Das fünfundsiebzigste Kapitel
in dem viel von Ehre die Rede ist
Wenn ich als kleiner Bub vor etwas Angst gehabt habe, hat unsere Mutter immer gesagt, es kommt davon, dass ich zu viel Phantasie habe und mir die fürchterlichsten Dinge ausdenken kann. Manchmal habe ich mir mit meinen eigenen Gedanken einen solchen Schrecken eingejagt, dass mich niemand mehr hat beruhigen können außer dem Geni. Nach dem kleinen Bergsturz, bei dem ja eigentlich gar nichts Schlimmes passiert ist, habe ich mich tagelang nicht mehr aus dem Haus getraut, weil ich fest davon überzeugt war, dass mich ein Fels erschlagen würde. Der Poli hat meine Angst noch auf gemeine Weise verstärkt, indem er dumme Sachen gesagt hat, er habe die Gipfel wackeln sehen, oder der Herr Kaplan habe gepredigt, man dürfe draußen nur noch auf Zehenspitzen herumlaufen. Schließlich hat mich dann der Geni an der Hand genommen und mir gezeigt, dass die Berge viel zu weit weg waren, um mich zu erschlagen. Es waren aber weniger seine Erklärungen, die mich Finöggel beruhigt haben, sondern einfach die Tatsache, dass mein großer Bruder keine Angst hatte.
Und jetzt, wo ich doch schon viel größer bin, war es wieder der Geni, der mir eine Angst weggenommen hat, diesmal die Angst davor, es könnte einen Krieg geben.
Er ist nämlich wieder im Dorf, und zwar ist er auf eine Art angekommen, dass ich es fast nicht habe glauben können, nämlich in einer Sänfte, so wie damals der Doctor iuris. Ihm selber war überhaupt nicht wohl dabei, er hätte viel lieber ein Maultier genommen, sagt er, oder von ihm aus auch nur einen Esel, aber der Landammann hat auf der Sänfte bestanden, und er hat auch einen Grund dafür gehabt. Ich bin froh, dass es Leute gibt wie ihn, sie sind zwar nicht gescheiter als alle anderen, aber mehr Zeit zum Nachdenken haben sie schon, schließlich müssen sie nicht wie gewöhnliche Leute jeden Tag arbeiten, bis sie vor Müdigkeit umfallen. Wenn ihnen jemand erzählt, ein Dorf sei überfallen und abgebrannt worden, dann glauben sie es nicht einfach, sondern schicken jemanden hin, der nachschaut, und wenn der dann zurückkommt und sagt, dass er so ein Dorf nicht gefunden hat, dann wissen sie, dass man sie angelogen hat, und machen keine Dummheiten. Vor allem wollen sie ganz bestimmt keinen Krieg, weil sie dabei nämlich viel mehr zu verlieren haben als ein gewöhnlicher Bauer. Dem stehlen die Soldaten vielleicht die Würste aus der Räucherkammer, oder wenn es ganz arg kommt, zünden sie ihm sein Haus an, aber Würste kann man neue machen und ein Haus wiederaufbauen. Mehr als das kann man ihm nicht wegnehmen, weil er gar nicht mehr hat, es ist ja nicht so, dass jeder Bauer einen Topf mit Dukaten unter den Bohnenstauden vergraben hätte. Die besseren Leute haben in einer Streiterei mehr zu verlieren, deshalb sind sie vorsichtiger; wer einen Hof voller Hühner hat, will den Fuchs nicht anlocken.
Wie gesagt, der Geni ist in einer Sänfte getragen worden wie einer vom Adel, und der Grund dafür war, dass alle sehen sollten, dass er nicht einfach als gewöhnlicher Geni gekommen war, sondern als jemand Wichtiges; der Landammann meint, die Leute würden dann eher auf ihn hören, wenn es drauf ankomme, und genau das werde bald sehr wichtig sein. Der Geni wohnt bei mir und beim Anneli, und wir haben viel Zeit, um uns miteinander zu unterhalten; das, wofür er hergeschickt worden ist, kommt nämlich erst noch, und er ist auch nicht der einzige Botschafter, den der Landammann ausgesandt hat, sondern es sind viele, und alle haben dieselbe Aufgabe.
Der Geni hätte mir das alles gar nicht erzählen dürfen, aber ich bin sein Bruder, und immer nur aufs Maul hocken hält niemand ewig aus. Ich habe ihm aber hoch und heilig versprechen müssen, dass ich nicht darüber rede.
