Das sechsundsiebzigste Kapitel
in dem der Geni verschwindet
Man soll nie, nie, nie meinen, dass die Sachen besser werden, sie werden immer nur schlimmer. Je mehr man sich über etwas freut, desto mehr wird man enttäuscht. Die Hoffnung ist vom Teufel erfunden, damit er uns damit zäukeln kann; immer, wenn wir gerade anfangen, an eine Verbesserung zu glauben, zieht er sie uns unter der Nase weg, und wenn wir dann jammern und klagen, ist das wie Musik für ihn. Der Herrgott hat sich in den Himmel zurückgezogen und den Blick auf die Erde mit Wolken versperrt, da hat er seine Ruhe; was da unten passiert, kümmert ihn nicht mehr. Wenn doch einmal eine Klage bis zu ihm hinaufkommt, dann übertönt er sie mit einem Donner, oder er sagt den Cherubim, sie sollen ihr Halleluja lauter singen, damit er nichts hören muss. Die Welt hat er dem Satan überlassen, der denkt sich jeden Tag neue Gemeinheiten aus und bekommt nie genug davon. In der Hölle unten hat er die Feuer ausgehen lassen, denn wenn er die Welt regieren darf und niemand macht etwas dagegen, dann ist die Hölle überall.
Ich weiß, man sollte solche Sachen nicht einmal denken. Hochwürden Linsi hat oft genug gepredigt, gerade wenn es einem schlechtgehe, müsse man an die göttliche Gnade glauben, alles andere sei Sünde, aber er hat gut reden mit seinem dicken Bauch, ihm ist noch nie etwas Schlimmeres zugestoßen, als dass seine Köchin nur zwei Tauben für ihn gebraten hat, und dabei hätte er Lust auf eine dritte gehabt. So etwas wie heute, wenn das eine Gnade ist, dann ist sie so gut versteckt, wie die Goldstücke im Poli seinen Rossbollen, wenn man hineinbeißt, stinkt es einem nur das Maul voll. Nein, wir sind dem Herrgott einfach verleidet, er hat die Freude an uns verloren und will nichts mehr von uns wissen. Oder er schaut dem Teufel sogar zu und denkt: Eigentlich ist es ganz lustig, Menschen zu plagen. Und von den Engeln und den Heiligen traut sich keiner, ihm zu widersprechen. Nur die Muttergottes schüttelt vielleicht den Kopf.
Kaum freut man sich über die Sonne, schon kommt wieder ein Hagelwetter. So ist es mir gegangen, und schlimmer kann noch nie ein Hagel gewesen sein. Dabei habe ich wirklich die Hoffnung gehabt, jetzt komme alles gut, der Herzog reitet einmal durch das Tal, habe ich gedacht, und dann ist die Welt wieder wie früher. Der Geni hat das auch gemeint, und auf den Geni habe ich mich immer verlassen können, und dass er sein Bein verloren hat, hat nie einen Unterschied gemacht.
»Sein Bein verloren.« Ich will die Worte nicht einmal denken, denn genau das ist passiert.
Ich habe solche Angst um ihn. Von mir aus kann der Herzog kommen, und seine Soldaten können mich totschlagen, wenn nur mein Bruder noch am Leben ist.
Heute Morgen hat er mich nach Ägeri an den Martinimarkt geschickt, meine Freunde aus dem Dorf gingen auch alle hin, da solle ich mich nicht ausschließen, ich habe dem Anneli so gut geschaut, da dürfe ich mir auch einmal etwas gönnen. Sie hat ihn unterstützt und gesagt, es tue ihr sogar gut, wenn sie mich einen Tag nicht sehen müsse, wenn ich ständig um sie herumschleiche und frage, ob sie etwas brauche, mache sie das nur fuchsig. Sie hat schlechte Laune, weil sie immer noch nicht richtig laufen kann; kurz vor Sankt Martin hat sie sonst immer mit ihrer Wanderung angefangen. Der Geni hat mir drei Batzen geschenkt, damit sollte ich mir auf dem Markt etwas kaufen.
Ich bin noch schnell beim Halbbart vorbeigegangen, um ihn zu fragen, ob ich in Ägeri etwas für ihn besorgen soll. Er ist mir ungewohnt aufgeregt vorgekommen, das ist man bei ihm nicht gewohnt, sonst ist er immer so ruhig. Er hat gesagt, für ihn müsse nie wieder jemand etwas besorgen, in diesem Leben brauche er nur noch eines, und das werde er bald bekommen. Er hat nicht erklärt, was er damit gemeint hat, aber jetzt denke ich, es kann nichts Gutes bedeuten.
