Das siebzigste Kapitel
in dem der Sebi viel unterwegs ist
Von meinen Wanderungen mit dem Teufels-Anneli gibt es viel zu erzählen, oder auch wenig, je nachdem, wie man es ansieht. Viel deshalb, weil ich während der paar Monate einen Haufen gelernt habe, und wenig, weil eigentlich jeder Tag gleich ausgesehen hat. Man ist an einem unvertrauten Ort aufgewacht, manchmal auf einem Strohsack und oft auf dem Boden, und hat sich immer erst wieder in den Kopf zurückholen müssen, wo man eigentlich ist und warum. Man hat lang geschlafen; nachdem das Anneli bis tief in die Nacht hinein erzählt hatte, ist man nicht so schnell wach geworden. In gastfreundlichen Dörfern haben wir dann trotzdem noch einen Zmorgen bekommen, aber oft haben die Leute gedacht, die Geschichten hätten sie ja gehabt und so bald kämen wir auch nicht wieder, jetzt noch nett zu uns zu sein wäre nur Verschwendung. Dann mussten wir uns mit leerem Magen auf den Weg machen, und das Anneli war den ganzen Tag schlechtgelaunt. Zwei Wochen, bevor wir losgingen, hat sie mit ihrem Hahnensporntrunk aufgehört, man hat gemerkt, dass er ihr gefehlt hat, aber sie hat gesagt, mit dem Unterwegssein verträgt er sich nicht. Ein paar Tage konnte ich ihr nichts recht machen, dann ist allmählich der Appetit zurückgekommen und damit die gute Laune, und nach einer Woche war sie wieder so gfräss, wie man sie kennt.
Item, am Morgen gehen wir los, mit oder ohne Haberbrei, und ich staune jedes Mal, wie gut sie sich auskennt, auch in Gegenden, wo sie schon ewig nicht mehr gewesen ist; den ganzen Winter hat sie nicht ein einziges Mal nach dem Weg fragen müssen; sie macht das schon lang und ist überall zu Hause. Da sie diesmal nicht allein gehen müsse, hat sie beschlossen, wolle sie Orte besuchen, wo sie schon lang nicht mehr gewesen sei, in Uri und Glarus und noch weiter herum. In den Schwyzer Dörfern könne sie schon jedes Huhn mit Vornamen anreden, und Geschichten, die man an diesen Orten nicht schon dreimal gehört habe, fielen ihr auch keine mehr ein. Es sei gerade recht, dass sie jetzt einen Lehrbuben habe, viele Landschaften, die sie gern wieder einmal sehen würde, seien ihr all die Jahre zu weit weg gewesen, sie werde auch nicht jünger. Dafür sei ich voll im Saft, wenn sie nicht mehr möge, könne ich sie auf die Schultern nehmen und tragen. Das hat sie aber nur im Spaß gesagt.
Die Kleider, die ich mitgebracht hatte, waren zu wenig warm für den Winter, daran hatte ich nicht gedacht, und als es so richtig fest zu schneien und zu blasen anfing, hat sie in einem Dorf einen Mantel aus Schaf‌fell für mich gekauft. Ich glaube, sie hat ihn aus meinem Lehrgeld bezahlt, also eigentlich aus dem eigenen Sack, aber gesagt hat sie, ich müsse ihn natürlich abarbeiten, sie denke nicht daran, mir auch nur einen Batzen zu schenken. Es ist seltsam, wie viele Leute es hinterher nicht wahrhaben wollen, wenn sie etwas Nettes gemacht haben. Beim Poli habe ich das oft erlebt.
Ich denke viel an ihn. Es plagt mich, dass ich mich nicht habe von ihm verabschieden können, es fühlt sich an wie ein nicht gehaltenes Versprechen. Wenn ich nicht schlafen kann, frage ich mich oft, ob es ihm gutgeht oder ob er mit seinem Fähnlein schon wieder etwas Dummes angestellt hat. Auch vom Geni weiß ich nichts und vom Halbbart schon gar nicht. Wenn man so unterwegs ist, ist man von allem abgeschnitten. Während dem ganzen Winter habe ich nur eine einzige Geschichte erzählen hören, von der ich glaube, dass sie in unserem Dorf passiert ist. Sie handelte von Zwillingen, die ihr ganzes Leben miteinander verbracht hatten und nie getrennt gewesen waren, obwohl sie unterdessen schon erwachsene Männer waren. Wenn sie mit jemandem redeten, fing immer einer einen Satz an und der andere brachte ihn zu Ende, als ob sie zusammen nur einen Mund und eine Zunge hätten. Dann ist aber einer der beiden gestorben und auf dem Gottesacker begraben worden, der andere hat sich an das Grab gesetzt und ist dort nicht mehr weggegangen, hat nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken, und eine Woche später lag er neben seinem Bruder unter der Erde. Wenn das die Iten-Zwillinge gewesen sind, und ich kann es mir gut vorstellen, dann ist das eine Geschichte aus unserem Dorf, und der Schwämmli hat auf einen Chlapf sechs Batzen verdient. Oder sogar acht, falls der alte Laurenz auch nicht mehr lebt.
