man aus einem Bild eine Geschichte?«, habe ich gefragt.
»Dafür gibt es keine Regel«, hat sie gesagt, »oder es gibt Tausende. Wenn man einmal den Anfang des Fadens hat, kann man damit nähen, was immer man will. Und jeder näht etwas anderes.«
Um es mir noch besser zu erklären, hat sie mich an die Nacht erinnert, in der ich zu ihr in die Hütte gekommen war. »Ich habe meine Augen aufgemacht, und da stand plötzlich ein Bub«, hat sie gesagt, »aber gleichzeitig habe ich immer noch in die andere Welt geschaut, und dort habe ich gerade den Teufel gesehen. Die beiden Bilder sind zusammengewachsen und zu einem geworden, der Teufel war plötzlich ein kleiner Bub, immer jünger ist er geworden, bis er nicht einmal mehr richtig reden konnte und statt zu gehen nur noch kriechen. Obwohl ich gar nicht wach war, habe ich in diesem Moment gewusst: Daraus lässt sich eine Geschichte machen, die den Leuten gefallen wird.«
»Hast du sie gemacht?«
»Wir können sie gemeinsam erfinden«, hat das Anneli gesagt, »das ist eine gute Übung für dich. Ich mache die ersten Stiche, und du nähst die Geschichte zu Ende.«
»Es war zu der Zeit«, so hat sie mit Erfinden angefangen, »in der die Welt noch ganz neu war. Adam und Eva hatten noch nicht einmal das ganze Paradies erkundet, und jedes Mal, wenn am Morgen die Sonne aufging, waren sie überrascht. Die Hühner legten zum ersten Mal Eier und wussten nicht recht, was sie mit diesen runden Dingern anfangen sollten, und die Fische versuchten, ans Ufer zu kriechen, weil sie noch nicht verstanden hatten, dass sie zum Schwimmen bestimmt waren. Es wurde zum allerersten Mal Sommer und zum allerersten Mal Herbst, und als es Winter wurde und zum ersten Mal Schnee fiel, hatte Adam ein schlechtes Gewissen, weil er meinte, er habe etwas an der Welt kaputtgemacht.
»Auch der Teufel war noch ganz klein«, hat das Anneli weitererzählt, »sein Schwanz gerade einmal so groß wie das Ringelschwänzchen von einem Ferkel, die Bocksfüße noch ganz weich und beweglich, und Hörner waren ihm noch überhaupt keine gewachsen. Feuer konnte er zwar schon speien, aber meistens lief es ihm nur aus dem Maul heraus, und wenn es ihn dann auf der Haut brannte, fing er an zu weinen. Auch seine Großmutter war noch ein ganz kleines Fledermäuschen; heute verschlingt sie einen ganzen Ameisenhaufen schon zum Frühstück, aber damals ist sie von einem halben Fliegenbein satt geworden.
»Obwohl er noch so klein war, wollte der Teufel doch gern schon Böses tun; der Herrgott hatte ihn so erschaffen, und ein gerade geborenes Kalb stellt sich auch auf die Beine, ohne dass ihm jemand erklären muss, wie das geht. Und darum …«
»Und darum was?«, fragte ich.
»Das sollst du dir ausdenken«, sagte das Teufels-Anneli. »Es eilt aber nicht. Irgendwann werde ich dich danach fragen, und das wird dann deine Gesellenprüfung sein.«