Den Weg nach Ägeri hinunter habe ich zusammen mit dem Schwämmli-Laurenz gemacht. Er sagt, dass er immer noch mein Freund ist, aber er sagt es, wie wenn er mir damit ein Geschenk machen würde. Von seiner Arbeit spricht er, als ob ein Grab auszuheben das Schwierigste überhaupt wäre und vor ihm hätte noch nie jemand eine Schaufel in der Hand gehabt. Und dabei habe ich schon für den alten Laurenz gearbeitet, da hätte sich der Schwämmli das noch gar nicht getraut, weil er geglaubt hat, wenn man in einem Grab auf einen Knochen stößt, holt einen der Tote zu sich herunter. Dabei sind es nicht die Toten, die einem etwas antun, sondern die Lebendigen.
In Ägeri war eine so überfröhliche Stimmung wie damals beim Prozess gegen den Halbbart, in den Gassen hatte es ganz viele Leute, und obwohl noch nicht einmal Mittag war, hatten die meisten schon getrunken. Ich habe eine Menge Bekannte aus dem Dorf angetroffen, von den Jungen fast alle. Der Eichenberger hat jetzt eine richtige Gefolgschaft, sie tragen ihm seine Sachen hinterher, und wenn er an einem Stand etwas kaufen will, schieben sie die anderen Leute aus dem Weg. Er lässt es sich gefallen, als ob es selbstverständlich wäre, er meint wohl, mit einem dicken Geldbeutel habe man mehr Rechte als andere, und wahrscheinlich ist es ja auch so.
Wie es an Martini immer ist, konnte man überall etwas kaufen oder ansehen. Ich weiß nicht, ob der heilige Martin Freude daran hat, dass man ihn auf diese Weise feiert, er selber war ja mehr fürs Teilen als fürs Geldausgeben. Den Feuerfresser, dem ich schon zweimal begegnet bin, habe ich auch wieder angetroffen, mit seiner ganzen Familie war er da, nur der Stelzenläufer-Großvater ist unterdessen gestorben. Auf dem Platz vor der Kirche hat einer Zähne gezogen, ein ganz dünner Mann, man hat sich gewundert, dass er überhaupt die Kraft dafür hat, und wenn gerade keiner mit Zahnweh gekommen ist, hat er ein Mittel angepriesen, das alle Krankheiten heilt. Eine Frau hat gleich an Ort und Stelle einen Schluck genommen und hat dann nicht mehr aufhören können zu husten. Das brenne ja im Hals wie Höllenfeuer, hat sie geschimpft, und der dünne Mann hat gesagt, das komme daher, dass das Mittel schon anfange zu wirken, in der Medizin sei es wie im Leben, es müsse alles immer erst schlimmer werden, bevor es besser werden könne. Das glaube ich aber nicht, so denken nur Menschen wie der Onkel Alisi, der meint, es müssten nur genug Feinde totgeschlagen werden, dann habe man am Schluss das Paradies. Die Leute auf dem Markt haben die Medizin aber trotzdem gekauft.
Der Stof‌fel war mit seinem neuen Gesellen am Arbeiten und hat kaum aufgeschaut, um mich zu begrüßen. Er habe keine Zeit, um auf den Markt zu gehen, hat er gesagt, es wollten so viele Leute eine Halbbarte von ihm haben, dass er gar nicht mehr zur Ruhe komme, aber das sei gerade gut, je mehr Arbeit man habe, desto weniger komme man zum Nachdenken. Ich habe ihn nach dem Kätterli gefragt, und er hat gemeint, gerade wegen ihr wolle er lieber nicht nachdenken, er habe sie in Schwyz besucht, aber es habe ihm geschienen, dass sie das ungern gehabt habe und lieber von allen Menschen in Ruhe gelassen werden wolle, auch von ihm.
Ich bin dann noch ein bisschen auf dem Markt herumspaziert und habe überlegt, für was ich meine drei Batzen ausgeben sollte. Der Eichenberger muss über solche Sachen nicht mehr nachdenken, er kann sich jetzt alles kaufen, was er will, aber ich glaube, gerade weil es ihm so leichtfällt, hat er auch weniger Freude dran.
Ich habe mir schließlich einen gebratenen Gänseschlegel geleistet. Wenn ich jetzt daran denke, wie gut er mir geschmeckt hat, schäme ich mich; während ich mir noch das Fett von den Fingern geleckt habe, war das mit dem Geni wahrscheinlich schon passiert, und ich habe es nicht gewusst und einfach weitergelebt.