Je weniger man von einer Sache weiß, desto mehr kann man sich dazu ausdenken.
Das Anneli und ich gehen also nebeneinander her, und natürlich trage ich alles, was zu tragen ist. Das Anneli geht langsam, wie es in ihrem Alter normal ist, aber dafür hat sie Ausdauer; oft würde ich längst eine Pause brauchen, wenn sie immer noch einen Schritt nach dem anderen macht. Wenn wir am Morgen losgehen, grummelt sie jedes Mal, heute sei ihr überhaupt nicht ums Reden, ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen, aber bald wird ihr langweilig, und dann reden wir doch. Wir besprechen, bei welcher Geschichte die Leute gut aufgepasst haben und bei welcher nicht so gut, und an welchen Stellen sie gelacht haben. Ich habe immer gedacht, das Anneli nimmt die Leute gar nicht wahr, während sie erzählt, aber sie kann jeden einzelnen Zuhörer beschreiben, und manchmal macht sie auch jemanden nach, einmal eine Frau, die jedes Mal erschrocken an ihren dicken Schwangerschaftsbauch gefasst hat, wenn sie hat lachen müssen, ein andermal einen alten Mann, dem beim Zuhören immer wieder der Kopf zur Seite gekippt ist, weil er eingeschlafen war. Das Anneli sagt, man müsse die Leute spüren, erst dann könne man wissen, was man erzählen solle und auf welche Art. Wie das genau zusammenhänge, könne sie mir aber nicht erklären, das müsse ich schon selber herausfinden. Sie erzählt keine Geschichte zweimal gleich, sie würde sonst glatt dabei einschlafen, sagt sie, und überhaupt, es müsse jedes Mal so klingen, als ob man alles in dem Moment gerade erst erfinde.
Manchmal, wenn sie am Abend vorher etwas Neues erzählt hat, etwas, das ich zum ersten Mal gehört habe, muss ich es ihr beim Laufen zurückerzählen, um zu zeigen, dass ich gut aufgepasst habe. Am Anfang war sie gar nicht zufrieden mit mir, nicht, weil ich die Geschichten nicht mehr gewusst hätte, dafür habe ich ein viel zu gutes Gedächtnis, sondern im Gegenteil, weil ich sie zu wörtlich aufgesagt habe. »Jetzt hast du schon wieder meine Geschichte erzählt«, hat sie dann jedes Mal gesagt, »du bist aber nicht das Teufels-Anneli. Du musst deine eigene daraus machen.«
Wir haben nicht jeden Tag einen gleich langen Weg, je nachdem, wie weit die Orte auseinanderliegen. Wenn es bis zum nächsten Dorf nur eine Stunde oder so ist, hat es keinen Sinn, dort anzuhalten, weil viele Leute die Anneli-Geschichten nicht haben erwarten können und uns schon entgegengelaufen sind, um schon eine Nacht früher beim Erzählen dabei zu sein. Gegen Mittag machen wir eine Pause; das Anneli weiß fast überall einen Ort, an dem man sich vor der Kälte und dem Wind schützen kann. In einem Sack unter ihrem Mantel – vielleicht ist es derselbe, in dem sie im Sommer die Hahnensporn-Ähren aufbewahrt – hat sie immer etwas zu essen dabei, oft bekommt sie die Reste vom Tisch geschenkt, und sonst lässt sie die guten Sachen so unauf‌fällig von ihrem Teller verschwinden, wie es kein Taschendieb besser könnte. Sie teilt gerecht mit mir, das ist nicht selbstverständlich, wo sie doch immer Hunger hat und ich nur der Lehrbub bin.
Am liebsten habe ich es, wenn wir schon am frühen Nachmittag am nächsten Ort ankommen, dann kann man mit den Leuten noch ein bisschen reden. Das Anneli interessiert sich nicht dafür, was draußen in der Welt passiert, aber ich picke jedes Körnchen auf wie ein ausgehungertes Huhn, vor allem, wenn es um meine eigene Ecke der Welt geht. Der Streit mit dem Kloster sei immer noch nicht beigelegt, hört man, aber es habe sich in der Sache auch nichts mehr Großes ereignet, der Herzog habe für den Überfall auf das Kloster Einsiedeln keine Rache genommen, und die Schwyzer ihrerseits hätten auch stillgehalten. Man kann überall über alles Auskunft bekommen, selbst in Gegenden, die weit vom Schuss sind, oder gerade in denen. Die Leute meinen immer genau zu wissen, was passiert ist und noch passieren wird, es wissen nur nicht alle das Gleiche. Die einen sind überzeugt, dass der große Chlapf direkt vor der Türe stehe, das Anneli und ich könnten froh sein, dass wir weit genug weg seien; wenn wir zurückkämen, seien wahrscheinlich alle Häuser niedergebrannt und die Hälfte der Leute erschlagen. Ein Dorf weiter oder manchmal auch schon, wenn man im selben Dorf mit jemand anderem spricht, ist die Meinung eine ganz andere, die Habsburger hätten den Schwanz eingezogen und überhaupt hätten sie mit dem bayerischen Gegenkönig genug zu tun und deshalb keine Zeit, sich um so etwas Unwichtiges wie die Talschaft Schwyz zu kümmern. Ich weiß nicht, ob eine der beiden Meinungen stimmt oder vielleicht keine.