Ich müsse mir keine Sorgen machen wegen einem Krieg oder einem Überfall, meint er, schließlich sei schon Oktober, es seien also schon fast zwei Jahre seit der Sache in Einsiedeln vergangen, und außer dem Interdikt und der Sache mit den Klosterochsen sei bisher nichts Schlimmes vorgefallen. Das liege nicht daran, dass der Abt oder der Herzog andere Sorgen hätten, man habe uns auch nicht einfach vergessen, sondern es seien die ganze Zeit Verhandlungen geführt worden, einfach nicht laut und auf dem Marktplatz, sondern heimlich, ohne dass es ein Herold ausgetrommelt hätte. Die Delegationen sind regelrecht zueinander geschlichen, sagt er, wie junge Leute aus zerstrittenen Familien, wenn niemand wissen darf, dass sie sich heimlich treffen. Einen förmlichen Frieden habe man zwar nicht geschlossen, aber es gebe eine Art Verabredung mit dem Herzog, nicht auf Pergament geschrieben und besiegelt, aber besprochen, es dürfe es nur niemand wissen, weil es sonst nicht wirken würde. Eigentlich sei es nämlich so, und das sei die Voraussetzung für alles gewesen, dass sich der Herzog Leopold gar nicht so sehr für das Kloster interessiere; seit sein Bruder zum König gekrönt worden ist, aber gleichzeitig auch ein Wittelsbacher die Krone bekommen hat, gebe es größere Probleme für ihn. Sogar der Überfall wäre ihm egal gewesen, aber wenn jemand die Mönche angreift und nicht dafür bestraft wird, dann schadet das seiner herzoglichen Ehre, und das sei der Punkt gewesen, bei dem man habe ansetzen können. Mächtige Menschen, sagt der Geni, sind nicht wie unsereins, wer nicht jeden Tag dafür chrampfen muss, dass es in seinem Suppentopf mehr als Wasser hat, der ist mit einem weichen Bett und einem warmen Feuer noch lang nicht zufrieden, sondern will etwas haben, das sich gewöhnliche Leute nicht leisten können, nämlich eine Ehre. Für einen Grafen oder Herzog gibt es nichts Wichtigeres, sagt er, sie besaufen sich daran wie der Rogenmoser Kari am Wein, und genau wie der Rogenmoser können sie nie genug davon bekommen. Jeder Freiherr will Graf werden, aber wenn es ihm dann wirklich gelingt, hat er keine Zeit, um sich darüber zu freuen, sondern hirnt schon wieder daran herum, wie er für sein Wappenschild auch noch eine Fürstenkrone bekommen könnte und immer so weiter. Wenn man so einen beleidigt – und dazu braucht es wenig –, gibt er keine Ruhe, bis die Beleidigung gerächt ist oder auf andere Weise wiedergutgemacht, er darf auch gar keine Ruhe geben, weil sonst die anderen Adligen weniger Achtung vor ihm haben. Der Überfall in Einsiedeln, sagt der Geni, war für den Herzog so eine Beleidigung, eigentlich hätte es seine Ehre verlangt, dass er ihn verhindert und das Kloster beschützt. Das kann er jetzt hinterher nicht einfach vergessen, sondern er muss etwas unternehmen, und zwar etwas Öffentliches, damit die anderen mächtigen Leute es sehen und sagen: »Denen hat er aber gezeigt, wo Gott hockt.« Und weil das so ist, sagt der Geni, weil es um die Ehre geht und im Grunde um nichts anderes, haben sich der Landammann und seine Berater etwas ausgedacht, das man dem Herzog vorschlagen konnte.
»Der Landammann und du«, habe ich gesagt, aber davon hat er nichts wissen wollen, so wichtig sei er auch wieder nicht.