Immer lauter ist es in den Gassen geworden, man hat nicht mehr unterscheiden können: Sind die Leute fröhlich, oder gehen sie aufeinander los? Ich habe gedacht, ich mache mich besser auf den Heimweg, vielleicht braucht mich das Anneli ja doch. Aber das war nur eine Ausrede, um mich selber zu loben, in Wirklichkeit bin ich gegangen, weil ich kein Geld mehr hatte. Es war ein angenehmes Gehen, weil die Novembersonne geschienen hat, wenn auch nicht mehr mit viel Kraft. Ich habe mir dabei ein neues Lied ausgedacht, das wollte ich zu Hause ausprobieren und nach der Abendsuppe dem Geni vorspielen. Jetzt wird er es vielleicht nie zu hören bekommen.
Auf dem letzten Stück Weg, vom Dorf hinauf zum Steinemann seinem Hungerhof, habe ich eine tote Schlange an einem Gebüsch hängen sehen. Es war aber keine Schlange, sondern ein Lederbändel, und er hat zum künstlichen Bein vom Geni gehört. Das Bein lag in einem Sauerdornstrauch; wenn der Bändel nicht an dem Zweig hängengeblieben wäre, hätte ich es gar nicht gesehen. Ich habe dann überall nach dem Geni gesucht und mir dabei an den Dornen beide Arme aufgekratzt. Ich habe gehofft, dass ich ihn schnell finde, und gleichzeitig, dass ich ihn nicht finde, denn wenn sein Körper im Unterholz gelegen hätte wie sein Bein, dann wäre er tot gewesen.
Ich möchte beten, aber ich weiß nicht, zu wem.
Ich habe den Geni nirgends entdeckt, es musste ihn jemand weggeschleppt haben; ohne sein Bein kann er ja keinen Schritt laufen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas getan haben könnte und warum, es kommt mir vor wie eines der Rätsel, wie sie der Teufel den Menschen stellt, es gibt keine richtige Antwort, und darum kann man sie auch nicht lösen.
Den Weg bis zum Haus bin ich hinaufgerannt, das Bein in der Hand. Es ist mir vorgekommen wie früher beim Gräberschaufeln, wenn ich einen Knochen aus der Erde geholt und gewusst habe: Der Mensch, zu dem er gehört, lebt schon lange nicht mehr.
Ich will nicht, dass der Geni tot ist. Lieber will ich selber tot sein.
Das Anneli wusste nur zu berichten, dass er kurz nach mir weggegangen war, er hatte aber nicht gesagt, wohin. Wenn ihn unterwegs jemand überfallen und ihm sein Bein weggenommen habe, dann könne das nur ein Fremder gewesen sein, meint sie, im Dorf sei er ja allgemein beliebt, und außerdem wisse man, dass er mit dem Landammann gutsteht, und mit dem wolle es sich niemand verderben. Es ist mir aber egal, ob es ein Fremder gewesen ist oder der Teufel persönlich, einen wie den Geni zu überfallen ist eine Gemeinheit und ihm sein Bein wegzunehmen eine noch größere, weil ohne ist er hilf‌los, wo er seine Krücken gar nicht aus Schwyz mitgebracht hat.
Ich habe das Bein auf dem Geni seinen Strohsack gelegt und bin wieder ins Dorf hinuntergerannt. Ich wollte den Poli bitten, dass er mit seinem Fähnlein nach unserem Bruder suchen solle, aber der Poli war nirgends zu finden. Beim Eichenberger, wo er oft wohnt, schien niemand da zu sein, und auch der Halbbart war nicht zu Hause. So bin ich halt zum Bruchi gelaufen; wegen seinen kaputten Beinen sitzt der meistens auf der Bank vor seinem Haus und weiß deshalb immer alles, was im Dorf passiert. Er konnte mir aber nicht weiterhelfen, hatte nichts gesehen und nichts gehört, es sei ein leerer Tag gewesen, die Leute seien alle in Ägeri auf dem Markt. Dann wollte er mir unbedingt die Geschichte erzählen, die er immer erzählt, von der Pilgerreise nach Compostela; ich musste mich regelrecht losreißen.
Der Einzige, den ich sonst noch angetroffen habe, war der Rogenmoser Kari. Der hatte nicht extra nach Ägeri gehen müssen, um sich zu betrinken, sondern hat das auch im Dorf fertiggebracht, und als ich ihn nach dem Geni gefragt habe, hat er mir gleich wieder eine von seinen wilden Geschichten erzählt. Er habe den Geni vorbeifliegen sehen, hat er behauptet, über einem Gebüsch sei er geschwebt, das habe bestimmt mit Zauberei zu tun. Der Geni ist aber kein Zauberer, sondern er ist mein Bruder, und ich will nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist.
Heilige Muttergottes, mach, dass er noch am Leben ist.