Was das Interdikt anbelangt, waren sich die Leute einig, dass es zwar noch in Kraft sei, aber immer weniger eingehalten werde, die Kaplane und Pfarrer müssten ja auch gegessen haben, und wenn niemand mehr eine Totenmesse bestellen oder ein Tauf‌fest ausrichten könne, kämen bei ihnen nur noch leere Schüsseln auf den Tisch. In Uri war ich froh, wieder regelmäßig in die Kirche gehen zu können, aber ich habe dabei die ganze Zeit an den Hubertus denken müssen, der hätte die Messe zwar nicht lesen dürfen, aber ich denke: Dem Herrgott hat sie trotzdem gefallen.
Das Anneli redet auch gern mit den Leuten, nicht weil sie wissen will, was in der Welt passiert, sondern um zu erfahren, worüber in diesem Dorf gerade gerätscht wird, und das baut sie dann in eine Geschichte ein. Wenn zum Beispiel ein Mädchen ein Kind bekommen hat und nicht verraten will, wer der Vater ist, dann erzählt das Anneli, wie der Teufel sich zu einer unschuldigen Jungfrau unter die Decke geschlichen habe und neun Monate später sei ein Kind zur Welt gekommen, das habe ausgesehen wie jedes andere Neugeborene, nur ein Schweineschwänzchen habe es gehabt, das habe man abschneiden können, so viel man wollte, es sei immer wieder nachgewachsen, bis ein heiliger Einsiedler es schließlich weggebetet habe. Oder wenn es im Sommer einen Hagelsturm gegeben hat, dann macht sie gefrorene Tränen daraus, und wer die geweint hat und warum, das fällt ihr dann schon ein.
Die Leute waren nie begeistert, dass das Anneli nicht allein gekommen ist; einen zusätzlichen Esser will niemand haben. Aber wenn sie dann gehört haben, dass sie nicht nur Geschichten bekommen würden, sondern auch noch Musik, waren sie bald wieder zufrieden. Das Anneli hat nämlich beschlossen, ein bisschen Flötenspiel nach jeder Geschichte wäre nicht schlecht; was für den von Homberg recht gewesen sei, dafür könne man in einem Bauerndorf nur dankbar sein. Außerdem, das haben wir den Leuten aber nicht gesagt, hat sie auf diese Art mehr essen können; wenn ich gesehen habe, dass es ihr schmeckt, habe ich einfach meine Melodie in die Länge gezogen. Was mich selber anging, musste ich jedes Mal schauen, dass ich meines bekam, bevor das Anneli angefangen hat. Während sie erzählt, steht kein Essen auf dem Tisch, weil die Leute wissen, dass ihre Geschichten sonst zu kurz werden, und während sie zulangt, muss ich musizieren. Ich kann es unterdessen noch einmal viel besser; wenn ich irgendwann den Soldaten treffe, der mir die Flöte geschenkt hat, werde ich ihm seinen Wunsch erfüllen und ihm etwas vorspielen.
Das Anneli fängt immer mit einer Geschichte an, die aus ihren letzten Hahnensporn-Träumen entstanden ist, so kann sie sicher sein, dass sie sie in diesem Ort noch nie erzählt hat. Man müsse immer mit etwas Neuem anfangen, hat sie mich gelehrt, dann freuten sich die Leute umso mehr, wenn hinterher etwas Bekanntes käme. Sie wechselt auch zwischen lustigen und traurigen Geschichten ab, nur wenn sie müde ist und die Zuhörer sie ums Verrecken nicht Schluss machen lassen wollen, erzählt sie nur noch traurige, davon würden die Leute nicht allzu viel aufs Mal ertragen, sagt sie, und man käme endlich zum Schlafen.
Überhaupt ist nichts vom dem zufällig, was das Anneli tut, aber trotzdem macht es mir jeden Abend Freude, ihr zuzuhören. Ich glaube, das ist ein Beweis dafür, dass ich als ihr Lehrbub am richtigen Ort bin.