Ich dürfe mir das aber nicht so vorstellen, hat er weitererzählt, dass man einfach zum Herzog gegangen sei und gesagt habe: »Wir meinen, wir machen das so und so.« Da hätte man sich nur ein Nein eingehandelt, ein unfreundliches noch dazu, und zwar auch wieder wegen der Ehre. Dem Herzog Leopold seien die äußeren Formen noch wichtiger als allen anderen, er sei schließlich erst gerade fünfundzwanzig, und junge Leute, das wisse ich ja vom Poli, spielten gern die Beleidigten und fingen dann an zu trotzen. Nein, wenn man bei solchen Menschen etwas erreichen wolle, müsse man in kleinen Schritten vorgehen, müsse auch einmal bereit sein, den Buckel krummzumachen und ihnen zu höbelen, vornehme Leute seien das nicht anders gewohnt. Außerdem müsse man dafür sorgen, dass der andere sich immer einreden könne, es habe ihm niemand den Vorschlag gemacht, sondern er habe ihn sich selber ausgedacht. Und den richtigen Zeitpunkt müsse man abpassen, so wie man ein Murmeltier zwar im Frühjahr noch aus seinem Bau locken könne, aber im Sommer schon nicht mehr. Der Landammann habe also mit dem Herzog verhandelt, ohne ihn ein einziges Mal zu treffen, weil man dem Leopold so ein Gespräch schon wieder als Schwäche hätte auslegen können. Stattdessen sei ein Händler aus Schwyz scheinbar ganz zufällig und nur wegen seinen Geschäften in den Ort gekommen, wo sich der Hof gerade aufhielt, habe dort, wie man sich so trifft, den Secretarius von einem Secretarius kennengelernt und dem bei einem Schoppen erzählt, es gebe da vielleicht eine Idee, die dem Herzog gefallen könnte, für den, der sie ihm zu Ohren bringe, werde es bestimmt kein Schaden sein. Der Untersecretarius ist mit der Idee zum Obersecretarius gegangen und der wieder zu jemand noch Höherem, und aus Schwyz ist unterdessen auch jemand Wichtigeres dagewesen, denn so ein Secretarius oder Minister hat seine eigene Ehre und redet nicht mit jedem. Wahrscheinlich hat jeder, der den Vorschlag weitergetragen hat, immer gleich dazu gesagt, er wolle aber nichts gesagt haben, es hätte ja sein können, dass der Herzog keine Freude daran hatte. Er hatte aber Freude dran, so sehr, dass er bald geglaubt hat, es sei seine eigene Idee gewesen, und wenn ein Herzog so etwas denkt, widerspricht ihm niemand. Am Schluss habe der oberste Minister in aller Heimlichkeit mit dem obersten Vertreter der Schwyzer verhandelt, und wer dieser Vertreter gewesen sei, da komme selbst ein Geschichtenerfinder wie ich nie dahinter.
Ich bin auch wirklich nicht dahintergekommen, und ich kann es immer noch nicht recht glauben: Es war der Graf von Homberg, derselbe, mit dem sich der Onkel Alisi so gestritten hat, weil er ihm vorgeworfen hat, er sei den Habsburgern in den Hintern gekrochen. Der Herr Reichslandvogt habe seine Meinung in diesem Punkt auch nicht geändert, meint der Geni, aber er wolle sich gleichzeitig auch mit den Schwyzern gutstellen, schließlich habe er seine Stammburg in Rapperswil. Nur dürfe natürlich niemand etwas von seinem Anteil an der ganzen Sache wissen, ich solle es am besten gleich wieder vergessen.
Auf so umständliche Weise habe man das Ganze angattigen müssen, aber jetzt seien der Weg geebnet und die Naben geschmiert, wenn nicht noch jemand im letzten Moment einen Stock in die Speichen stecke, könne der Karren laufen.
Die Lösung, die sie gefunden haben, sieht so aus: Der Herzog wird einen Ritt durch seine Ländereien machen, die Zeit dafür ist schon festgelegt, und er wird auch und gerade durch jene Gebiete reiten, bei denen gestritten wird, ob sie überhaupt dazugehören. Er wird das mit allen Zeichen seiner Herrschaft tun, mit Fahnen und Herolden und überhaupt mit einem Gefolge, wie es sich für einen Herzog gehört, und damit wird er zeigen, dass er hier das Sagen hat und sonst niemand. Hinterher, wenn niemand versucht hat, ihn am Durchreiten zu hindern, kann er dann feierlich verkünden, dass er seinen getreuen Untertanen aus Schwyz ihren Überfall in herzoglicher Milde verzeiht, damit hat er dann nicht nur seine Macht bewiesen, sondern auch sein edles Herz, und seine Ehre ist wiederhergestellt.
»Und wenn ihm doch jemand den Weg versperrt?«, habe ich gefragt.
»Das darf eben nicht passieren«, hat der Geni geantwortet, »deshalb hat der Landammann mich und all die anderen überall hingeschickt, damit wir das verhindern, jeder in seinem Ort.« Das Ganze sei keine heldische Lösung, aber mit Heldentum habe noch keine Mutter ihre Kinder satt gemacht. Wenn der Herzog eine Geschichte brauche, in der er gewonnen habe, dann solle man ihn diese Geschichte ruhig erzählen lassen, das tue niemandem weh, und es wisse ja niemand besser als ich, dass man sich später auch wieder eine andere ausdenken und aus dem Sieger einen Verlierer machen könne.
Ich habe ihn gefragt, wann genau dieser Ritt stattfinden soll, aber das war das Einzige, was er auch mir nicht hat verraten wollen. »Wenn du es nicht weißt, kannst du dich nicht verschnäpfen«, hat er gesagt, »es wird im allerletzten Moment bekanntgegeben, damit niemand eine Störung vorbereiten kann.«
Es ist schön, dass der Geni mit mir über alles redet. Aber am allerschönsten ist, dass er überhaupt wieder da ist.